Dienstag, 4. Dezember 2012
Stalking – drei Beispiele und ein Ergebnis
Ich nenne zu meinem heutigen Thema einige Beispiele, aus meiner weiteren Bekanntschaft. Man hört ja gerne einfach zu, wenn getratscht wird, und bildet sich dann sein Urteil.

Beispiel 1: der Stalker
Eine junge Frau in der Findungsphase, leidenschaftlich, kreativ, planlos. Es klappt weder mit den Männern noch im Beruf so richtig. Sie ist das Gehetze und die Ratlosigkeit leid. Da gibt es einen Verehrer noch aus ihrer Schulzeit, er lebt noch in der alten Heimat, im Haus der Eltern. Bieder, aber zuverlässig, inzwischen verdient er auch gut. Sie geht auf sein Angebot ein, den Sommer bei ihm, im idyllisch gelegenen Elternhaus, zu verbringen. Am Ende des Sommers sind sie ein Paar. Sie ist alles andere als glücklich über diese Entwicklung, aber auch nicht unglücklich. Sie fühlt sich sicher, auch noch, als es ihm gelingt, einen Job in ihrer Stadt zu ergattern, und bei ihr einzieht. Aber dann ist da der charmante Obsthändler, der ihr auf dem Wochenmarkt immer was schenkt. Als der Freund unterwegs ist, lässt sie sich auf ein Date ein und sofort ist klar, sie hat einen neuen Freund. Endlich einen, der ihr gefällt. Der andere muss ausziehen. Tut er aber nicht – schließlich hat er ja schon einmal durch sture Hartnäckigkeit ein eigentlich unmögliches Ziel erreicht. Es endet damit, dass sie die Polizei holt, um ihn zum Auszug zu zwingen. Danach ist zwei Wochen Ruhe. Dann steht er jeden Abend mit dem Auto vor ihrer Arbeitsstelle. Sie muss sich täglich von ihrem neuen Freund abholen lassen. Einmal, die Autos der Nebenbuhler parken direkt nebeneinander, sagt sie, noch aufgewühlt von der täglichen Konfrontation, nach dem Einsteigen zu ihrem Freund: „Tritt einfach aufs Gas!“ Der tut es. Die Karosserien knallen aufeinander, es gibt ein Gerichtsverfahren, zwei Zeugen (Kolleginnen) bezeugen, was nicht gewesen ist, dass nämlich der Stalker mutwillig den Unfall verursacht hätte. Es wird ein entsprechendes Annäherungsverbot ausgesprochen, der Stalker trollt sich und wird nie wieder gesehen.

Beispiel 2: die Stalkerin
Der befristet Angestellte und die Auszubildende kommen sich im Trubel einer Geschäftsauflösung näher, beiden winkt die Arbeitslosigkeit. Sie werden ein Paar, verlassen gemeinsam die Stadt, finden anderswo ein gutes berufliches Auskommen. Sehr bald ist auch ein Kind da, nicht viel später auch Wohneigentum. Die Probleme beginnen, als langsam Ruhe einkehrt. Er beginnt sich beruflich und sozial zu etablieren, sie spielt immer nur die zweite Geige, sicher auch bedingt durch Babypause und persönliche Ungeschicklichkeit, vor allem da sie es trotz beider Berufstätigkeit nicht schaffen, das konservative Rollenbild „er Leitwolf – sie Weibchen“ zu durchbrechen. Ihre depressiven Schübe bekämpfen sie mit Medikamenten, dann verbessert die Ankunft des zweiten Kindes vorübergehend die weibliche Position und die Balance des Ehelebens. Natürlich wird es danach noch schlimmer. Als sie das dritte Kind ohne sein Wissen abtreibt, gibt er auf und erliegt den Avancen einer Kollegin. Träumt von einer neuen Beziehung und ahnt nicht, dass die gar nicht daran denkt, nur sexuelle Abwechslung sucht. Aber er trennt sich auch nicht von seiner Frau, neben der er weiter herlebt, weil er Angst hat, die geliebten Kinder zu verlieren. So staut sich bei seiner Frau, die nichts Genaues weiß, aber die Zurücksetzung natürlich spürt, nur noch mehr Wut auf, bis sie endlich die Initiative ergreift und auszieht. Endlich ist sie aus der Lethargie heraus. Den aufgestauten Frust investiert sie nun in anwaltliche Aktivitäten. Die Scheidung ist ihr nicht genug, auch nicht der übliche Rosenkrieg um Sorgerecht und Gütertrennung: Sie überzieht ihren Exmann jahrelang mit weiteren Klagen und Forderungen: erfindet den Vorwurf, er schlage die Kinder, berechnet den Gegenwert einst bei ihm verbliebener Harken und Spaten, beauftragt ein Kind, seinen Haustürschlüssel zu entwenden, damit sie heimliche Kontrollgänge durch die alte Wohnung machen kann usw. Das ist ihr neuer Lebensinhalt, ein Ende nicht in Sicht.

