Donnerstag, 25. Januar 2024
Weg mit den Märtyrerfotos!
Ich habe endlich mal wieder ein "Kleines Fernsehspiel" gesehen (damals, als ich noch ein einsamer Student war und alle Zeit der Welt hatte, vor allem nachts, da hab ich keins verpasst): "Stille Post".
Das war jetzt künstlerisch nicht so die größte Meisterleistung, aber natürlich alles andere als plump oder gar klischeehaft, nein, nur ein bisschen simpel und ungelenk in der Machart, dafür aber klug und sympathisch - eben typisch "Kleines Fernsehspiel".

Also: Ein Berliner Kurde bekommt 2015 Videos aus Erdogans Bürgerkrieg im Kurdengebiet zugespielt, die die Verbrechen der türkischen Armee hautnah zeigen. In der Kamerafrau erkennt er - an der Stimme, an dem Leberfleck an ihrem Bein, ... - seine totgeglaubte Schwester - und lässt sich auf einen Deal mit dem mysteriösen Überbringer ein: Wenn es ihm gelingt, mit Hilfe seiner Freundin, einer Fernsehjournalistin, die Bilder ins deutsche Fernsehen zu bringen, wird ihm der Kontakt zu seiner Schwester vermittelt. Seiner Schwester, die damals, als seine Eltern ermordet wurden, ihren Tod fingierte, um unterzutauchen, und die nun als Kamerafrau für die PKK agiert.

Natürlich traut die deutsche Redaktion den Bildern mit unischerer Herkunft nicht, und zwar vor allem, weil sie unspektakulär sind: Die Szene mit der Leiche ist viel zu verwackelt, und eine jammernde Frau mit Kopftuch in einer Ruinenlandschaft ist ihr auch nicht aussagekräftig genug, und in dem Moment, da in die demonstrierende Menge geschossen wird, sind nur lauter Beine im Bild.

Also frisiert die Freundin die Aufnahmen ein bisschen auf: mixt noch Flugzeuglärm und ein paar Detonationen in die Tonspuren, macht das Demostrantengeschrei lauter und schneidet das Ganze geschickt zusammen. Und schon erscheint das Material den Deutschen glaubhaft und schafft es in die Nachrichten und auch Claudia Roth im Bundestag zeigt sich erschüttert.

Als Gegenleistung gibt es einen Videocall mit der Schwester (die Freundin lädt ihn live ins Internet) - und es stellt sich heraus, dass diese auch nicht ganz echt ist, es ist eine andere Kämpferin, der Protagonist wurde gelinkt, damit er die Nachricht lanciert ...

Am Ende holt dieser enttäuscht und erbittert die Märtyrerfotos seiner Eltern, seiner Schwester von der Wand im Berliner Kurdenklub. Und tut damit das beste, was er in seiner Situation tun kann!

So simpel die Geschichte ist, so wahr ist sie auch - die Videos aus Kurdistan sind es jedenfalls: Es sind echte Videos, die der Regisseur persönlich dort eingesammelt hat. Und weil solche Videos, die so ergreifend unspektakulär, verwackelt und authentisch sind, hierzulande kein Mensch sehen will, hat er dann diesen kleinen Spielfilm um sie herum gestrickt. Und selbst das reicht dann nur fürs "Kleine Fernsehspiel" und irgendwelche Winkel-Filmfestspiele. Das große Publikum will die Wahrheit nicht sehen. Oder allenfalls industriell zubereitet als Kitschfilm.

Also, liebe Leser (soweit es Sie überhaupt gibt) - vergessen Sie die Wahrheit dieses Films nicht bei Ihrem täglichen Medienkonsum von Ereignissen, bei denen Sie nicht dabei waren.

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Samstag, 6. Januar 2024
Logisches Handeln
Wenn die Regierung sich verkalkuliert hat und dringend Geld benötigt, dann sucht sie es natürlich dort, wo es bekanntermaßen im Überfluss vorhanden ist: bei den Arbeitslosen und bei den Bauern.

Und wenn die Bauern, da sie anders als die Arbeitslosen eine Lobby haben, sich dagegen wehren, ist sofort klar, wer der Schuldige ist: die Grünen. Die ja, wie man weiß, vor allem für ihren skrupellosen Umgang mit Finanzprodukten berüchtigt sind.

Und dieser zwingenden Logik folgend wählen dann viele Leute die AfD, um ihre soziale Lage zu verbessern. Wie bescheuert kann man sein?

