Dienstag, 22. Mai 2012
Gespenster der Vergangenheit (Rezension zu „Alois Nebel“)
In die seit längerem andauernde Phase der Wiederholungslektüre von Lieblingsbüchern – erst Pamuks „Schnee“, jetzt schon seit einigen Wochen „Ich“ von W. Hilbig – habe ich jetzt mal was Aktuelles eingeschoben, damit ich mich nicht ganz im Selbstreferentiellen verliere, eine Feuilleton-Anregung: "Alois Nebel“, ein „Graphic Novel“ von Jaroslav Rudiš und Jaromir 99.
Es geht um einen tschechischen Bahnbeamten, den die Geister der Vergangenheit heimsuchen – SS-Leute und Verwundete, Häftlinge und Vertriebene. Er wird in der Wendezeit entlassen und in der Psychiatrie entsorgt, trifft dort auf den Stummen, eine verdichtete Inkarnation dieser Vergangenheitsgespenster, und später auf dem Prager Hauptbahnhof – auch dort spukt es natürlich – die Klofrau Kvĕta. Am Ende treten die Autoren selbst auf den Plan und verschaffen ihrem Protagonisten ein Happy End.
Das ist eine wunderbare Geschichte, stimmig und doch geheimnisvoll, anspielungsreich und doch deutlich. Toll fand ich auch die holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Bilder: wirkungsvoll, ja heftig, durch ihre starken Kontraste, doch kein bisschen pauschalisierend. Im Gegenteil: Da ich als Comic-Verächter im Lesen von Bildinformationen eher ungeübt bin, habe ich viele Anspielungen gar nicht sofort verstanden, musste öfter vor- und zurückblättern, blieb dabei wieder bei anderen eindrucksvollen Szenen hängen, versank völlig in der erzählerischen Überfülle der Geschichte – und war am Ende umso dankbarer, dass die Autoren mich sicher zu einer absolut sinnvollen Auflösung führten.
Eine Kleinigkeit nur im Nachhinein, die mir nicht so gefiel: Es geht ein bisschen machohaft zu, oder wenigstens kreist alles um die Konflikte der Männer untereinander. Frauen treten nur auf, sofern sie als Opfer, Ehefrau oder böse Mutter dramaturgisch benötigt werden. Nicht, dass die Männer jetzt besonders positiv geschildert wären – die meisten von ihnen sind Täter, Mitläufer, Opfer, Mörder oder Alkoholiker, manchmal sogar mehreres davon. Auch Gott ist ein Mann – er trägt das Auge Gottes auf seiner Baseballkappe – und alles andere als eine erhabene Figur, er hat eher etwas von einem Penner. Als positives Gegenbild dazu steht Alois da, der Vater wird, obwohl er – wie ich finde – schon etwas alt dafür ist.
Aber ich will mal nicht meckern: Die Geister der gewalttätigen patriarchalen Vergangenheit inklusive eines lächerlichen Gottvaters nicht zu leugnen, ihre Anwesenheit unter uns in der Gegenwart zu zeigen, ihnen einen braven, tumben, allerdings im Wahn hellsichtigen, wirklichen Vater als Positivbild gegenüberzusetzen – das ist schon gut so, wohltuend und sinnvoller als vieles, was heutzutage als Vergangenheitsbewältigung daherkommt. Noch besser wäre es natürlich etwas weniger biologistisch gewesen. Aber dazu braucht es wohl einen Gott, der weder Bart noch Baseballkappe trägt.

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Dienstag, 14. Februar 2012
Der Freitagabend (Rezension zu „The Happening“)
Vor zwei Wochen haben meine Frau und ich uns für dem Freitagabend getrennt: Sie raus in die Welt - mit ihrer besten Freundin ins Kino zu dem Film, den derzeit jeder gesehen haben muss („Ziemlich beste Freunde“); ich blieb in der Drei-Zimmer-Höhle und bekam wie jeden Freitagabend von meinem besten Freund einen herausragenden Spielfilm aus dem Fernsehprogramm der vorigen Woche nach Haus geliefert, um ihn gemeinsam auf dem Beamer zu gucken.