Beispiel 3: Stalking als phantasierte Bedrohung
Sie ist nicht mehr ganz jung und immer noch mit ihrem Jugendfreund zusammen, ohne dass es jetzt die große Liebe wäre. Nur eine beruhigende Kontinuität. Ohnehin haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Arbeitsorte ergeben, so richtig sieht man sich nur am Wochenende. In den gemeinsamen Urlaub geht es im Auto mit dem Wackeldackel auf der Hutablage. „So spießig bin ich gar nicht.“, ist ihr liebster Spruch, auch gegenüber dem neuen Kollegen, einem skurrilen, geistreichen Menschen, mit dem sich ein harmloser Flirt ergibt. Dass dieser, als langjähriger Single beziehungstollpatschig und sexuell ausgehungert, sich natürlich gleich in sie verliebt hat, übersieht sie geflissentlich. Sie wäre ja auch blöd, würde sie die Zuneigung und lang entbehrte Herzenswärme nicht nehmen, solange sie zu nichts verpflichtet ist. Aber dann kommt es, wie es kommen muss: ein Abend in seinem Hause, bei Rotwein, er gesteht ihr alles. Jetzt kann sie die Augen nicht mehr verschließen vor dem Begehren des anderen. Sie kriegt die Panik, plötzlich fällt ihr auf, dass der Flirt gar nicht harmlos war, sie fühlt sich verfolgt und unsittlich umlungert, heult erstmal, dann geht sie zur Chefin, verlangt den Kollegen aus dem gemeinsamen Arbeitsumfeld zu entfernen wegen „Stalking“ und bringt die ganze, überwiegend weibliche Kollegenschaft in Aufruhr. Auch hier endet es mit Anwaltsbriefen.

Fazit:
Ein empörungsgieriges, frauenfreundliches Umfeld der Betroffenen nimmt in Fall 1 und 3 einen männlichen Stalker wahr, im Fall 2 einen ganz normalen Scheidungskrieg. Von der gänzlichen Unschuld der betroffenen Frauen ist man (ja, auch die Männer) in jedem der drei Fälle überzeugt. Wie ich finde, liegen die Sachen meistens etwas komplizierter, da Beziehungstaten ja in der Regel aus Beziehungen entstehen.
Und noch eins: Die einzigen Gewinner sind in jedem Fall die Anwälte.

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Donnerstag, 29. November 2012
Diesen Herbst ...
... liest meine Mutter zum ersten Mal nicht mehr an einem dicken Buch, weil die Augen nicht mehr so recht mitmachen und nur noch lesen, was wirklich sein muss. Und mein Sohn liest zum ersten Mal ein dickes Buch, weil es jetzt so flüssig geht, dass es kein Stress ist, sondern ihm Spaß macht. Ich stecke in der kurzen Zeit dazwischen, wo es ein Vergnügen ist zu lesen, einfach von der Hand geht zu schreiben. Ich sollte diese Zeit mehr nutzen.

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Freitag, 16. November 2012
Internet-Lektüre-Bericht: Wie wird eine Theorie über den Reichstagsbrand zur „Verschwörungstheorie“?
Als ich 1990 im Westen ein Geschichtsstudium begann, erfuhr ich zu meiner Verblüffung, dass die Täterschaft der Nazis in Bezug auf den Reichstagsbrand wohl doch nicht selbstverständlich sei, ja, dass es sogar möglich sei, der damals am Tatort gefasste von der Lubbe habe den Reichstag mtihilfe seines kommunistischen Parteibuchs und einiger Kohlenanzünder ganz allein in Flammen aufgehen lassen. Nun, ich nahm das erstmal hin – es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich etwas ziemlich Unwahrscheinliches später dennoch als wahr erweist. Und wenn der mainstream einer Wissenschaft das für nicht unwahrscheinlich hält, dann muss es ja zumindest einige gewichtige Aspekte geben, die dafür sprechen.
Diese Aspekte gibt es tatsächlich, ich hab sie gestern nachgelesen, als ich (aus ganz anderen Gründen) mal zu diesem Thema nachgoogelte. Allerdings liegt das Gewicht der betreffenden Argumente, wie ich z. B. hier nachlesen konnte, weniger in deren Logik und Überzeugungskraft als in der Autorität der Instanzen, die sie vorgetragen haben: ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin und ein führender deutscher Geschichtsprofessor.
Es war nämlich so: 1946 benannte ein ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter die Täter, den SA-Funktionär Hans-Georg Gewehr und seine Truppe, und beschrieb den Tathergang. Da Gewehr inzwischen einen falschen Namen angenommen hatte und untergetaucht war, auch keine Akten greifbar und die entscheidenden Zeugen tot waren, ließ sich natürlich nichts davon beweisen. Bewegung in die Geschichte kam erst ein paar Jahre später, als der Wind sich gedreht hatte: Hans-Georg Gewehr lebte wieder unter seinem bürgerlichen Namen – als Bauunternehmer und Leiter eines Ingenieursbüros, ohne je Ingenieur gewesen zu sein (diese Sorte Firmengründer kenne ich auch aus der EX-DDR, wo jeder nennenswerte Funktionär von seiner Seilschaft eine GmbH bekam, kürzlich ist wenigstens mal einer der dreistesten davon vor Gericht gelandet, nachdem er diese Scheußlichkeit jahrelang an den neuen Staat vermieten konnte). Nun bekräftigte also ein niedersächsischer Verfassungsschützer als Hobby-Historiker die schon von den Nazis vertretene These von der Täterschaft van der Lubbes. Ein ehemaliger SS-Mann und in der Bundesrepublik hoch angesehener Wirtschaftskriminologe vermittelte seinen Text an den SPIEGEL, wo er 1959/60 als Serie erschien. Kurze Zeit darauf bestätigte der berühmte Historiker Hans Mommsen diese Einzeltäterthese und verhinderte die Veröffentlichung eines Gutachtens, das die Fehler in dem Text nachwies. So erlangte die seltsame These von der Alleintäterschaft van der Lubbes endgültig den Status kanonischen Wissens, und alles, was dagegen sprach, gilt seither als Verschwörungstheorie. Z.B. bei zum.de, der Wissensplattform für Lehrer, wo behauptet wird, nichts Genaues wisse man nicht, und als einziger Beleg ein Text des SPIEGEL aus dem Jahr 2008 verlinkt wird, der die SS-Thesen von 1960 unverändert weiter reproduziert. Während Wikipedia die Kontroverse umfangreich und wertfrei darstellt.
Fazit: Wenn du etwas über die Geschichte lernen willst, schau nicht in den SPIEGEL! Auch dein Geschichtslehrbuch wird dir vermutlich nicht weiterhelfen. Guck lieber ganz normal bei Wikipedia nach und folge den dort verzeichneten Links oder googel ein bisschen umher.
Und Verschwörungstheorien sind immer die Überlegungen der Leute, die ihre Ideen zwar auch nicht letztgültig beweisen können, denen es aber vor allem nicht gelungen ist, genügend wichtige Autoritäten um sich zu scharen, um ihr Gedankengebäude als Wahrheit verkaufen zu können.