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Donnerstag, 4. Januar 2024
Meine Mutter
Über die Kindheit meiner Mutter will ich gar nicht viel Worte verlieren, sie war Jahrgang 36, hat also den Krieg als Kind voll mitgekriegt. Ich glaube, ihr prägendstes Erlebnis war in der Hinsicht, als sie in der Jahreswende 44/45 – ihr Vater musste, da für den Kriegsdienst zu alt, am Westwall Gräben buddeln – mit ihrer hilflosen, heulenden Mutter vor der Front zu den Großeltern floh.

Oder soll ich noch die Szene erwähnen, wie sie mit ihrer Mutter am Bahnhof den Güterzug sah, aus dessen Waggons Menschen nach Wasser riefen – und als sie ihnen Wasser bringen wollten, wurden sie von Bewaffneten brutal zurückgestoßen? Als sie heulend nach Hause kamen, sagte ihr Vater nur: „Ihr wisst doch, was los ist! Und wenn ihr das zufällig mal auch persönlich seht, da braucht ihr doch nicht zu heulen.“ Meine Mutter hat mir das oft als Beispiel für den verabscheuungswürdigen Zynismus meines Opas erzählt, und erst kürzlich, als sie schon dement war, erfuhr ich von ihr, dass mein Opa in seiner Firma auch mit der Organisation des Zwangsarbeiterwesens befasst war und durchaus auch mal eine Tanja zur Hilfe meiner Oma nach Hause schickte.

Kurz und gut, wie die meisten ihrer Generation hat sie als Kind schon die Angst- und Ohnmachtsgefühle mitgekriegt, zusätzlich zu dem, was normale familiäre Belastungen so ausmachen.

Meine Mutter hat später die Teilnahme am berufstätigen Leben weitgehend verweigert, die für Frauen in der DDR die Regel war. Ihre Kinder hat sie nicht in den Kindergarten geschickt. Sondern sie lieber selber beaufsichtigt und daneben an einer Dissertation gewerkelt, die niemand haben wollte, da sie politisch nicht so recht genehm war (es ging um avantgardistische Filmentwürfe Friedrich Wolfs, die das stalinistische Moskau irgendwann nicht mehr finanzieren wollte) und meine eigensinnige Mutter sowieso niemandem so recht genehm war. Zum Glück hatte sie meinen Vater, der das Familiengehalt beisteuerte und dem sie als moralischer Anker diente, damit er, der SED-Kader, sich nicht zu sehr zu Karriere und Kompromissen hinreißen ließ. Irgendwann blieb die Dissertation ganz liegen und sie forschte nur noch zur Genese des deutschen Kommunismus, bemüht, dessen reinen Urgrund freizulegen. Ihren Hass auf Stalin und dessen deutsche Erfüllungsgehilfen trug mein Vater mit – er half ihm, in den elenden Zeiten der späten DDR seine Aufrichtigkeit zu bewahren.

Er revanchierte sich, indem er ihr, als die Kinder aus dem Haus waren, eine Stelle als Filmwissenschaftlerin beschaffte (sie organisierte darin ein erfolgreiche Ausstellung über Fritz Lang) und später den Kontakt zu einem Verlag, in dem sie ihr einziges, wunderbares Buch veröffentlichen konnte, eine Untersuchung zu den romantischen Seiten des deutschen Stummfilms.

Wie Sie sich vorstellen können, war sie keine sehr talentierte Mutter. Sie war diszipliniert und streng, ohne diese Disziplin und Strenge zu mögen – sie verlangte sich das ab, sie glaubte, das müsse so sein. Ihre überquellende, naiv hilflose Liebe zu ihren Kindern vermochte sie sich selten einzugestehen. Wirklich frei und gelöst war sie nur in ihren Gedanken, ihren Überlegungen und Forschungen.

Sie hatte so gut wie keine Freundinnen, menschliche Kontakte fielen ihr schwer. Bei Partys blieb sie schüchtern stumm – oder sie verschreckte die Leute mit plötzlich geäußerten radikalen Meinungen, die es ihr nie gelang, im Dialog zu relativieren oder abzugleichen. Ihr Mann war ihr einziger sicherer Rückzugsort, da blieben auch wir Kinder außen vor.

Jetzt ist sie nicht mehr da. Sie fehlt mir.


(und danke an libralop, dessen anrührender Beitrag über seinen Vater mich zu diesem Text inspirierte: Auch meine Mutter war „Gefangene, Besucherin und Wärter“ in ihrem eigenen Gefängnis -Sch….-Schweige-DDR!)