Wir sahen „The Happening“ von M. Night Shyamalan, diesem von den Cineasten und sogar schon vom SPIEGEL geschmähten Regisseur und waren bewegt: ein herrlicher Mainstream-Gruselfilm, der aber (Shyamalans esoterischer Ader sei‘s gedankt) auf die übliche Hollywood-Plattheit verzichtet. Irgendwo im Internet hab ich gelesen, der Regisseur hätte für einen groß angelegten Öko-Thriller keine Produktionsfirma gefunden und wäre daher gezwungen gewesen, das große Thema auf eine private Geschichte zurechtzustutzen. Na, Gott sei Dank! Das Schöne des Films besteht ja gerade darin, dass er eine Menschheitskatastrophe anhand einer kleinen, menschlichen Geschichte erzählt.
Diese ist einfach geradezu simpel: Als mehrere Großstädte an der Ostküste der USA von einem Nervengift lahmgelegt werden, das die Menschen massenweise in den Selbstmord treibt, verzichtet der Regisseur auf eine Gesamtschau, sondern erzählt von einem einzelnen Ehepaar, das aus sich wie alle anderen auf die Flucht begibt. Die beiden sind ein bisschen naiv, ein bisschen spießig und aufgrund ihrer Unreife in einer Ehekrise. So wie sie (gespielt von Zooey Deschanel) eiskalt und verständnislos in die Welt guckt mit ihren bewegungslos stahlblauen Augen, das ist großartig, es erinnert mich an meine Frau, als sie zwanzig war und ich nicht an sie heran kam. Er dazu passend naiv und ebenso ahnungslos aufrichtig. Im Laufe der Flucht übernehmen sie das Kind eines Kollegen (der seine Frau nachholen will, und – natürlich – in den Tod geht), und an ihrer Zuneigung zu diesem Kind wird sie erwachsen, während er von einem alten Gärtner, einer Hippie-Helden-Figur, lernt, dass es nicht Terroristen sind, die da angreifen, sondern die gepeinigten Pflanzen selbst. Tapsig (einmal versucht er, mit einer Plastik-Pflanze zu kommunizieren), aber letztendlich erfolgreich nimmt er die Herausforderung an und versucht, seine kleine Kunstfamilie möglichst gut durch die Gefahr zu bringen. Die drei kommen durch – und man freut sich für sie, auch wenn das unvermeidliche Ende den nächsten Pflanzen-Angriff andeutet.
Ja, ich weiß, das ist kitschig, aber das ist halt mein Kitsch: gegenüber der Natur sind wir im Unrecht, als Einzelindividuen sind wir lächerlich, aber wachsen an den Herausforderungen, das Glück ist vorübergehend und findet sich irgendwo bei Liebe und Vertrauen. Eigentlich doch naheliegend, dass ein großer Mainstream-Kinofilm nach so einer privaten, einfachen Geschichte als Ausgleich verlangt; das wusste schon David Lynch, als er „Eine einfache Geschichte“ drehte. Nur kann ich eben mit dessen Klischees von Männerfreundschaft und „God bless America“ weniger anfangen als mit Shyamalans Mann-Frau-Kind-und-Liebe-Klischee.
Und folgerichtig bin ich eine Woche später am Samstag dann auch mit meiner Frau in „Ziemlich beste Freunde“ gewesen und hab mich total wohl gefühlt. (Auch da gings um Zuneigung und Vertrauen, und das auch noch in französicher Eleganz dargestellt!) Einfach im Zeise-Kino um die Ecke und keine weiteren Ausgehabenteuer, auch keinen Sex, wir sind danach einfach ins Bett gegangen und eingeschlafen. Und im Traum gratulierte mir M. – die uns beide damals vor 25 Jahren kannte und die inzwischen schon längst tot ist – dass ich die verehrte Frau doch noch errungen hab, und ich sagte nur: „Ja, ich bin glücklich.“

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Donnerstag, 4. August 2011
Nach fünfzig Jahren ist alles vorbei
Fünfzig Jahre ist der Mauerbau nun her, und da muss das Fernsehen natürlich entsprechend reagieren. Also zum hunderttausendsten Mal die Mauertoten, und da wird nicht nur „An die Grenze“ wieder rausgekramt, über den ich hier schon unter dem Thema „Soldat mit Abitur“ geschrieben habe, sondern es gibt auch ein neues TV-Drama: „Der Mauerschütze“. Das gabs gestern im Ersten und es war so banal, dass es nicht mal ärgerlich war. Da wird das Klischee treu und brav dramatisiert, die Story ist stimmig und rund und total vorhersehbar, die Schauspieler professionell, und was die inhaltliche Problematik betrifft, so sind am Ende alle irgendwie ein bisschen schuld, und wir können um Viertel vor zehn getrost den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen.