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Donnerstag, 13. September 2012
Geld macht nicht glücklich
Ich gebe zu, dass ich auch zu den Menschen gehöre, die manchmal im Netz nachschnüffeln, was so aus den Leuten und insbesondere den Frauen geworden ist, die realiter längst aus meinem Leben verschwunden sind. Die sind ja alle irgendwo verzeichnet, oft sogar mit Foto. Heute traf ich auf ein Zeitungsfoto, das X. darstellt. Vor gut zwanzig Jahren knisterte es gewaltig zwischen uns, sie war ein phantastisches, wunderbar ungelenkes Luftwesen; meine Neigung zu Ironie, Dekadenz, Katholizismus und Helge Schneider verdanke ich im Wesentlichen ihr. Na, aber jetzt scheint sie nun wohl doch noch eine ganz normale Gymnasiallehrerstelle abgestaubt zu haben, irgendwo in der Uckermark. Jedenfalls sieht man sie auf dem Zeitungsfoto skeptischen Blicks vor einer Backsteinkirche stehen, immer noch zart und unelegant, und vor sich eine Horde blühend pubertärer Dorfgesichter. Ein trauriges Foto.
Wie anders dagegen Y., deren Foto ich vor einigen Monaten begegnete! Y. war damals die Schönste von den linken Asta-Leuten, hatte wild wehende, rotblonde Locken und ein rundes, rosiges Gesicht. Sie bewegt sich offenbar noch immer in solchen linken Projekt-Kreisen, in einer westdeutschen Großstadt, hat zwei Bücher geschrieben, deren Titel interessant klingen, die aber in Winkelverlagen erschienen sind. Das Netz verzeichnet auch ihre berufliche Position, von der offensichtlich ist, dass sie kaum Geld einbringen kann. Auf dem Foto sieht man sie mit lokalen Honoratioren in einer Ausstellung, älter geworden, mit Hennahaaren und Hosenanzug, zugewandt, freundlich, heiter gelassen ins Gespräch vertieft. Beneidenswert.
Genauso Z. Als wir uns kannten, war sie noch halb die brave, hübsche Schuldirektorstochter, in den Wirren der Wendezeit begeisterte sie sich für Esoterik, bald darauf verschwand sie für ein Jahr in die Toscana. Jetzt arbeitet sie wohl in einem Kulturprojekt für Jugendliche im Brandenburgischen, das keinen sehr gut finanzierten Eindruck macht. Anlässlich eines Zeitungsartikels über benachteiligte Jugendliche, mit denen sie arbeitet, sieht man sie auf dem Foto in einem Garten voller wucherndem Grün sitzen, in Jeans, mit hochgestecktem Haar, lachend, cool und entspannt.
Während N.N. immer noch völlig verspannt ist. Sie zählt zwar nicht zu den Frauen, an denen ich ein erotisches Interesse hatte, aber wir haben uns sehr gut verstanden, damals, als wir zur gleichen Zeit an benachbarten Fachbereichen promovierten und einiges zusammen unternahmen. Über gemeinsame Bekannte weiß ich, dass sie nach der Dr.-Arbeit eine Archivarsausbildung gemacht hat und inzwischen verbeamtet ist. Das Internet nennt etliche Veröffentlichungen und Vorträge von ihr. Und ein Foto zeigt sie in einem Archivkeller, wie sie mit einem Regionalpolitiker hinter einem metallenen Aktenschrank hervorkommt: kalt von Neonlicht beleuchtet, schick und korrekt gekleidet, mit verbissenem Gesichtsausdruck.
Die Beispiele mögen jetzt zufällig sein, aber ich hab sie so erlebt. Und mir drängt sich der Verdacht auf, dass die allseits begehrten Staatsstellen auch nicht so glücklich machen, wie allgemein angenommen.
Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vor allem für X. wünsche ich, dass ich mich täusche.