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Dienstag, 12. Dezember 2023
Ach, diese Kinder ...
Unter der S-Bahnbrücke neben der Stadtteilschule fordern seit einigen Jahren jugendliche Sprayer zum Töten wechselnder Potentaten auf, manchmal wird auch der ganze Islam für schuldig befunden.

Jetzt konnten sie eine erste Person als erledigt von ihrer Todesliste streichen - haben dabei aber wohl einen Namen verwechselt.



Ach, was soll aus denen bloß werden, wenn sie groß sind? Vielleicht Außenminister, wie der Steinewerfer von einst?

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Freitag, 1. Dezember 2023
Zwei Bücher
Ach, wie schön, im Blog darf mensch, wie einst im Tagebuch, einfach drauflos schreiben, auch mit der privatesten, irrelevantesten Idee, und auch wenn ich die beiden zugrundeligenden Bücher grade mal angelesen habe …

Also, das kam so, dass ich dringend ein Buch brauchte, einen schönen, opulenten Roman zum Drinversinken am besten, denn wenn ich nichts zum Lesen habe, werd ich nervös und fühl mich leer (meine Frau behauptet, Bücher wären meine wahren und einzigen Freunde). Da fand ich ich in den FAZ-Papierstapeln meines Vaters eine Rezension zu Zadie Smith‘ neuem Roman „Betrug“. Ja, von Zadie Smith hatte ich schon gehört, vielleicht wärs an der Zeit, mal was von ihr zu lesen. Normalerweise greif ich als Geizhals und zum Antesten in einem solchen Fall zunächst zu einem früheren Roman der selben Person, die gibts im Internet in der Regel für fast umsonst, aber hier ergab die Internetrecherche, dass mich die früheren Romane von Zadie Smith nicht interessieren. Also fuhr ich vorbei bei der Buchhandlung und fand den aktuellen Roman dort tatsächlich vorrätig. Und im Rausgehen, beim schnellen Durchsehen der Auslagen (was man in meiner Buchhandlung, Christiansen in Ottensen, nie versäumen darf, die ist wirklich wohl sortiert), fiel mir noch ein kritisches Buch von Omri Boehm über Identitätspolitik auf, das ich kurz entschlossen gleich mitnahm. Da ich Omri Boehm wegen seiner Idee einer Haifa-Republik positiv, der Identitätspolitik dagegen kritisch gegenüberstehe, war es ja wahrscheinlich, dass das was bringt.

Dann begann ich gleich zu lesen – und wunderte mich selbst, dass es mich zunächst zu Boehm und gar nicht zu dem Roman zog. Also, das Buch, „Radikaler Universalismus jenseits von Identität“, ist großartig: klug und kenntnisreich, ich musste mich richtig anstrengen, um zu verstehen. Gleichzeitig von einem hohen Ethos getragen, das den Lesenden erschauern lässt durch seine Reinheit. Grundidee: Die erhabene Idee, dass alle Menschen als gleich zu betrachten sind, zu ihr gelangt man nicht durch verhandelten Konsens, nicht durch schnöden Pragmatismus (von Spinoza über Nietzsche bis hin zu den Denkern des Liberalismus und Neoliberalismus), der die Menschen zu „klugen Tieren“ degradiert, sie muss schon als metaphysisch, also göttlich, genau genommen mehr als göttlich (wie er mit einleuchtenden Beispielen aus der Bibel demonstriert) akzeptiert werden, sonst ist sie nichts wert.

Die Lektüre begeisterte mich, gab mir ein Gefühl von Reinheit, Schönheit, wahrhafter Gerechtigkeit. An einer Stelle jedoch fand ichs zu radikal: als er davon brichtet, wie nach der großen Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg in Gettysburg die Toten exhumiert wurden, um sie in Gut und Böse zu teilen: Die Nordstaatler wurden an Ort und Stelle und nun würdig wieder begraben, da das Schlachtfeld im Folgenden geheiligt wurde – die Südstaatler dagegen aussortiert und zur Beerdigung an ihre Heimatorte verbracht. Boehm fand das richtig, denn „die Wahrheit, dass alle Menschen zum Volk gehören müssen, wird durch den Ausschluss der konföderierten Soldaten hochgehalten“. Da fehlte mir dann ein bisschen die christliche Nächstenliebe, die Ungerechtigkeit hinnimmt, wenn sie dem armseligen Nächsten gegenüber Gnade walten lässt.

Ich schwenkte um zu Smith, und auch die verwirrte mich: ein historischer Roman, sehr englisch, sehr bodenständig, historisch präzise und voll bissigem Spott. Messerscharf im Sezieren familiärer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, ohne ein gelassenes Lächeln angesichts der Lächerlichkeit der Protagonisten, bitter in seiner Wahrhaftigkeit.