Eigentlich schön, denn diese Langeweile zeigt, dass das Thema gegessen ist, endlich. Vielleicht können jetzt ja mal die Menschen ins Blickfeld rücken, die gerade in Syrien erschossen werden. Oder die im Mittelmeer ertrinken. Das wäre doch auch mal gut als Thema für den 20.15-Film, oder?

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Mittwoch, 3. August 2011
Dietrich Bonhoeffer ist lieber gestorben
Im folgenden Text werde ich leise Kritik an der konspirativen Tätigkeit Dietrich Bonhoeffers in der Anti-Hitler-Verschwörung von Canaris üben. Bitte verstehen Sie das nicht falsch. Ich will damit keineswegs andeuten, dass er persönlich falsch gehandelt hätte – im Gegenteil: Bonhoeffer hat ein Leben von beeindruckender Logik, Konsequenz und Verantwortlichkeit geführt, geradlinig bis in den Tod. Daran kann kein Zweifel sein. Falsch finde ich aber, dass sich das Interesse an Märtyrerfiguren wie ihm so auf ihren Tod fokussiert, weniger auf ihre Ideen. So wie man bei Che Guevara besonders gern das „bolivianische Tagebuch“ liest, sich am letzten Trotz-Kampf ergötzt, als die Idee schon gescheitert war – und dieser Idee so die Leuchtkraft, die konkrete Relevanz für das eigene Leben raubt. Bei Bonhoeffer sind es dann die Gefängnisbriefe und das „Von guten Mächten ...“, die Theologie aus der Todeszelle, als hätte die uns Lebenden mehr zu sagen als die konkrete und lebbare Reform des evangelischen Glaubens, die Bonhoeffer in den dreißiger Jahren entwickelte.
Dazu passt, dass Bonhoeffer so eine Art Heiligenleben geführt hat und auch führen wollte. Er hat selbst erkannt, wie viel Eitelkeit in diesem Wunsch steckt und konnte doch nicht davon lassen. Die Banalität und Lächerlichkeit des normalen Lebens in einer Zweier-Beziehung hat er sich gespart und seine faszinierende Idee von einem erneuerten christlichen Glauben so von den Niederungen des Alltags getrennt. Schade.
Doch jetzt mal im Einzelnen: Dietrich Bonhoeffer wurde als später Sohn in ein kinderreiches, großbürgerlich-intellektuelles, sehr liberales Elternhaus hineingeboren. Damit war einerseits schonmal klar, dass er es zu etwas bringen würde im Leben, anderseits aber auch, dass er sich gegen seine älteren Brüder (und auch anders als seine meisten Schwestern) entwickeln würde: nicht die rationale Welt des Vaters, sondern die Religiosität seiner Mutter, einer Hofpredigerstochter, bestimmte die Zielrichtung. Er studierte Theologie und machte rasant Karriere im Uni-Milieu. Dabei kennzeichneten ihn aber nicht nur sein Ehrgeiz, sondern auch sein Charme und seine Jugend, vor allem aber seine unter Theologen ganz unübliche Liberalität. So hatte er z.B. (noch unüblicher!) eine ihm intellektuell ebenbürtige Freundin, die ebenfalls promovierte Theologin Edith Zinn.
Das einzige Problem war, dass er mit Anfang zwanzig noch zu jung war, um die sichere Professorenstelle an der Berliner Uni schon anzutreten. Man schickte ihn daher ein Jahr nach Amerika, wo er, der erfolgreiche Theologe, erstmals mit wirklich gelebtem Glauben in Kontakt kam: in den Gemeinden der Schwarzen in Harlem. Das krempelte sein Leben um, sein Fokus wechselte von der Wissenschaft zur Praxis des Glaubens, er begann, sich mit Meditation zu beschäftigen, plante eine Reise zu Mahatma Gandhi, entwickelte eine verblüffend einfache, faszinierende Idee, wie evangelischer Glauben wieder echt werden könnte: indem man nämlich die Wiedergeburt Christi als eine Wiedergeburt in der Gemeinde versteht, d.h. die Gemeinde selbst ist Christus. Und das bedeutet wiederum, dass Christ zu sein nichts anderes heißt als erstens gemeinschaftlich und zweitens wie Christus zu leben.