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Freitag, 10. August 2012
Bahnbrechende Forschungsergebnisse
Es mag ja Neid mitsprechen auf Leute, die sich den lieben langen Tag in geistigen Welten aufhalten dürfen, statt in den Niederungen des wirklichen Lebens herumzukrebsen. Aber manchmal kann man sich ein Schmunzeln über die Erkenntnisse der Wissenschaft doch nicht verkneifen.
Gestern Abend kam auf phoenix noch ein Film, dessen Titel spannend klang: „Die Heilkraft des inneren Arztes“. Aber schon die superbunte, aussagelose 3D-Animation des menschlichen Körpers im Vorspann hätte mich stutzig machen sollen. Und tatsächlich blieb es auch so banal.
Da hat sich also eine völlig neue Art und Weise der Medizin herausgebildet, die „Body-mind-Medizin“. Ihr Ansatz ist angeblich „einzigartig in Europa“ (O-Ton im Off-Kommentar) und kreist um die Erkenntnis, dass es sinnvoll sein kann, wenn man den Körper und die Seele betreffende Behandlungen kombiniert, da so die Selbstheilungskräfte des Menschen gestärkt werden, etwa bei Burn-Out und Rückenproblemen. Und dass es durchaus erlaubt ist, auch mit Meditation zu arbeiten, wenn man sie nur „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ nennt, damit einem nicht der Vorwurf der Esoterik gemacht werden kann.
In Amerika ist man natürlich längst noch weiter: An der Harvard University in Boston kann man solcherlei Gemeinplätze inzwischen auch mit komplizierten Geräten richtig wissenschaftlich nachmessen. Eine junge Forscherin aus Deutschland hat dort „Erstaunliches“ entdeckt: Schon nach wenigen Wochen regelmäßiger Meditation setzt in besonders stressanfälligen Hirnarealen tatsächlich eine messbare Besserung ein. Na, wer hätte das gedacht?!
Ich hab an der Stelle den Fernseher ausgemacht – und frage mich, was Menschen, die so etwas für erstaunlich halten, denn so vorher geglaubt haben.

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Dienstag, 7. August 2012
Vorurteile am ersten Schultag
Heimweg nach dem ersten Schultag. Mein Sohn erzählt: „Wir haben einen neuen Schüler in der Klasse. Er heißt Paul. Ich glaube, seine Eltern kommen aus einem anderen Land oder Bundesland. Er spricht so komisch.“
Ich: „Also, wenn er Paul heißt, kommt er wohl eher aus einem anderen Bundesland. Vielleicht Sachsen oder Bayern?“
Er: „Aber vielleicht kommt ja nur einer von seinen Eltern aus einem anderen Land, und er spricht deshalb so.“
Ich: „Dann würde er sicher akzentfrei Deutsch sprechen. Denk doch z.B. an R.!“
Er: „Ja, aber das muss nicht so sein. Bei S. z.B. hört man auch was, obwohl nur die Mutter ... ach nee, stimmt ja, der Vater ist ja, glaub ich, auch Türke. Aber was ist mit N.?“
Ich: „Na, der ist doch ein gutes Beispiel! Der spricht doch genau wie du oder ich.“
Mein Sohn: „Ja, aber seine beiden Eltern sind Argentinier.“
Ich: „Okay, ein Punkt für dich.“
Kurz: Wir haben die Frage nicht klären können, weshalb nun manche Kinder komisch sprechen und andere nicht. Jedenfalls haben mir meine Vorurteile über Sachsen, Bayern, Türken sowie hochdeutsch sprechende Ehepartner auch nicht weitergeholfen. Vielleicht kommt ja Paul auch aus Österreich, dann würde die These meines Sohnes über das fremde Land ja stimmen. Paul jedenfalls findet er netter als den neulich in die Klasse gekommenen Skandinavier. Die Welt ist eben bunter geworden und die nationale Herkunft nebensächlicher – ganz im Gegensatz zur sozialen ... aber davon später mehr, sofern ich in den nächsten Wochen überhaupt zum Bloggen komme, mein Zeitplan ist grade wieder hoffnungslos überfrachtet ...

