Montag, 27. Februar 2012
Anlässlich eines Films über die Odenwaldschule
Am Wochenende sah ich auf Phoenix einen Dokumentarfilm über die Odenwaldschule. Sie erinnern sich bestimmt: der Missbrauchsskandal an dem Eliteinternat. Ein sehr guter Film, der gekonnt die Waage zwischen persönlichem Engagement und distanzierter Sachlichkeit hält und eindringlich schildert, was da vor sich ging: Ein Schulleiter installierte ein allgemeines Laisser-Faire-System, um den eigenen kriminellen pädophilen Neigungen ungestört nachgehen zu können.
Aber darüber wollte ich gar nicht schreiben. Mir fielen zwei Kleinigkeiten auf, die der Film andeutete, aber nicht vertiefte: nämlich erstens die merkwürdige Zurückhaltung, mit der dieser Schulleiter, Gerold Becker, von den Behörden behandelt wurde. Unklar ist nicht nur, wie Becker 1967 auf den Schulleiterposten kam, obwohl der zuständige Bildungspolitikerschon von einem sexuellen Übergriff dieses Mannes auf einen Schüler wusste. Noch viel unklarer sind die Umstände seiner Ablösung 1985. Irgendetwas musste ruchbar geworden sein, irgendjemand musste ihn gedrängt haben, sich unter Ausreden von seinem Posten zurückzuziehen. Ein loyaler Nachfolger wurde – ohne Ausschreibung oder Auswahlverfahren – gefunden und eingesetzt, um die Schule wieder auf geregelte Bahnen zu bringen, ohne dass irgendjemand draußen etwas mitkriegt. Und so blieben auch später alle Anschuldigungen in der deutschen Öffentlichkeit ungehört, solange die Straftaten nicht verjährt waren.
Die andere Kleinigkeit war, dass ich über Hartmut von Hentig nachdachte, der nicht nur ein bekannter Pädagoge und Bildungsforscher ist, sondern auch Gerold Beckers Lebensgefährte war. Müsste der das nicht wenigstens als Untreue und mit einiger Eifersucht aufgenommen haben, wenn sein Freund und Partner die Passfotos der missbrauchten Jungen wie Trophäen in den gemeinsamen Wohnungsflur hängt? Oder konnte er das kompensieren, da er als der Berühmtere, der preußische Adlige, die stärkere Position hatte gegenüber Becker – so dass im Vergleich dazu ein paar „kleine Jungen“ nicht ins Gewicht fielen?
... aber hier überschreite ich endgültig die Grenze zu Spekulation und Verschwörungstheorie und spare mir den geplanten letzten Absatz dieses Textes, der die merkwürdige Liebe der alten Bundesrepublik zu den preußischen Adligen und also meine sozialen Vorurteile als Nachfahre anhaltinischer Proleten zum Inhalt haben sollte.

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Diese Pädagogenszene der 70er wirkte schon damals, zumindest auf mich, etwas dubios. Gelesen habe ich nur dieses Buch über Summerhill, dessen Titel mir nicht mehr einfällt. Mich persönlich störte aber eher deren Faible für Wilhelm Reich und die Psychoanalyse und in dem Zusammenhang ist mir auch die Odenwaldschule und Hartmut von Hentig über den Weg gelaufen. Einige der utopischen Elemente wirkten und wirken ja durchaus interessant (wurde dazu in der Dokumentation näheres ausgeführt?), nur hatte ich als Nicht-Pädagoge immer auch ein ungutes Gefühl, ob sich da nicht Leute, Bilder über Kinder in ihrem Kopf zusammenbasteln, die eigentlich zu hinterfragen wären. An Missbrauch habe ich nie gedacht, eher an die Pseudotoleranz, wie sie an den Walddorfschulen praktiziert werden. Schade, die Sendung auf Phönix habe ich verpasst.
p. s.: ihre Spekulation über preußische Adlige, da ist - denke ich - etwas dran.

