Donnerstag, 4. Januar 2024
Meine Mutter
Über die Kindheit meiner Mutter will ich gar nicht viel Worte verlieren, sie war Jahrgang 36, hat also den Krieg als Kind voll mitgekriegt. Ich glaube, ihr prägendstes Erlebnis war in der Hinsicht, als sie in der Jahreswende 44/45 – ihr Vater musste, da für den Kriegsdienst zu alt, am Westwall Gräben buddeln – mit ihrer hilflosen, heulenden Mutter vor der Front zu den Großeltern floh.

Oder soll ich noch die Szene erwähnen, wie sie mit ihrer Mutter am Bahnhof den Güterzug sah, aus dessen Waggons Menschen nach Wasser riefen – und als sie ihnen Wasser bringen wollten, wurden sie von Bewaffneten brutal zurückgestoßen? Als sie heulend nach Hause kamen, sagte ihr Vater nur: „Ihr wisst doch, was los ist! Und wenn ihr das zufällig mal auch persönlich seht, da braucht ihr doch nicht zu heulen.“ Meine Mutter hat mir das oft als Beispiel für den verabscheuungswürdigen Zynismus meines Opas erzählt, und erst kürzlich, als sie schon dement war, erfuhr ich von ihr, dass mein Opa in seiner Firma auch mit der Organisation des Zwangsarbeiterwesens befasst war und durchaus auch mal eine Tanja zur Hilfe meiner Oma nach Hause schickte.

Kurz und gut, wie die meisten ihrer Generation hat sie als Kind schon die Angst- und Ohnmachtsgefühle mitgekriegt, zusätzlich zu dem, was normale familiäre Belastungen so ausmachen.

Meine Mutter hat später die Teilnahme am berufstätigen Leben weitgehend verweigert, die für Frauen in der DDR die Regel war. Ihre Kinder hat sie nicht in den Kindergarten geschickt. Sondern sie lieber selber beaufsichtigt und daneben an einer Dissertation gewerkelt, die niemand haben wollte, da sie politisch nicht so recht genehm war (es ging um avantgardistische Filmentwürfe Friedrich Wolfs, die das stalinistische Moskau irgendwann nicht mehr finanzieren wollte) und meine eigensinnige Mutter sowieso niemandem so recht genehm war. Zum Glück hatte sie meinen Vater, der das Familiengehalt beisteuerte und dem sie als moralischer Anker diente, damit er, der SED-Kader, sich nicht zu sehr zu Karriere und Kompromissen hinreißen ließ. Irgendwann blieb die Dissertation ganz liegen und sie forschte nur noch zur Genese des deutschen Kommunismus, bemüht, dessen reinen Urgrund freizulegen. Ihren Hass auf Stalin und dessen deutsche Erfüllungsgehilfen trug mein Vater mit – er half ihm, in den elenden Zeiten der späten DDR seine Aufrichtigkeit zu bewahren.

Er revanchierte sich, indem er ihr, als die Kinder aus dem Haus waren, eine Stelle als Filmwissenschaftlerin beschaffte (sie organisierte darin ein erfolgreiche Ausstellung über Fritz Lang) und später den Kontakt zu einem Verlag, in dem sie ihr einziges, wunderbares Buch veröffentlichen konnte, eine Untersuchung zu den romantischen Seiten des deutschen Stummfilms.

Wie Sie sich vorstellen können, war sie keine sehr talentierte Mutter. Sie war diszipliniert und streng, ohne diese Disziplin und Strenge zu mögen – sie verlangte sich das ab, sie glaubte, das müsse so sein. Ihre überquellende, naiv hilflose Liebe zu ihren Kindern vermochte sie sich selten einzugestehen. Wirklich frei und gelöst war sie nur in ihren Gedanken, ihren Überlegungen und Forschungen.

Sie hatte so gut wie keine Freundinnen, menschliche Kontakte fielen ihr schwer. Bei Partys blieb sie schüchtern stumm – oder sie verschreckte die Leute mit plötzlich geäußerten radikalen Meinungen, die es ihr nie gelang, im Dialog zu relativieren oder abzugleichen. Ihr Mann war ihr einziger sicherer Rückzugsort, da blieben auch wir Kinder außen vor.

Jetzt ist sie nicht mehr da. Sie fehlt mir.


(und danke an libralop, dessen anrührender Beitrag über seinen Vater mich zu diesem Text inspirierte: Auch meine Mutter war „Gefangene, Besucherin und Wärter“ in ihrem eigenen Gefängnis -Sch….-Schweige-DDR!)

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Ungelogen: Es läuft gerade Miss Robinson im Radio. Und danke für Ihren Text!

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Gern geschehen. Ich hoffe, Sie haben den Song genossen, stellvertretend für Ihren Vater.

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