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Sonntag, 1. Juli 2012
Wie ich von Auschwitz erfuhr
Heute mal ein Gast-Beitrag in meinem Blog: Ich berede meinen Vater (genauso wie meine Mutter) ja immer, dass es Zeit ist, mal biografische Erinnerungen aufzuschreiben, immer diese wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Spezialthemen in Fachorganen oder an Winkeldruckorten, das kanns doch auch nicht sein am Lebensende. Hier also eine erste Lieferung von meinem Papa:

Wie ich von Auschwitz erfuhr
Drei Gelehrte, ernst und hager Planer der Vergasungslager Fordern auch für die Chemie Freiheit und Democracy. (1)
Für die Bombenflieger des 1. Weltkrieges war Leuna nicht zu erreichen gewesen. Das sollte auch für die ersten Jahre des zweiten großen Krieges noch so gelten. Um 1940 war eine erste einsame Bombe gefallen, deren Trichter im Garten eines Siedlungshauses als sensationelles Ereignis angestaunt wurde. Aber man konnte ahnen, dass es nicht dabei bleiben würde. Es erging Anweisung, die Keller der Wohngebäude durch Absteifungen zu ertüchtigen und mit Notbetten und anderem Inventar als Schutz- und Aufenthaltsräume einzurichten. Auch wurde ein erster kommunaler Luftschutzbunker gebaut, noch in den gefälligen Formen eines besseren Lagerhauses, aber, wie sich bald zeigen sollte, nicht ausreichend vor den immer schwerer werdenden Bomben schützend. Nach ihm entstanden in der Wohnsiedlung des Werkes gewaltige viergeschossige Betonklötze mit meterdicken Decken und Wänden aus armiertem Beton; einer davon in unserer Nähe neben dem Bahnhof Leuna der Merseburg-Leipziger Bahnlinie. Von den Bauarbeiten ist mir der Name Philipp Holzmann auf den Schal-und Rüstbrettern als maßgebende Baufirma in Erinnerung geblieben. Im Verlauf der 40er Jahre (2) begannen dann unsere regelmäßigen Nachtwanderungen, um nach dem Ertönen der Alarmsirenen in diesem Bunker Schutz zu suchen. Denn dem eigenen Keller zu trauen, hatten wir längst aufgegeben, nachdem wir bei einem Tagesangriff durch den Druck der fallenden Luftminen mitsamt unseren Kohlen- und sonstigen Vorräten um einander gewirbelt worden waren. Umso mehr war ich erstaunt, als meine Eltern mir eines Abends ankündigten, daß wir in der nächsten Nacht bei Alarm nicht in den Bunker ziehen wollten, sondern in den Hauskeller zu unseren Nachbarn gehen würden Als der erwartete Alarm kam, klingelten wir also bei unseren Nachbarn und suchte^ gemeinsam mit ihnen deren Keller auf. Dort erfuhr ich auch den Grund für diesen ungewöhnlichen Entschluß: Bei den Nachbarn war ein junger Verwandter zu Besuch, der seit seiner Tätigkeit in den Leuna-Werken bei ihnen lebte, vor einiger Zeit aber zum Aufbau einer neuen Produktion nach Polen geschickt worden war. Die Nachbarn hatten meine EHern zu seinem Bericht über die dortigen Erlebnisse eingeladen.
Auch im Keller des Nachbarhauses gab es diese zweistöckigen Luftschutzbetten -ajso wurde ich als damals Zehnjähriger in ein oberes Bett geschickt mit der Aufforderung, weiter zu schlafen solange der Alarm andauert. Da meine ältere Schwester längst zwangsverpflichtet war, in einer Scheinwerferbatterie im Ruhrgebiet Kriegsdienst zu leisten, waren meine Eltern und die Nachbarsleute unter sich, und der nächtliche Fliegeralarm bot ihnen Gelegenheit zu offener Rede. Ich schlief natürlich nicht, denn es war so ungeheuerlich, was ich da zu hören bekam - aber gewiss nicht hören sollte Der Verwandte der Nachbarn, als Verfahrenstechniker in Leuna wegen seiner herausgehobenen Position vom Militärdienst freigestellt, war^ zum Aufbau einer neuen Produktionsanlage im Osten abkommandiert worden. Er berichtete, daß in Birkenau in Polen als Ausgleich für die im Rheinland stark bombardierten Chemischen Werke Hüls ein neues Buna-Werk für die Herstellung von künstlichem Gummi entstanden ist und zugleich daneben bei laufendem Betrieb von Leuna aus ein Destillierwerk zur Kohleverflüssigung für die Benzinproduktion aufgebaut wurde. Nach seiner Kenntnis war die Gegend um Birkenau von den Experten der IG Farben nicht nur wegen ihrer Lage außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberflotten ausgewählt worden, sondern ebenso wegen der reichen Vorkommen wichtigster Grundstoffe für die geplanten Produkte: oberschlesische Kohle und Kalk aus den Beskiden sowie Kühlwassers aus den Weichsel-Nebenflüssen als Voraussetzung der chemischem Prozesse. Vor allem aber war es den Oberen von IG Farben gelungen, einen Überfluß an beliebig verfügbaren Arbeitskräften zu organisieren. Dazu wurden rund um die Chemie-Baustellen Sammellager für KZ-Häftlinge - in der Überzahl Juden - eingerichtet, welche die SS ununterbrochen aus ganz Europa antransportierte. Sie wurden in schnell errichteten Baracken zusammengepfercht, schlecht gehalten und mangelhaft ernährt; auf die von ihnen erwarteten Arbeitsleistungen waren sie in keiner Weise vorbereitet und erfuhren nur die allemotwendigsten Unterweisungen, von den in der chemischen Produktion unerlässlichen Arbeitsschutzvorkehrungen konnte keine Rede sein. Den Aufbaugruppen der Werke und deren Vorarbeitern standen sie ohne Einschränkung für den vollen Schichtdienst bei ständig forciertem Arbeitstempo zur Verfügung. Angetrieben von den beigestellten SS-Aufsehern hatten sie zu schuften - buchstäblich bis zum Umfallen. Und wenn sie umfielen, bedeutete das den Tod - getötet mittels Giftspritze wie lästiges Vieh, wurden ihre Leichen in dafür bereiten Krematorien verbrannt.
Der junge Verfahrenstechniker aus Leuna erlebte seine eigene Aufbauarbeit und die ihm abverlangte rasant zu steigernde Produktion zugleich als eine große Todesmaschine. Dabei stand er unter dem unerbittlichen Druck seiner Vorgesetzten, des Betriebsleiters Dürrfeld (3), mit dessen Arbeitsstab er aus Leuna gekommen war, und der Spitzen des IG Farben Konzerns, die zu ständigen Inspektionen anreisten, um das Wachsen der Betriebe und den Anstieg ihrer Produktion voranzutreiben. Sie kamen meistens in Begleitung von hohen SS-Dienstgraden und trugen oft auch selbst SS-Uniform. Da fielen Namen, die mich aufhorchen ließen, denn sie waren uns Leunaer Kindern wohl vertraut... Bütefisch (4), und vor allem der großmächtige Schneider (5), von dessen Villa am Rand der Leunaer Werkssiedlung sich ein prächtiger Hang ins Saaletal zog, der im Winter unsere beliebteste Rodelbahn war... Sie also traten als grausame Schinder dort auf, die sich am Schicksal der Häftlinge nur interessiert zeigten, weil es galt, größtmögliche Arbeitsleistung aus ihnen herauszuholen, und die bei Ausfall darauf bestanden, schnellstens Ersatz heran zu schaffen... ? Massenmörder erhielten plötzlich „Name, Anschrift und Gesicht..." (6).
Unser Erzähler offenbarte sein Entsetzen; er war selbst zutiefst erschüttert, denn für ihn sind das die Größen seines Fachs gewesen, bedeutende Chemiker und Techniker, zu denen er einmal bewundernd aufschaute...
Nun war er gekommen, Abschied zu nehmen, denn er hatte sich freiwillig an die Ostfront gemeldet, um dieser Hölle von Auschwitz/Birkenau zu entgehen. Er ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen...
Der Schock, den ich in jener Nacht im Luftschutzkeller erfahren hatte, wirkte nach, als mit dem Ende der Naziherrschaft die Wahrheit ans Licht kam.
„Die Leiter der IG Farben waren harte, aber respektable Geschäftsleute, die zu großem Reichtum durch die Konstruktion jener Maschine gekommen waren, die die Nazis auf den
Weg nach Buchenwald trieb. Ohne IG Farben hätte Hitler nie in den Krieg ziehen können
Hitler kam an die Spitze mit Hilfe einer Koalition der führenden Schwerindustriellen und der militaristischen Junker: ohne Unterstützung der Mehrheit des Volkes. Der Anteil der IG Farben bei diesen Machenschaften kann jetzt durch die Aussagen der Verantwortlichen der IG belegt werden." (7)

