Dienstag, 3. Oktober 2023
Der SPIEGEL bringt …
… die Blödheiten des jeweiligen Zeitgeists auf den Punkt: Vorhin beim Bäcker sehe ich die aktuelle Titel-Zeile: „Die Risiken von Meditation und Yoga“

Wahrscheinlich kommt nächste Woche „Physiotherapie – die überschätzte Therapieform“ und übernächste Woche „Das persönliche Arztgespräch – Einfallstor der Esoterik“.

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Montag, 2. Oktober 2023
Ehrenamt
Vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk, Bericht über Lernferien in einem armen Duisburger Stadtteil. Die Reporterin fragt die Studentin, die sich dort betätigt, warum sie, die „doch das Abitur in der Tasche“ hat, sich hier ehrenamtlich engagiert. Und diese geht voll drauf ein und erklärt, dass man den Armen helfen muss. Wie jetzt? Woher wissen die beiden, dass diese Kinder die Hilfe in den Ferien brauchen? (Schließlich kriegen die Kinder, die in dieser Zeit mit den Eltern in den Urlaub fahren, auch keine Lernferien-Hilfe, das scheint aber nicht so schlimm zu sein.)

Aber vor allem: Was hat das mit dem Abitur zu tun - wenn jemand anderen helfen will, spielt es da eine Rolle, ob er das Abitur hat oder nicht? Bedeutet, das Abitur in der Tasche zu haben, dass man es fürs erste geschafft hat, auf die sichere Seite, und sich nicht mehr für die anderen interessieren muss? Oder bedeutet es sogar, das schien ja die Frage der Reporterin anzudeuten, dass man nie Lernferien nötig hatte?

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Dienstag, 26. September 2023
Ich probiere einen gewagten Vergleich
Ich lese gerade „Über den Kolonialismus“ von Aimé Césaire. Das ist schon in den 1950er Jahren erschienen, ich hätte den Text kennen sollen. Aber auch meine Aufmerksamkeit folgt oft nur aktuellen Trends, leider. Nun gut, besser spät als nie.

Cèsaire hat den sehr interessanten Gedanken, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus uns so sehr schockieren, weil die Brutalität und Menschenverachtung der Moderne, die bisher nur die Kolonisierten in der Dritten Welt zu spüren bekamen, nun erstmals auch Vertreter der weißen Rasse erreicht. Wie wahr.

Das zeigt sich auch an anderen, aktuelleren Phänomenen. FIAN, bei denen ich Fördermitglied bin, unterstützt seit Jahren vertriebene Kleinbauern in Sambia, vertrieben durch den größten Agrarinvestor in Afrika, eine Berliner Firma (die ihre Steuern in Luxemburg zahlt und ihr Konto auf den Caimon-Inseln angelegt hat). Damit sage ich Ihnen sicher nichts Neues: Auch wenn mensch den konkreten Fall nicht kennt – wir wissen doch alle, dass es so läuft, und schauen weg.

Und da das mit dem Wegschauen bisher so gut geklappt hat, versuchen sie es nun auch hier in Deutschland: Die Aldi-Erben und die Besitzer von KiK investieren jetzt in deutsches Ackerland, verdrängen die Einzelbauern (jedenfalls die von ihnen, die ihr Land noch selbst besitzen). Na ja, zur Not können wir auch hier schauen, wir leben ja in der Stadt und sehen nicht, auf wessen Acker das Gemüse gewachsen ist, das wir essen.

Wegzuschauen gelingt es uns nur dann nicht, wenn die dunkelhäutigen Menschen in unseren Städten auftauchen. Lang genug profitierten wir von den Gewinnen, die skrupellose Unternehmen (in der Phase der Moderne dann auch staatlich gestützt) in der Dritten Welt machten – wir waren ja nicht schuld daran, wir sahen es nicht. Jetzt sind die dortigen Wirtschaftsverhältnisse immer noch nicht intakt, das Klima ist es zunehmend weniger, aber die Mobilität hat zugenommen, die Möglichkeit, sich von dort wegzubewegen, wo man für sich und seine Kinder keine Zukunft sieht. Also kommen sie.

