Mittwoch, 18. Oktober 2023
Gedanken bei Nachlass-Sortieren
Meine Mutter hat gern geredet, gern erzählt und konnte das auch gut – Gespräche mit ihr waren eine Freude – nur hat sie es zu wenig getan, da ihr das Selbstbewusstsein fehlte. Am besten gingen Fachgespräche, da sie ein solides Fachwissen zu Literatur, Kunst, Film besaß und in ihrer Generation ja Fachwissen Selbstbewusstsein ersetzen konnte. War ein kompetenter, zugeneigter Gesprächspartner zugegen, lief sie schnell zu Hochform auf, besonders bewundernswert fand ich immer ihre Kühn- und Treffsicherheit beim spontanen Knüpfen synästhetischer Zusammenhänge.

Privates fiel ihr schwerer; über ihr besonderes Steckenpferd, die Familiengeschichte, redete sie eigentlich nur zu ihren Kindern. Wir verdanken ihr eine umfangreiche und genaue Datensammlung zu dem Thema. Die zugehörigen erzählenden Texte sind aber nicht richtig gut, da sie sich dort – anders als in ihren klugen und oft souverän eigensinnigen Wissenschaftstexten – kaum zu ihrem subjektiven Blick auf die Dinge bekennt, sondern oft nur dunkle Andeutungen macht oder in ideologischen Klischees Halt sucht.

Am Ende ihres Lebens hat ihr die Demenz einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte noch ein Buch schreiben, aber nur ein Drittel des geplanten Textes ist tatsächlich entstanden, dann gerieten ihr die Textfassungen immer mehr durcheinander, schrieb sie Detailideen versehentlich mehrfach an verschiedenen Stellen des Textes auf usw. Ich war damit heute wieder konfrontiert, als mich daran machte, ihren hinterlassenen Papierwust zu sortieren.



Hier schreibt sie: „Neuer Anfang - Datei:Korrekturfass. 2 – genau kontrollieren! Kommen hier die … vor? - In welcher Datei sind die ‚Manipulationen?‘ - Korrekturfass.2 oder Vorschlagsfassung?“ Und ihr Fazit ist: „gesamt: ?“ Treffender kann man das nicht sagen. Und schade, dass der Text nicht zustande gekommen ist, sie hat es mir ja erzählt, ich weiß ja, was vorkommen sollte.

Schade auch, dass aus ihren privaten Erzählungen nichts geworden ist. Denn sie wusste schon, worum es geht im Leben. Unter den vielen angefangenen und nicht weitergeführten Heften und Schreibblöcken fand ich heute einen Block, auf dem nur die erste Seite zur Hälfte beschriftet ist. Und zwar mit folgenden Worten:

wie sahen sie sich selbst
welche Sternstunden hatte jeder
was rieten die Mütter ihren Töchtern
Wie berichtete man?
Wie starb man?
Wie wurden Geburten (oder kommende Kinder) kommentiert?
Wie sah man die Zeitereignisse?
Nahm man teil?
Aussprüche überliefern!
Wie die unmittelbar vorhergehende Geschichte?



Was für tolle Fragen! Ich habe keine Ahnung, wen oder was meine Mutter damals im Sinn hatte. Aber die Antworten wären definitiv spannend gewesen.

Meine Mutter war keine erfolglose Frau, keineswegs so erfolglos jedenfalls, wie sich sich oft fühlte. Und doch ist es schade, dass ein Mensch sein Potential nie voll ausschöpft – und dass meine Mutter gerade in dem, was ihre innerste Berufung war (ja, sie war auch gut als Wissenschaftlerin, auch gut als Pflanzen- und Tierliebhaberin, aber das hätten andere auch gekonnt), dass sie in dem nicht wagte, so klar und souverän zu sein wie in den genannten anderen, ihr nicht so wichtigen Lebensbereichen.

Jetzt ist es zu spät.

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