Literatur:
Franz Fabian, Der Rat der Götter. Nacherzählt dem gleichnamigen Defa-Film, Berlin
(Deutscher Filmverlag) 1950
Diamond Jeffreys, Weltkonzern und Kriegskartell. Das zerstörerische Werk der IG Farben,
München (Blesssing) 2011 - bespr. v. Andreas Platthaus, Der Sündenfall der deutschen
Chemie, FAZ vom 16. Juni 2011
Willi Kling, Kleine Geschichte der IG Farben, Berlin (Tribüne) 1957
Otto Köhler, ...und heute die ganze Welt - Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter,
München/Zürich (Rasch u. Rührig) 1986
Richard Sasuly, IG Farben, 1947 - dt. von Walter Czollek, Berlin (Volk und Welt) 1952
Helmut Wickel, LG. Deutschland. Ein Staat im Staate. Berlin (Verlag Der Bücherkr,eis) 1932
Kämpfendes Leuna (1916-1945), Berlin (Tribüne) 1961
Befreites Leuna (1945-1950), Berlin (Tribüne) 1959
1l) Bertolt Brecht, Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy (1947)
Brecht, Gedichte VI, Berlin und Weimar (Aufbau) 1964, S. 157
(2) „ 1944: 12. Mai: Erster großer Bombenangriff der englisch-amerikanischen Luftwaffe
zur planmäßigen Zerstörung des Leuna-Werkes..."
Kämpfendes Leuna S. 937 (3). Walter Dürrfeld wurde von Bütefisch als unmittelbarer Betriebsleiter für IG Auschwitz
ernannt. Er behielt seine Büros zunächst noch in Leuna, um sie dann 1942 endgültig
nach Auschwitz zu verlegen.
(Kling, S. 44)
Der Verwandte unserer Nachbarn war von Dürrfeld .aus Leuna nach Auschwitz versetzt
worden (4) Heinrich Bütefisch, Direktor der Leuna-Werke, hatte bereits im Juni und Herbat 1932 an
Treffen mit Hitler teilgenommen; als SS-Obersturmbannführer gehörte er zum sog.
„Himmler-Kreis" und war einer der bestbekannten Nazis in der Führung der IG.
In Auschwitz war er für die Synthese-Anlagen verantwortlich.
(Sasuly S. 132 u. 334 - Kling, S. 44)
Er bewohnte eine Direktoren-Villa in Leuna und ein Jagdhaus in der Auenlandschaft
bei Zöschen. (5) Christian Schneider, Mitglied des Zentralausschusses der IG Farben und Leiter der
zentralen Personalabteilung, war zugleich „Hauptabwehrbeauftragter"
des Gesamtkonzems.
Obwohl in Frankfurt (Main) und Berlin tätig, hatte er seinen Sitz in Leuna; ebenso das
von ihm geleitete für die Zwangsarbeiter zuständige ,3üro Bertram".
(Sasuly, S. 329 - Kling, S. 41 - Befreites Leuna, S. 15)
Schneider bewohnte in Leuna eine schloßähnliche Villa oberhalb der Alten Saale mit
Blick über die östliche Auenlandschaft.
. (6) Bertolt Brecht, Kriegsfibel, Berlin (Eulenspiegel Verlag) 1955, Bild 22 (7) Sasuly S. 32/33
„Herr Sasuly war., einer der Beauftragten für die Untersuchung der Archive der IG
Farben; außerdem bereitete er das Verfahren gegen die IG vor."
Vorwort von Senator Claude Pepper, ebd. S. 20