Das System, von dem wir uns ernähren, ist krank. Was uns ernährt, unsere Wirtschaft, macht uns satt, aber auch krank. Wir schütten das Gift in uns rein, jetzt erscheinen die Wunden auf unser schönen weißen Hautoberfläche. Die Rechten empfehlen: absperren. Pflaster drauf, Verband drumwickeln, eine Mauer errichten. Was drunter schwärt, ist uns egal. Die Linken sind netter, sie reinigen die Wunde, machen Salbe drauf, damit es nicht so wehtut. Sie kümmern sich um die Leute, sofern sie schon hier sind, bei uns auf der weißen Hautoberfläche. Darunter brennt die Entzündung weiter.

Solange wir das Gift nicht stoppen, wird es schlimmer werden. Welche Regierung verbietet Finanzinvestoren, Bauern zu verdrängen, sei es in Sambia oder in Schleswig-Holstein?

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Schein-Debatte
Wahrscheinlich haben Sie es gar nicht gehört, da es so nebensächlich ist und blieb – ich schon, denn ich interessiere mich für DDR und für Literatur, und so erfuhr ich auch, dass die in Westdeutschland geborene Autorin Charlotte Gneuß einen Roman geschrieben hat, der in der DDR der siebziger Jahre spielt.

Sandra Kegel nahm das zum Anlass, in der FAZ zu fragen „Darf sie das?“ - und sogleich laut „ja“ zu rufen, wohl wissend, dass auch niemand etwas anderes behauptet oder gefordert hat. Wie kam sie also auf die abwegige Frage? Nun, der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze hatte ihm Vorwege der Veröffentlichung und offenbar in bestem Einvernehmen mit der Autorin das Manuskript des Romans gelesen und als Zeitzeuge einige Anmerkungen gemacht. Diese Anmerkungen gelangten auf merkwürdigen Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises, wo Gneuß‘ Roman auf den vorderen Plätzen mitspielt. Jury-Mitglied Katharina Teutsch (FAZ) machte den Vorgang öffentlich, sodass Kegel das zum Anlass nehmen konnte, Schulzes Anmerkungen zu einer philiströsen Meckerei an einem Kunstwerk aufzublasen.

Alle Feuilletons berichteten natürlich, aber niemand wollte sich so recht auf eine Debatte einlassen. Gerrit Bartels fragte im Tagesspiegel zu Recht, was das ganze Spiel nun sollte. Das frage ich mich auch. Ging es darum, wie es Bartels für möglich hielt, Gneuß‘ Buch von der Shortlist zu verdrängen (um Platz für den anderen zur Verfügung stehenden DDR-Roman zu schaffen, den mit der, so scheint es, konsequenteren Anti-DDR-Ideologie) oder doch umgekehrt darum, Gneuß‘ Roman die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen? Oder sollte nur der Ruf von Ingo Schulze ein bisschen beschädigt werden? Oder Dirk Oschmanns bitter wahres Diktum von Ostdeutschland als westdeutscher Erfindung?

Vielleicht ja gar nichts von alldem und es sollten nur die Seiten im Feuilleton gefüllt werden. Wenn dieses Letztere der Fall wäre, wäre das sehr schade, denn Sie sehen an meinem Text, wie viele hässliche Gedanken das unten in der Bevölkerung erzeugt, wenn oben nur ein ganz kleines bisschen gemogelt wird, um eine Debatte zu erfinden.

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Mittwoch, 13. September 2023
Deutsche Gründlichkeit
Mein Vater kriegt eine sehr gute Rente, meine Mutter, die lange Hausfrau war, bekam eine sehr geringe. Nach ihrem Tod beantragte mein Vater die "Große Witwenrente". (Das ca. 60-seitige Formular musste ich dann ausfüllen. Gefragt war unter anderem, an welchen Tag meine Mutter ihr Hochschuldiplom bekommen hat.)

Jetzt hat er einen Bescheid bekommen, 25 Seiten lang lang. Ergebnis: Mein Vater bekommt eine Große Witwenrente von monatlich 78 Cent, die ihm der Geringfügikeit wegen vierteljährlich als 2,34 Euro ausgezahlt werden.

Wie gesagt: Der Rechenweg wird auf 25 Seiten haarklein begründet.

Haben die denn sonst nichts zu tun?