Leider kam Bonhoeffer das Jahr 1933 dazwischen und zerstörte seine ersten Schritte heraus aus dem goldenen Käfig: Die Jugendstube für Arbeitslose, die er 1932 in Berlin-Charlottenburg gründete, löste die SA auf, einige seiner Bekannten von dort musste er sogar in einer Gartenlaube verstecken, da sie als des Kommunismus verdächtig in Lebensgefahr waren. Den Plan, eine Pfarrstelle im Berliner Osten anzutreten, konnte er sich unter diesen Umständen natürlich abschminken.
Stattdessen tat sich ein neues Tätigkeitsfeld auf: Hitlers Versuche, die evangelischen Kirche gleichzuschalten, führten zur Konstitution der Bekennenden Kirche. Bonhoeffer nutzt die Situation, indem er diese heterogene Protestbewegung sammelt und zu einer Abspaltung von der rettungslos opportunistischen Staatskirche zu bewegen versucht. Er hofft, mit diesen Leuten seine Ideen von einer erneuerten Glaubensgemeinschaft realisieren zu können und übernimmt die Leitung eines Priesterseminars für die Bekenntnisbewegung. Fortan pendelt er zwischen Berlin, wo er an der Uni lehrt und bei den Eltern wohnt, und Finkenwalde bei Stettin, wo er im Seminar seine Praxis- und Gemeinschaftssehnsüchte lebt.
Ende 1935 werden die Seminare der Bekennenden Kirche dann offiziell verboten. Bonhoeffer muss sich aus der Bürgerlichkeit (die für ihn Berlin heißt) lösen. Er verliert den Job an der Uni und trennt sich von seiner Freundin, will nur noch für Finkenwalde leben. Schließlich haben seine Seminaristen auch keine Chance auf ein solches bürgerliches Leben: Sie werden später, wenn überhaupt, nur als schlecht bezahlte „Hilfsprediger“ eine Stelle finden. Aber so wie sie nicht ins bürgerliche Leben hinein finden, so findet Bonhoeffer nicht heraus: Er pendelt weiter zwischen Berlin und Finkenwalde. Nur die Uni ist endgültig verloren – und natürlich Edith Zinn.
Bonhoeffer schafft sich als Ersatz für die geplante offizielle Verbindung (ob nun Verlobung oder schon Hochzeit, darüber schweigen sich die Biografen aus) einen Mini-Männerbund in Finkenwalde, dessen Kern er und sein bester Freund Eberhard Bethge darstellen. Dieser „Bruderrat“ soll mit den wechselnden Seminaristen eine Kontinuität des Lebens im Glauben einüben, ganz nach den zuvor von Bonhoeffer entwickelten Ideen über die christliche Gemeinde.
Natürlich hat dieses Projekt eine gewisse Künstlichkeit, schon allein wegen des völligen Fehlens von Frauen, aber natürlich auch in seiner Isoliertheit von der gesellschaftlichen Realität im Lande. Während in Finkenwalde ein Handvoll junger Männer ein unabhängiges Christentum lebt, dreht die nazifizierte Kirchenleitung in mühevoller Kleinarbeit, aber äußerst erfolgreich ein Leitungsmitglied der Bekennenden Kirche nach dem anderen um und integriert es in die gleichgeschaltete Staatskirche. Gleichzeitig laufen die bekannten Diskriminierungsaktionen gegen die Juden und die immer offene Vorbereitung des Krieges.
Bonhoeffer, der auf keinen Fall in den näher rückenden Krieg ziehen will, gibt auf und plant seine Emigration in die USA, die er vor sich selbst als Studienreise mit diffusem Ziel tarnt. Erst in New York begreift er, dass er bereits emigriert ist, dass er seine Familie in Berlin und seine Zweitfamilie in Finkenwalde auf Jahre nicht wiedersehen wird. Das hält er nicht aus und kehrt um. Es ist der Sommer 1939.
Zurück in Deutschland fährt er erstmal mit seinem Seminar an die Ostsee baden. Dann kommt mit dem Angriff auf Polen der Krieg. Finkenwalde liegt direkt im Kampfgebiet, das Semester kann nicht beginnen. Kurz darauf versiegelt die Gestapo das Haus in Finkenwalde. Die ersten Seminaristen werden eingezogen. Das Projekt ist gestorben.