Also letztendlich so gnadenlos wie Boehm. Nur auf einer anderen Ebene, nicht in den Höhen philosophischer Ideen, sondern in den Niederungen historisch konkreter Alltäglichkeit. Dabei – ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch - gefallen mir beide Bücher ganz außerordentlich. Sie sind halt heftig, gehen zur Sache. Und wo mir das englische 19. Jahrhundert doch zu beklemmend wird, schalte ich um zu Boehms menschheitsumarmenden Ideen – und wo mir der zu sehr abschwebt, zurück zur Bissgkeit von Zadie Smith. Ich freue mich auf schöne Leseabende.

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Freitag, 17. November 2023
Afghanische Jungs und slawische Ortsnamen


Eben gekriegt. Ich kann sie so gut verstehen. Mir tut auch alles weh. Die märkischen Dörfer meiner Jugend jetzt zwar nicht mehr so sehr, das ist versunken. An die Stelle der damaligen Orientierungslosigkeit ist Überdruss getreten, an dieser ganzen Welt. Aber ich schalte dann schon immer noch rechtzeitig auf "funktionieren", und es geht weiter ...

... und das wird dieser Junge auch noch lernen, demnächst, wenn der Schmerz nachlässt, der sicher schlimmer ist als meiner.

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Mittwoch, 8. November 2023
Berlin Prepper
Durch Zufall begegnete mir der Thriller „Berlin Prepper“ von Johannes Groschupf, ein wunderbares Buch: klug, spannend, nah an der Realität. Es geht um prekäres Leben in Berlin, um Hasskommentare im Netz und natürlich um Prepper. Erschienen 2019, tagespolitisch natürlich nicht mehr ganz aktuell, umso mehr aber, was die Verhältnisse betrifft. Ich frage mich, wieso so ein Buch nicht rauf und runter durch die Feuilletons besprochen wurde - es ist jetzt vermutlich kein besonders herausragendes sprachliches Meisterwerk, aber welche von den in aller Munde seienden Büchern sind das schon? Und dieses hier - es ist nicht nur solide und ordentlich erzählt, es ist auch gesellschaftlich relevant. Unbedingte Leseempfehlung!

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Sonntag, 29. Oktober 2023
Mal was Positives
Letzte Woche musste mein Sohn unbedingt in ein Konzert in der Großen Freiheit. Wir Eltern fragten, zu wem, und googelten dann nach: Omah Lay, ein nigerianischer Sänger. Gefiel mir richtig gut. Also: ein nigerianischer Sänger, das gabs zu meiner Zeit nicht – oder nur als Weltmusik, und das musste dann Afrika-Folklore sein oder wurde zumindest so aufgefasst und nur von entsprechenden Fans konsumiert. Während das hier, das schien mir ganz normaler Pop, auch wenn natürlich afrikanische Einflüsse hörbar sind, so wie man ja auch hört, wenn Pop eher englisch, amerikanisch oder skandinavisch klingt. Schön, dass jetzt auch Nigerianer so selbstverständlich in der Großen Freiheit auftreten wie Engländer, Amerikaner oder Schweden. Und ohne dass vorher eine Protektion durch Harry Belafonte oder Paul Simon stattfinden muss.
(… und demnächst bitte auch Pop aus Malawi, Mongolei oder Moldawien …)

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Donnerstag, 19. Oktober 2023
Naiver Vorschlag
Von außen und weit weg stellt sich mir die Sache so dar: Es kann eigentlich niemand ein Interesse am Verbleib der palästinensichen Bevölkerung im Gaza-Streifen haben.

Die israelische Bevölkerung hat seit Jahren Angriffe aus den Reihen dieser Bevölkerung erdulden müssen, die jetzt völlig ins Barbarische eskaliert sind. Und es hat sich als unmöglich herausgestellt auseinanderzudividieren, wer da jetzt als aktiver Kämpfer, wer nur als menschliches Schutzschild und wer vielleicht als beides fungiert. Kurz: Die Anwesenheit dieser Bevölkerungsgruppe stellt eine ziemliche Bedrohung für Menschen in Israel dar.

Ein ganz ähnliches Interesse besteht auf Seiten ebendieser Palästinenser: Kein Mensch, der bei Verstand ist, kann in Gaza bleiben wollen, von Hilfslieferungen am Leben gehalten, ohne Zukunft für sich und seine Kinder, manchmal auch ohne Strom und Wasser, dafür immer mal wieder mit Bombardements. Und tatsächlich warten sie ja zu Tausenden an den Grenzübergängen, in der Hoffnung, einfach irgendwie nur rauszukommen.