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Sonntag, 10. September 2023
Eine simple Erkenntnis (ostdeutsche Vergangenheitsbewältigung)
Zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen gehört Wikipedia-Lesen: Es gibt so viel basales Allgemeinwissen, das ich noch nicht habe …

Neulich wollte ich nur mal kurz nachschlagen, wer W. Szymborska ist, von der mir ein schönes Gedicht begegnete. Ich guckte schnell in Wikipedia nach und blieb an der Stelle hängen, wo sie sich 1966 mit einem Intellektuellen solidarisiert, der seinen Job verliert. Das konnte ich erstmal gar nicht einordnen, da ich keine Ahnung hatte, was 1966 in Polen los war. Also hab ich nachgelesen und kam von der Rolle Gomulkas in Polen über die Tauwetter-Politik Chrustschows und den Ungarn-Aufstand und den Prager Frühling zur deutsch-polnischen Entspannungspolitik ab 1970 und kombinierte das mit einer (wie mir schien) krassen Aussage von Egon Bahr, die in „Jena Paradies“ zitiert wird, diesem aufschlussreichen Buch über Matthias Domaschk und die Jenaer Oppositionsgruppen der 1970er Jahre.

Da wurde mir klar, dass ich unbewusst und unreflektiert noch als Kind eingesogenes, simples spätkommunistisches Orientierungswissen mit mir rumschleppe, das dringend der Neujustierung bedarf. Nach diesem verstaubt in mir lagernden Wissen sind Gomulka, Chrustschow, Dubcek und auch Brandt und Bahr Helden, über Ungarn redet man nicht und „Wandel durch Annäherung“ hätte das als Ziel haben können, was mit der Niederschlagung des Prager Frühlings untergegangen war, einen demokratischen Sozialismus.

Und bis auf die letzte, leider ziemlich falsche Aussage ist da ja auch viel Wahres dran. Es fehlt nur der Blick auf die größeren Zusammenhänge.

Also, ja, mit Chrustschow beginnt tatsächlich eine Öffnung hin zum Demokratischen, die das ganze sozialistische Lager erschüttert, und hier insbesondere Polen und Ungarn. Allerdings war allen unklar, wie weit diese Öffnung geht. Ungarn wagte es das auszutesten, mit der Idee, aus dem Warschauer Pakt austreten zu wollen, also an der europapolitischen Ordnung von Jalta und Potsdam zu rütteln. Das ging Chrustschow dann doch zu weit: Einen Machtbereich einfach so aufzugeben, der der Sowjetunion bei der Teilung Europas durch die Großkopfeten vertraglich zugesichert worden war – das ließ er nicht zu, die ungarischen Bestrebungen wurden mit aller Brutalität militärisch plattgemacht.

Möglich dagegen war die polnische Variante, bei der nach politischen Unruhen der stalinistische Staatschef durch den liberal handelnden Gomulka ersetzt wurde, der auf die Aufständischen zuging und faire Lösungen verhandelte und auch im Folgenden einen geschickt ausgleichenden Kurs zwischen den Bedürfnissen der polnischen Bevölkerung und den Machtansprüchen Moskaus fuhr. Als es allerdings in Moskau nach der Entmachtung Chrustschows unter Breshnew 1964 wieder deutlich in die reaktionäre Richtung ging, konnte auch Gomulka daran nichts ändern – und seine Tage als Staatschef waren gezählt, er wurde von den Hardlinern in der eigenen Regierung Stück für Stück beiseite gedrängt und 1970 abgesetzt.

Der Prager Frühling endlich versuchte 1968 ein „Ungarn light“, eine Demokratisierung ohne Abwendung von Moskau. Allerdings, anders als in Polen, tatsächlich institutionell verankert. Und auch das ging, wie wir wissen, Breshnew zu weit und wurde militärisch niedergeschlagen. Damit war endgültig Ruhe im Karton im sozialistischen Lager.

Interessant ist, dass die von Westdeutschland initiierte Entspannungspolitik genau in dem Moment einsetzt, in dem die Freiheitsbestrebungen innerhalb des sozialistischen Lagers endgültig tot sind. Die Totenstille ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass die stalinistische Zentrale, dass Breshnew und die seinigen sich darauf einlassen.