Aber für den Chef ergibt sich eine neue Perspektive. Sein Schwager, Hans von Dohnanyi, arbeitet für den Geheimdienst der Wehrmacht und wirbt ihn als Agenten, zunächst um ihn vor einer möglichen Einberufung zu retten. Bonhoeffer weiß zu diesem Zeitpunkt schon, dass der Dienst im Geheimen gegen Hitler konspiriert, sein Schwager ist der Kern der Verschwörung. Natürlich tut er bei dieser Aktion mit, so gut er kann. So wie der Bruderrat ein Ersatz für die Ehe war, so ist die Verschwörung der Ersatz für den Bruderrat. Am Ende stehen die Verhaftung im Jahr 1943 und der Tod als Märtyrer.
Also, ich finde, das war einfach nicht Bonhoeffers Sache, diese Verschwörung, das war die Sache seiner Schwager und ihrer Kollegen – die nämlich, anders als der bekennende Pfarrer, in verantwortlichen Stellen des Staates saßen und ihrer Verantwortung weiter nachkamen, als die Politik ihres Staates ins Unverantwortliche abglitt. Natürlich ist es ehrenhaft, was Bonhoeffer getan hat, als er unter Einsatz seines Lebens dieses Projekt unterstützte – nur seiner Idee, der Idee eines gelebten Christseins, lief sie eigentlich zuwider, wie schon, wenn man ganz ehrlich ist, das Projekt seines privaten Finkenwalder Bruderrates.
Dass da irgendwas verkehrt gelaufen ist, das erweist sich meines Erachtens am Beziehungsproblem: Von seiner wirklichen Partnerin trennt er sich aus altmodischen bürgerlichen Rücksichten (die sie nicht einmal geteilt hätte – wie Renate Wind recherchiert hat) à la „Ich kann ihr keine Sicherheit bieten.“ Stattdessen verbindet er sich Jahre später als über 40-Jähriger aufs Konservativste (vorherige Absprache mit der Brautmutter) mit der 18-jährigen Tochter eines Bekannten.
Nein, die Flucht in die spätpubertäre Männergemeinschaft in Finkenwalde kann ebenso wenig eine wirkliche christliche Gemeinschaft ersetzen wie die Flucht ins Politikspiel der erwachsenen Männergesellschaft. Bonhoeffer hätte heiraten sollen, und zwar seine ebenbürtige Partnerin. Ohne die Ambivalenz geschlechtlicher Beziehung (wie auch immer diese organisiert sein mag) ist das doch alles nichts wert.

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Sonntag, 19. Juni 2011
Wann ist eine dokumentarische Collage authentisch?
In der Neuen Zürcher Zeitung von gestern (18.6.) erklärt Pepe Danquart seine künstlerische Haltung. Auf die Kritik, sein Joschka-Fischer-Film lasse eine kritische Distanz vermissen, meint er, „das sei keine Biografie, schon gar keine journalistisch aufbereitete, sondern ein Stück Zeitgeschichte, mit einem charismatischen Erzähler.“ Ein interessantes Argumentationsmuster, besonders für einen Linken.
Ein Dokumentarfilm darf also auf kritische Distanz verzichten, ja, er muss es sogar, wenn er zum Kern der Sache, der „Zeitgeschichte“, vordringen will. Wenn der Regisseur des Films seinen eigenen Kopf verwendet, dann ist das „journalistische Aufbereitung“, eine künstliche Zugabe, die den Blick auf das Wesentliche verstellt. Echtheit garantiert der „charismatische Erzähler“, der damals dabei gewesen ist. Dessen Sicht der Dinge darf der Regisseur blind folgen; sie ist akzeptabel, weil sie charismatisch ist – mit anderen Worten: weil sie funktioniert.
Diese Haltung hat aber, so finde ich, zur notwendigen Folge, dass die Wahrheit des Films eine Spielfilm-Wahrheit, eine fiktionale Wahrheit, ist. Das ist an sich nichts Verkehrtes. Nur: Eine subjektive Erzählung als „Zeitgeschichte“ zu verkaufen – das finde ich unehrlich.