In einer Welt, die mitfühlend wäre, und zwar für alle, die in der Region leben, in dieser Welt müsste Ägypten die Grenzen öffnen, Israel würde dann ein neues Gaza in Ägypten errichten, wo sie alle hin könnten, und würde im Gegenzug den Gaza-Streifen zur Besiedlung überlassen bekommen. (Dann müssten ihre Neuzuwanderer auch nicht mehr unter Militärschutz im Westjordanland siedeln, wo es ständig Ärger gibt, sondern könnten es unbehelligt am schönen Mittelmeerstrand tun).

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Mittwoch, 18. Oktober 2023
Gedanken bei Nachlass-Sortieren
Meine Mutter hat gern geredet, gern erzählt und konnte das auch gut – Gespräche mit ihr waren eine Freude – nur hat sie es zu wenig getan, da ihr das Selbstbewusstsein fehlte. Am besten gingen Fachgespräche, da sie ein solides Fachwissen zu Literatur, Kunst, Film besaß und in ihrer Generation ja Fachwissen Selbstbewusstsein ersetzen konnte. War ein kompetenter, zugeneigter Gesprächspartner zugegen, lief sie schnell zu Hochform auf, besonders bewundernswert fand ich immer ihre Kühn- und Treffsicherheit beim spontanen Knüpfen synästhetischer Zusammenhänge.

Privates fiel ihr schwerer; über ihr besonderes Steckenpferd, die Familiengeschichte, redete sie eigentlich nur zu ihren Kindern. Wir verdanken ihr eine umfangreiche und genaue Datensammlung zu dem Thema. Die zugehörigen erzählenden Texte sind aber nicht richtig gut, da sie sich dort – anders als in ihren klugen und oft souverän eigensinnigen Wissenschaftstexten – kaum zu ihrem subjektiven Blick auf die Dinge bekennt, sondern oft nur dunkle Andeutungen macht oder in ideologischen Klischees Halt sucht.

Am Ende ihres Lebens hat ihr die Demenz einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte noch ein Buch schreiben, aber nur ein Drittel des geplanten Textes ist tatsächlich entstanden, dann gerieten ihr die Textfassungen immer mehr durcheinander, schrieb sie Detailideen versehentlich mehrfach an verschiedenen Stellen des Textes auf usw. Ich war damit heute wieder konfrontiert, als mich daran machte, ihren hinterlassenen Papierwust zu sortieren.



Hier schreibt sie: „Neuer Anfang - Datei:Korrekturfass. 2 – genau kontrollieren! Kommen hier die … vor? - In welcher Datei sind die ‚Manipulationen?‘ - Korrekturfass.2 oder Vorschlagsfassung?“ Und ihr Fazit ist: „gesamt: ?“ Treffender kann man das nicht sagen. Und schade, dass der Text nicht zustande gekommen ist, sie hat es mir ja erzählt, ich weiß ja, was vorkommen sollte.

Schade auch, dass aus ihren privaten Erzählungen nichts geworden ist. Denn sie wusste schon, worum es geht im Leben. Unter den vielen angefangenen und nicht weitergeführten Heften und Schreibblöcken fand ich heute einen Block, auf dem nur die erste Seite zur Hälfte beschriftet ist. Und zwar mit folgenden Worten:

wie sahen sie sich selbst
welche Sternstunden hatte jeder
was rieten die Mütter ihren Töchtern
Wie berichtete man?
Wie starb man?
Wie wurden Geburten (oder kommende Kinder) kommentiert?
Wie sah man die Zeitereignisse?
Nahm man teil?
Aussprüche überliefern!
Wie die unmittelbar vorhergehende Geschichte?



Was für tolle Fragen! Ich habe keine Ahnung, wen oder was meine Mutter damals im Sinn hatte. Aber die Antworten wären definitiv spannend gewesen.

Meine Mutter war keine erfolglose Frau, keineswegs so erfolglos jedenfalls, wie sich sich oft fühlte. Und doch ist es schade, dass ein Mensch sein Potential nie voll ausschöpft – und dass meine Mutter gerade in dem, was ihre innerste Berufung war (ja, sie war auch gut als Wissenschaftlerin, auch gut als Pflanzen- und Tierliebhaberin, aber das hätten andere auch gekonnt), dass sie in dem nicht wagte, so klar und souverän zu sein wie in den genannten anderen, ihr nicht so wichtigen Lebensbereichen.

Jetzt ist es zu spät.

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