Und deshalb hat Egon Bahr die Zusammenarbeit mit Oppositionskräften in der DDR so kategorisch abgelehnt: Diese Ablehnung war die Voraussetzung dafür, dass er tun konnte, was er tat.

Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass die Entspannungspolitik sehr viel Gutes für den Osten getan hat: So wie es Chrustschow der von ihm initiierten Liberalisierung zu verdanken hat, dass er nur entmachtet, nicht wie üblich ermordet wurde, so hat es die DDR-Bevölkerung Brandt und Bahr und Gorbatschow zu verdanken, dass ihre Revolution so friedlich über die Bühne ging.

Dennoch bleibt die ungute Erkenntnis, dass von oben gewährte Freiheit etwas sehr Unvollkommenes und zudem Unzuverlässiges ist, solange sie nicht auch unten institutionell verankert wird.

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Mittwoch, 30. August 2023
Zum Nachdenken für Pädagogen: Wissen ist Sein
Mal wieder ein Zitat aus der aktuellen Lektüre: Von Ann Cotten habe ich vor Jahren schon ein Buch gelesen, „Der schaudernde Fächer“, ein Buch mit Erzählungen und einigen eingestreuten Versen, das war ganz schön versponnen, originell, vieles habe ich gar nicht verstanden, oft aber gab es so treffende Formulierungen und Geschichtchen, z. B. bei dem Portrait von Berliner Hipsterfrauen als „Seekühe der Kunst“ habe ich herzlich gelacht, und klug war es auch.

Jetzt fiel mir in einem Buchladen „Die Anleitungen der Vorfahren“ in die Hände, ein großartiges Buch. Teils Kurzprosa, teils Gedichte, was das Leseerlebnis nochmal schöner macht, weil Cotten offenbar ein ziemliches dichterisches Talent hat - fast jedes zweites Gedicht eine richtige Perle. Und die Prosastücke, obwohl inhaltlich oft eher banal (Berichte über einen Studienaufenthalt in Hawaii) so originell und klug und umso klüger, je mehr sie ins Essayistische abschweifen – es ist einfach eine Freude!

Da begegnete mir vorgestern bei der Abendlektüre folgender Satz: „Wissen ist Sein, nicht ein Vorrat zum Wegpacken.“ Wie klug ist das denn! Es zeigt nicht nur, wie blöd das Bulimie-Lernen ist, das einfach Wissen reinstopft und vergisst. Es zeigt auch, dass die derzeit übliche Lernideologie falsch ist: dass man nämlich in der Schule eher nur Kompetenzen erwerben sollte, damit das Ich des Lernenden in die Lage versetzt wird, sich mithilfe der Kompetenzen für die eigenen persönlichen Ziele und Wünsche halt das Wissen selbst anzueignen, das es für seine individuellen Ziele und Wünsche benötigt. Nein, das ist letztendlich eine neoliberale, kapitalistisch besitzergreifende, ichbezogene Denkweise. Das Ich ist kein fertiges Ich, das weiß, was es will, und Wissen ist kein Vorrat, den mensch sich greift, um vorwärts zu kommen. Das Wissen selbst ist Bestandteil des Ichs, wo es lebt und das Sein, die Ziele und Wünsche mitbestimmt. Du musst die Welt kennen, um dich in ihr zu orientieren, um in ihr etwas wollen zu können.

Apropos Neoliberalismus: Zwei Seiten weiter heißt es bei Cotten: „Ob das auch eine Präfiguration einer Kamikaze-Melancholie darstellt, auch eine Präfiguration der Bescheuertheit, Muster des Ignorierens oder Beiseiteredens der brennenden Erde, um weiter den Kult der Notwendigkeitsillusionen, des koks- oder kaffeegestützten Gefühls der Kompetenz im Augenblick zu feiern?“

Treffender, schöner hab ich das noch nie gelesen.

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Samstag, 19. August 2023
Bildungslücke eines Mercedes-Fahrers
An diesem Auto mit seinen widersprüchlichen Aufklebern bin ich heute vorbeigegangen:



Also, es ist schon verblüffend, wie stark jemand auf "unsere" Regeln pochen kann, ohne auch nur die allersimpelsten davon zu kennen. Ich meine das unveräußerliche Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das steht bei den Regeln der Deutschen ganz am Anfang, nämlich am Beginn des Grundgesetzes.