Wie aber anders? Dafür habe ich kürzlich im Fernsehen ein großartiges Beispiel gesehen: „Heinz und Fred“, einen Film über ein merkwürdiges Vater-Sohn-Verhältnis auf dem Lande in Thüringen. Auch dieser Film wurde im Fernsehen als Dokumentarfilm annonciert – er begann aber damit, dass die ersten dokumentarischen Bilder mit einem Off-Erzähler unterlegt wurden, der – in tiefsten Thüringisch – eine märchenhafte Einleitung sprach und damit alles Folgende deutlich als Märchen kennzeichnete. Auch später strukturierte dieser Märchen-Erzähler die Geschichte. Der Zuschauer wusste Bescheid, dass die Handlung vom Regisseur ausgedacht, wenn auch aus echtem Dokumentarmaterial montiert worden war. Und daher war ich gar nicht böse, als ich merkte, dass dieser offenbar ganze Lebensbereiche aus dem Familienportrait ausgespart (oder erst an dramaturgisch effektvoller Stelle eingesetzt) hat, dass er Szenen chronologisch umgestellt, dass er aus seinem Material eine Geschichte gebastelt hat, so wie das heutzutage alle – von Guido Knopp bis Heinrich Breloer – so tun in ihren unsäglichen Dokumentarspielen. Nur: Er ist von Anfang an als Interpret präsent, er bietet uns seine Sicht der Dinge an – und das ist ein ehrliches Angebot. Das kann ich annehmen, diese Montage ist echt.

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Donnerstag, 26. Mai 2011
Aus gegebenem Anlass: Lesetipp Hans Fallada
Beim Aufbau-Verlag ist eine „vollständige“ Ausgabe von „Jeder stirbt für sich allein“ erschienen. Das Beiwort verspricht so eine Art Directors-Cut-Atmosphäre, obwohl ich glaube, dass der Schein trügt. Aber das ist vermutlich noch gar nicht der „gegebene Anlass“. Vielmehr scheint es eine Neu-Übersetzung desselben Romans ins Englische zu sein, die zum Bestseller wurde und so dazu führte, dass man sich auch im deutschen Sprachraum Hans Falladas erinnert. Nun, auf diese Aufmerksamkeitswelle möchte ich aufspringen.
Meine letzte Fallada-Lektüre ist ein paar Jahre her. Auf dem Bücherflohmarkt der örtlichen Gemeinde fiel mir ein Taschenbuch mit kurzen Fallada-Erzählungen in die Hände. Und diese Texte waren großartig: einfach, aber intensiv erzählt, realititätsnah, nachdenklich machend. Ich habe dann die „Geschichten aus der Murkelei“ zu Gute-Nacht-Geschichten für meinen Sohn gemacht mit großem Erfolg und mir auch ein paar Fallada-Romane vorgenommen: zunächst einmal „Kleiner Mann, was nun?“, das ich schonmal als Jugendlicher gelesen hatte, dann „Bauern, Bonzen, Bomben“ (weil das meine Mutter immer empfiehlt) und endlich “Wir hatten mal ein Kind“. So richtig überzeugt hat mich keiner der Romane, so dass Nr. 4 meiner Liste, „Der Trinker“, ungelesen liegen blieb.
Aber alle drei Bücher waren nur so halb gut: In „Wir hatten mal ein Kind“, das ich als Ganzes gesehen etwas sentimental fand, gibt es viele wunderbare Einzelepisoden. In „Kleiner Mann, was nun?“ finde ich den Beginn, die pommersche Kleinstadt-Atmosphäre, sehr gut getroffen. Und in „Bauern, Bonzen, Bomben“ hat mich weniger das historisch sicher interessante Thema (eine Revolte von rechts) berührt (anders als Göbbels, der davon begeistert war), sondern viel mehr das alter ego des Autors, das sich als arme, aufrecht sich bemühende, aber moralisch etwas zweifelhafte Person durchs Leben müht und natürlich genau dort scheitert, wo sie glaubt, das große Los gezogen zu haben. Ab dem Moment, wo sie stirbt, hatte mir das Buch nichts mehr zu sagen.
Also, was ich toll finde an Fallada, das ist sein Grundthema: das Elend des kleinen Mannes, das gar nicht in seiner Armut besteht, sondern in der gemeinen Tatsache, dass seine moralische Standfestigkeit viel leichter in Versuchung gerät als die des saturierten Normalbürgers . Und dieses Thema lässt sich vermutlich viel intensiver in kleinen Skizzen darstellen als in großen Romanen. Lesen Sie mal „Länge der Leidenschaft“ (eine Geschichte über die Liebe einer jungen Frau zu einem Betrüger) oder „Schmuggler und Gendarm“ (über einen vitalen Ganoven und eine arme Wurst von einem Gendarmen).