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Montag, 27. Februar 2012
Anlässlich eines Films über die Odenwaldschule
Am Wochenende sah ich auf Phoenix einen Dokumentarfilm über die Odenwaldschule. Sie erinnern sich bestimmt: der Missbrauchsskandal an dem Eliteinternat. Ein sehr guter Film, der gekonnt die Waage zwischen persönlichem Engagement und distanzierter Sachlichkeit hält und eindringlich schildert, was da vor sich ging: Ein Schulleiter installierte ein allgemeines Laisser-Faire-System, um den eigenen kriminellen pädophilen Neigungen ungestört nachgehen zu können.
Aber darüber wollte ich gar nicht schreiben. Mir fielen zwei Kleinigkeiten auf, die der Film andeutete, aber nicht vertiefte: nämlich erstens die merkwürdige Zurückhaltung, mit der dieser Schulleiter, Gerold Becker, von den Behörden behandelt wurde. Unklar ist nicht nur, wie Becker 1967 auf den Schulleiterposten kam, obwohl der zuständige Bildungspolitikerschon von einem sexuellen Übergriff dieses Mannes auf einen Schüler wusste. Noch viel unklarer sind die Umstände seiner Ablösung 1985. Irgendetwas musste ruchbar geworden sein, irgendjemand musste ihn gedrängt haben, sich unter Ausreden von seinem Posten zurückzuziehen. Ein loyaler Nachfolger wurde – ohne Ausschreibung oder Auswahlverfahren – gefunden und eingesetzt, um die Schule wieder auf geregelte Bahnen zu bringen, ohne dass irgendjemand draußen etwas mitkriegt. Und so blieben auch später alle Anschuldigungen in der deutschen Öffentlichkeit ungehört, solange die Straftaten nicht verjährt waren.
Die andere Kleinigkeit war, dass ich über Hartmut von Hentig nachdachte, der nicht nur ein bekannter Pädagoge und Bildungsforscher ist, sondern auch Gerold Beckers Lebensgefährte war. Müsste der das nicht wenigstens als Untreue und mit einiger Eifersucht aufgenommen haben, wenn sein Freund und Partner die Passfotos der missbrauchten Jungen wie Trophäen in den gemeinsamen Wohnungsflur hängt? Oder konnte er das kompensieren, da er als der Berühmtere, der preußische Adlige, die stärkere Position hatte gegenüber Becker – so dass im Vergleich dazu ein paar „kleine Jungen“ nicht ins Gewicht fielen?
... aber hier überschreite ich endgültig die Grenze zu Spekulation und Verschwörungstheorie und spare mir den geplanten letzten Absatz dieses Textes, der die merkwürdige Liebe der alten Bundesrepublik zu den preußischen Adligen und also meine sozialen Vorurteile als Nachfahre anhaltinischer Proleten zum Inhalt haben sollte.

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Donnerstag, 2. Februar 2012
Lichtenhagen
Den Namen "Lichtenhagen" hörte ich das erste Mal, als wir 1979 dorthin eine Klassenfahrt unternahmen. Und nun guckt euch doch mal diese verqueren, verlorenen Gesichter an auf unserem Klassenfoto vor der Lichtenhagener Schule! Damit ist doch wohl alles klar!