Aber vermutlich meint er mit "unsere Regeln" gar nicht die Regeln von uns Deutschen, sondern nur die Regeln von ihm selber und seinen Kumpanen und mit "unser Land" nicht Deutschland, dem er sich zurechnet, sondern: Deutschland solle ihm und seinen Kumpanen gehören. Und davor graut mir, vor der Vorstellung, deren Regeln könnten gelten und denen könnte womöglich das ganze Land gehören.

Also, liebe Leser, gehen Sie wählen! Wählen Sie irgendjemanden x-Beliebigen, nur damit diese gewaltverliebten Hornochsen nicht noch mehr Macht bekommen. (Und wiegen Sie sich nicht in Sicherheit, Sie sehen ja an Israel, dass es nicht unmöglich ist, dass sich eine Demokratie durch demokratische Wahlen selber abschafft.)

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Samstag, 22. Juli 2023
Wenn aufklärerisches Denken sich in sein Gegenteil verkehrt
In Schweden ist ein Gericht der Meinung, dass eine Bücherverbrennung als Akt der freien Meinungsäußerung aufzufassen ist.

In den Niederlanden darf eine Frau gegen ihren deutlich geäußerten Willen getötet werden, weil sie früher einmal schriftlich einen Sterbewunsch niedergelegt hat (hab ich zufällig hier gelesen). Die demente Frau konnte sich an ihre Niederschrift nicht erinnern und offenbar ist der aktuell geäußerte Willen eines nicht gänzlich rational sprechenden Wesens nichts wert gegen ein amtliches Dokument.

In Deutschland, in St.Peter Ording fand ich im Gästebuch einer Ausstellung über die Leiden von Heimkindern den schönen Kommentar: "Voltaire sagt dazu: Wenn jemand etwas berichtet, was gegen die normale Auffassung spricht, dann sind solche Zeugenaussagen wertlos."



(Hat jemand eine Idee, wie das Zitat wirklich lautet - ich kann mir nicht vorstellen, dass Voltaire je solchen Schwachsinn von sich gegeben hat.)

Was mich an den genannten Ereignissen nervt, ist nicht, dass ignorant eine Auffassung durchgesetzt wird (das gab es schon immer), sondern dass diese Auffassung behauptet, liberal und aufklärerisch zu sein.

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Sonntag, 25. Juni 2023
… und eine Geschichte, an der alles stimmt: "Das Buch vom Verschwinden" von Ibtisam Azem
(Kopie meines Kommentars bei mir selber - wenn ich meine Texte schon auf so einer Winkelplattform wie blogger.de veröffentliche, muss ich sie ja nicht auch noch zusätzlich in den Kommentaren verstecken)

Ich habe jetzt noch einen Roman einer Palästinenserin gelesen, „Das Buch vom Verschwinden“ von Ibtisam Azem, der mich begeistert, und ich sollte doch, wenn ich schon über die nur so halb guten Bücher abnörgele (während ich die belanglosen Lektüren wie neulich „Melody“ von Martin Suter in der Regel gar nicht erwähne), dann auch Loblieder auf die richtig guten verfassen.

Ich lese den schon 2014 erschienen und leider jetzt erst ins Deutsche übersetzten Roman jetzt gleich zum zweiten Mal, weil ich den wunderbar melancholischen Grundton beim ersten Lesen gar nicht genießen konnte, denn ich musste ich musste ständig unterbrechen und in Wikipedia nachblättern, weil ich von den als bekannt vorausgesetzten Hintergründen keine Ahnung hatte.

Eigentlich passiert nicht viel in dem Buch. Es geht um einen arabischstämmigen Bewohner von Tel Aviv, der die lückenhafte Erinnerung an die Geschichte seiner Familie nicht zu fassen kriegt: Deren Heimatstadt Jaffa ist längst von ihrem einstigen Vorort Tel Aviv geschluckt und zu einem nachgebauten Künstler- und Touristenviertel gemacht worden; der größte Teil seiner Familie wurde schon vor seiner Geburt vertrieben. Und die geliebte Großmutter, Hüterin der Familienerinnerung, ist gerade gestorben. Aber auch sein jüdischstämmiger Freund weist eine solche lückenhafte Familienerinnerung auf und treibt wie er wurzellos durch Tel Aviv. Dann lösen sich auf einmal und auf mystische Weise alle palästinensischen Menschen (inklusive der Hauptfigur) aus Israel und den besetzten Gebieten in Luft auf und nach einigen Tagen des Schocks gibt sich das Land seiner über Nacht gewonnenen Reinrassigkeit und damit dem Vergessen, der Erinnerungslosigkeit und der Leere der kapitalistischen Gegenwart hin.