Oder machen Sie`s wie ich: Lesen Sie eine Fallada-Biografie. Wenn es eine gute ist wie die hier, werden Sie gerührt sein. Falladas Leben hat Romanqualitäten, und er war selbst dieser immer wieder strauchelnde kleine Mann: Er kam von oben (sein Vater war Richter am Reichsgericht), fiel nach ganz unten (Schießerei, Drogen, Betrügereien und Gefängnis), rappelte sich einigermaßen auf (fand eine robuste Frau aus dem Arbeitermilieu und sogar einen wohlwollenden Lektor – Rowohlt), aber blieb zeitlebens versucht vom Bösen (glaubte z.B. , Goebbels überlisten zu können, was natürlich schief ging), konnte von den Drogen nicht lassen (vielleicht auch dadurch erwarb er sich die Verehrung Johannes R. Bechers, der ebenso wie Fallada durch Drogen aus seiner großbürgerlichen Existenz gestürzt war einst und Fallada an seinem Lebensende vor den Karren der sowjetischen Kulturpolitik spannte).
Merkwürdig, dass es nun gerade dieses, vom späteren DDR-Kulturminister Becher in Auftrag gegebene, Buch ist, das nun zum Besteller wird: „Jeder stirbt für sich allein“. Ich werd es nicht nochmal lesen. Fallada hat Wichtigeres zu sagen als getreuliche Nazi-Aufarbeitung. Ich probiere es demnächst mit dem „Trinker“, der schon zum Lesen auf meinem Nachttisch bereit liegt. Und ich werde Ihnen berichten, ob sich meine Hoffnung erfüllt, dass er es nun endlich ist, der lang gesuchte, richtig gute Fallada-Roman.

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Mittwoch, 16. März 2011
Warum ist das, was schrecklich ist, eigentlich immer besonders spannend? (Rezension meiner aktuellen Lektüren)
Das fragte gestern mein Sohn, der die Frühjahrsferien bei seinen politikbegeisterten Großeltern verbringt und zu jeder Mahlzeit von diesen ehrlich entsetzte Kommentare zur jeweils aktuellen Weltkatastrophe erhält. Ja, warum eigentlich? Warum ist der Freiheitswillen des lybischen Volkes gestern ein Grund, gebannt auf den Fernsehschirm zu starren, aber heute explodiert ein Atomkraftwerk in Japan und Lybien ist vergessen? Meine Eltern würden hier sicher widersprechen, natürlich sind ihre Gedanken „auf Seite 2“ immer noch bei Lybien – und bei den Palästinensern sowieso, wo schon wieder illegale Häuser errichtet werden. Aber das blanke Entsetzen, das immer da ist, das kann immer nur an einem Ort sein, und das ist eben im Moment Japan.
Zum Glück funktioniert Literatur nicht immer so – und damit wäre ich bei der Besprechung meiner derzeitigen Lektüren. Ich hatte mir nämlich letztes Jahr anhand des Feuilletons ein paar Wunschbücher zusammengesucht und mich dann zu Weihnachten beschenken lassen. Da ich derzeit nur abends im Bett ein paar Minuten zum Lesen komme, gehörten der Januar und der Februar vollständig Melinda Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“, dem autobiografisch gefärbten Roman über zwei ungarisch-stämmige Schwestern aus der jugoslawischen Vojvodina, die als Kinder mit ihren Eltern in die Schweiz auswandern, den Jugoslawien-Krieg nur noch von außen, als Entronnene, durch unsichere Nachrichten aus der verlorenen Heimat, mitbekommen. Da geriet ich am Ende tatsächlich wieder in die oben beschriebene Politik-Falle: Ich ließ mich zwar hinreißen vom ungelenk-schwungvollen Charme des balkanesischen Wortschwalls (der Titel „Tauben fliegen auf“ charakterisiert diesen deutlich), war gerührt von der eindringlichen Darstellung, wie es ist, in der Fremde zu leben (wo ja niemand, auch der nicht der coolste Wirtschaftsflüchtling, als der der Vater der Familie sich gern ausgibt, ganz freiwillig ist) ... Ich ließ mich rühren und blieb dennoch unzufrieden, weil man so rein gar nichts erfährt über die Vorgänge in Jugoslawien – und dann auch noch verspottet wird, weil man das wissen will: „und wahrscheinlich würde Herrn Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, ...“ (S. 241). Dabei hätte die Geschichte durchaus Anlass gegeben, gesellschaftlich konkreter zu werden: Der Cousin der Ich-Erzählerin wird zum Kriegsdienst gezwungen und abgeführt - und verschwindet einfach aus der Geschichte. Das ist realistisch, aber lässt den Leser unbefriedigt. Es bleibt eine Leerstelle.