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Irrtümer
Manchmal ist man sich seiner selbst sehr sicher und dennoch im Irrtum. Das fiel mir ein, als ich bei der schönen Diskussion über meinen letzten Beitrag an mein Schulpraktikum 1992 in Rostock erinnert wurde.
Ich schmunzelte damals ziemlich überlegen in mich hinein, als ich im Sozialkundeunterricht hospitierte, wo eine ehemalige Staatsbürgerkunde-Lehrerin versuchte, die aktuellen Ereignisse für ihre sechzehnjährigen Schüler fassbar zu machen. Sie gab ihnen ein Zitat von Freud über den Aggressionstrieb – mit dem Unterrichtsziel, dessen bürgerliche Haltung als falsch zu erkennen, weil ja immer das Soziale, also Politische, also die Existenz eines rechtsradikalen Milieus, den Kern eines Konflikts darstellt. Eine Schülerin, erkennbar aus gutbürgerlichem Haus, meldete sich und meinte, Freud sei ja ein Arzt für Geisteskranke gewesen. Für Geisteskranke möge das ja stimmen, dass der Mensch an sich aggressiv ist. Für Normalbürger ergäbe das keinen Sinn. Und war sich unausgesprochen mit der Lehrerin einig, dass es die Faschos und die Ausländer sind, also die Abartigen verschiedener Coleur, die das Lichtenhagener Vorstadtidyll rings um das Sonnenblumenhaus zerstört haben.
Da wähnte ich mich auf der sicheren Seite, lächelte über die Leute, die nicht mal von Freud eine Ahnung haben, dessen Thesen schon seit hundert Jahren bekannt sind, aber vor allem verteidigte ich mit diesem Lächeln mein eigenes Neben-der Spur-Sein: Natürlich fühlte ich mich selber eher als „Fascho oder Ausländer“ denn als Lichtenhagener. Hatte einen Hass auf alles und die Spießer, insbesondere die ostdeutschen Spießer. (Und später, als ich das begriff und therapeutische Hilfe in Anspruch nahm, da war es ganz schnell klar, dass das nur eine klassische Psychoanalyse sein könnte, kein rationalistischer Verhaltenstherapie-Schnickschnack oder gar westdeutsch-modischer Bioenergetik-Quatsch.) Noch später, die Wogen glätteten sich langsam, las ich, dass Freuds These vom Aggressionstrieb tatsächlich überholt ist. Man weiß inzwischen, dass Aggression tatsächlich so eine Art Fehlfunktion ist, nämlich eine in der Sache verschobene Reaktion auf eine anderswo erlittene Demütigung. An sich eine ziemlich einleuchtende Erklärung; komisch, dass einen erst die Neurowissenschaft darauf hinweisen muss.
Es gab also keinen Grund, mich über die Stabü-Lehrerin und die ostdeutsche Schülerin zu erheben, aufgrund irgendeines gesicherten Wissens, nein, die hatten schon Recht. Ihre Argumente stimmten. Was nicht stimmte, das war der ideologische Zusammenhang, nämlich die Idee, dass der Mensch als solcher einfach nur den Normen gehorchen muss, und schon ist alles in Ordnung.
Denn wenn es so wäre, dann wäre ja tatsächlich der Mensch eine Maschine, wie es im 18. Jahrhundert schonmal jemand behauptet hat, dann wäre der Mensch nichts als eine sehr entwickelte Hardware, auf die die richtige Software einfach nur aufgespielt werden muss. Und dann wäre es in der Tat entscheidend, ob die richtige frühkindliche Frühförderung passiert und in den frühen Jahren, in denen sich das Gehirn bekanntermaßen entwickelt (also so ca. bis vier), möglichst viel und Sinnvolles auf die Festplatte gespielt wird. Ja, davon träumen sie, die von der Leyens und Linken – Gott sei Dank ist es nicht so, wenn mir dieser persönliche Hassausbruch gestattet ist.
Und vor allem: Wenn es so wäre, dann würde jeder Hardware-Fehler bedeuten, dass das betreffende Individuum minderwertig wäre. Dann wäre die Präimplantantionsdiagnostik nicht nur bei künstlicher Befruchtung sinnvoll, sondern immer.
Zum Glück wissen wir durch die Neurowissenschaft nicht nur, dass es den Aggressionstrieb nicht per se gibt und dass er praktisch von jedem durch Erlittenes erworben wird, wir wissen auch, dass erlerntes Wissen in den genetischen Code eingehen kann, und vor allem wissen wir, dass wir nicht wissen, welche Eigenschaften unserer Gattung langfristig nützlich sein werden. Kurz: Es ist alles komplizierter und weniger schwarz-weiß, als wir gemeinhin denken.
Also überlassen wir doch die strategischen Überlegungen Gott, der Natur oder wie auch immer wir das nennen wollen, misstrauen weiter den Datensammlungen im Schutt dieses Zwickauer Hauses, in Pullach oder bei Standards & Poor’s und orientieren uns weiter an der Liebe zu uns selbst und denen, die uns begegnen (und das sollten natürlich möglichst verschiedene sein).

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