Eine einfache, aber kluge Parabel, geschrieben in einem traurigen Tonfall, der mich jedenfalls sofort sehr berührte. Jetzt beim zweiten Lesen beginne ich auch langsam die ersten Anspielungen zu verstehen: Da sind zum Beispiel zwei Freunde, ein Jude und ein Araber, die einst als Tagelöhner bei den Gurkenverkäufern auf dem Markt arbeiteten – die Gurken waren köstlich, sie hatten so gelbe Blütenkrönchen, wie kleine Türkenfeze. Die beiden arbeiten da längst nicht mehr, die Gurken schmecken auch nicht mehr, nur noch wässrig. Und eine Palästinenserin aus dem Westjordanland bringt ihre Familie durch, indem sie auf israelischen Gebiet in einem Gewächshaus voller Chemiedunst Gewürznelken pflückt, während ihr aus dem Gefängnis entlassener Mann bewegungslos zu Hause am Küchentisch sitzt und Löcher in die Luft starrt. Oder die von der Schuld ihrer Vorfahren besessene Deutsche, die auf einer Party ihrem Kollegen den Quoten-Araber ihres Freundeskreises vorstellt, in aschkenasischem Hebräisch – worauf dieser betont mizrachisches Hebräisch anstimmt. Oder die alte Jüdin aus Bagdad, deren Familie nach Tel Aviv vertrieben wurde, dort aber gesellschaftlich ausgeschlossen bleibt, wie sie sich freut, als der palästinensische Arzt sie mit einer arabischen Höflichkeitsfloskel beruhigt.

Und natürlich das dominierende Symbol der „weißen Stadt“ Tel Aviv mit ihren neusachlichen Bauhausbauten. Für mich, der kommunistisch erzogen wurde, und für den das Bauhaus der Inbegriff des Guten war und der sich als Kind schon wunderte, weshalb er das Bauhausgebäude in Dessau eigentlich nicht schön finden konnte – für mich war das Symbol der weißen Stadt sehr eindringlich und einleuchtend, die weiße Stadt als künstlich erdachter Fremdkörper (mit dem künstlichen erdachten und aller Geografie widersprechenden Namen Tel Aviv), der die Erinnerungslosigkeit mit sich bringt und die alte Stadt Jaffa auffrisst und deren Reste in die Erinnerungslosigkeit verstößt.

Lesen Sie dieses Buch!

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Donnerstag, 22. Juni 2023
Gelungene Werbung ...
... wurde mir gestern auf dem Startbildschirm angezeigt:

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Erinnern Sie sich noch an Herrn Borowski und Frau Brandt?
Ich hab sie eine Weile ganz gern gesehen im Kieler Tatort. Und als es später mit diesem bergab ging, glaubte ich lange, dass das mit dem Fortgang von Sibel Kekilli tun hat, dass der verklemmte alte weiße Mann (Axel Milberg als Borowski) von Folge zu Folge immer allwissender wird und seine junge Assistentin immer ahnungsloser. Mit der Präsenz von Kekilli wäre das nicht möglich gewesen, so dachte ich.

Tatsächlich verhält es sich wohl eher umgekehrt: Gestern geriet ich zufällig in die letzte Folge mit Kekilli als Frau Brandt - unerträglich, wie da Borowski zu 120 Prozent "Herz und Verstand" verkörpert, während Brandt so ahnungs- und empathielos umherstolpern muss, dass ich sie während der ganzen Sendung gar nicht als Kekilli erkannt habe. Es verwundert nicht, dass sie nach dieser Folge die Serie verlassen hat.

Es ist also nicht so, dass sich die Serie durch den Fortgang einer Schauspielerin anders, nach rechts entwickelt hat, sondern umgekehrt: die Serie entwickelte sich sowieso in diese Richtung, und die Schauspielerin zog nur die Konsequenzen.

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