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Pseudotoleranz
ist ein treffendes Wort - Toleranz ergibt ja nur einen Sinn, wenn sie einem Zweck dient, über den sich alle einig sein müssen, der offen benannt sein muss. Das zeigte der Film sehr schön, dass diese Pseudotoleranz im Falle der Odenwaldschule in der Hauptsache der Vertuschung diente. Ein Betroffener sagte das ganz offen: "Wenn er (Becker) darüber hinwegsah, wie viele Biere ich am Abend trank, dann war ich natürlich auch eher geneigt, sein Verhalten nicht genauer zu hinterfragen." Zu den utopischen Elemanten oder überhaupt der Reformpädagogik sagte der Film übrigens nicht,sondern blieb konkret an den Geschehnissen - das fand ich sehr gut. Die Schuld irgendeiner Ideologie zuzuschieben, fänd ich auch wieder zu einfach, zumal ich ja durchaus sympathische Neigungen zu den irrationalen Zweigen der deutschen Geistesgeschichte hege, nicht einmal Wilhelm Reich ist mir (ohne ihn jetzt näher zu kennen) sonderlich unangenehm. Ich hielt ihn immer für einen Spinner, der (wie Spinner häufig) fruchtbare Denkbewegungen angestoßen hat, ohne jetzt direkt selbst durchzublicken, und wer dumm genug ist, ihn buchstäblich ernst zu nehmen, der ist selber schuld ...
also wenn da irgendwas verkehrt ist, dann nicht die Reformpädagogik selber, sondern ihre Verwendung: "reformpädagogisches Elitegymnasium" das ist doch ein Widerspruch in sich - wo ist das Reformerische, wenn man Eliten (und auch noch älteste Eliten und Adelsfamilien) wie seit Jahrhunderten in Internaten isoliert?

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Die merkwürdige Zurückhaltung“, wie Sie es nennen, war aber ja auch ein Charakteristikum der damaligen Zeit. Sexueller Missbrauch war damals (genauso wie Sexualität schlechthin) etwas, von dem nur unter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Es fing ja erst in den späten 60ern an, dass es an den Schulen auch Sexualkundeunterricht gab. Sexualität als Thema gab es praktisch nur in der negativen Form, d.h. es wurde sich moralisch darüber entrüstet, was sich aber wiederum meist auf vorehelichen Sex und freie Lebensweise bezog.

Heute wird ja viel über die Frauenbewegung gemäkelt, aber es ist letztendlich ein Verdienst der Frauenbewegung, die den sexuellen Missbrauch thematisiert hat. Ich erinnere einen Buchtitel: „Rot vor Scham“, der genau ausdrückt, worum es geht: es sind die Opfer, die sich schämen. Und deswegen war es auch so unendlich schwierig, das Thema Missbrauch an die Öffentlichkeit zu bringen.

Was mich persönlich so schockt, ist die Tatsache, dass der sexuelle Missbrauch trotz der sogenannten sexuellen Revolution nicht weniger geworden ist. Es sind eben nicht nur „Altfälle“ wie die Odenwaldschule, sondern Missbrauch geschieht nach wie vor auch in unserer Zeit.

@g.: hatte die Odenwaldschule denn einen ähnlichen Ansatz wie Summerhill? Ich habe die "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" als Jugendliche gelesen und war natürlich damals schwer begeistert. Auch wenn man heute vieles anders sieht, so war Summerhill ein wichtiger Anstoß.

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Ich kenne mich in der Reformpädagogik nicht gut genug aus, um die Ansätze vergleichend werten zu können. Mein Kommentar oben war nur eine oberflächliche Anmerkung aus der Erinnerung. Ich habe zwar in meinem Bekanntenkreis einige Pädagoginnen, die aber immer an staatlichen Schulen bzw. Kindertagesstätten gearbeitet haben und so nie so ‚frei’ waren ihren Irrtümern statt geben zu können. Wobei ihnen die einzuhaltenden Grenzen immer bewusst waren.

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