Vielleicht hängt es auch mit dieser Leerstelle zusammen, dass die Erzählerin sich später in einen offenbar traumatisierten Jungen aus Sarajewo verliebt. Aber auch der erzählt nichts. Verständlich, aber unbefriedigend. Was bleibt, ist das hilflose Mitgefühl der Erzählerin, z. B. gegenüber ihrem Vater: „einen Moment lang schaue ich meinem Vater in die schutzlosen Augen, und ich würde gern einen Trost finden, mein Herz würde ihn gern geben, diesen Trost, jetzt, da mein Vater ein hilfloses Kind ist, aber ich, ich bin auch ein hilfloses Kind, seines, wenigstens das würde ich ihm gern sagen, ich stehe auf, verschwinde rasch in Richtung Toilette.“ (S. 163).
Welche Größe in dieser Selbstbescheidung liegt, in diesem Verzicht, die Schrecklichkeiten alle zu benennen, das begriff ich erst, als ich zum nächsten Buch griff: Sofi Oksanen „Fegefeuer“, Thema: eine andere Menschheitskatastrophe am Rande des russischen Imperiums: Estland zwischen den dreißiger Jahren und heute. Hier wird alles deutlich ausgesprochen, überdeutlich sogar. Jedes Verbrechen, jede Gemeinheit. Selbst die Fliege, die auch das Cover des Buches ziert, fliegt in ausführlich beschriebener Scheußlichkeit durch die Küche der Protagonistin und legt ihre Eier in jedes erreichbare Stückchen Fleisch. Diese Erzähltechnik lässt den Leser in Schockstarre verfallen, gebannt das Geschehen verfolgen. Zumal immer irgendetwas passiert – Spannung garantiert. Aber ehrlich gesagt: Historisch Neues erfährt man trotz Überdeutlichkeit nicht – dass erst die Russen die Esten deportierten, dann die Deutschen die Juden, dass erst die Kommunisten die national gesinnten Esten, dann diese wiederum die Kommunisten verfolgten und dass heutzutage mafiöse Organisationen, die sich teilweise auch aus ehemaligen KGB-Leuten rekrutieren, den Menschenhandel von Russinnen zur Prostitution nach Deutschland organisieren, das ist eigentlich schon bekannt. Das Wie hätte mich interessiert. Aber Psychologie ist nicht die Sache der Autorin. Das ärgert mich. Und dennoch: Ich bin erst bei der Hälfte, ich werde weiterlesen, wahrscheinlich sogar schneller als Nadj Abonji. So funktioniert es eben, das Geschäft mit dem Schrecken.

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Sonntag, 31. Oktober 2010
Der Kongo als Kriegsschauplatz – TV-Drama mit Jörg Schüttauf
Neulich kam ein TV-Drama mit dem Titel „Kongo“. Es sollte um den Bundeswehreinsatz 2006 dort gehen, „TV Spielfilm“ war begeistert und irgendeinen Filmpreis gab es auch. Ich war neugierig (dass die Bundeswehr im Kongo war, hatte ich gar nicht mitgekriegt – 2006 hatte ich grad andere Probleme als regelmäßig die Nachrichten zu verfolgen). Ich nahm den Film auf und kam vor ein paar Tagen endlich dazu, ihn zu gucken.
Über den Kongo war aber leider nichts zu erfahren, was über das banalste Stammtischwissen hinausgeht. Natürlich hatte man irgendwo einen Kurzdialog über den kongolesischen Rohstoffreichtum im Dienste der 1. Welt in das Drehbuch montiert, ebenso wie ein paar Hinweise auf mystisches Denken bei den Eingeborenen, die wohl Lokalkolorit und Rückständigkeit andeuten sollten. Der Kommandeur der Truppe ließ auch einen vagen Halbsatz über den Grund für den Einsatz fallen. Relevanz für die Handlung hatte das alles nicht. Für die waren bloß die Kindersoldaten und Rebellen wichtig, da ja in einem TV-Drama immer irgendjemand den Part des Bösen übernehmen muss.
Überhaupt die Handlung: durchaus fesselnd, aber nach Schema F gestrickt – ein Selbstmord, dessen Hintergründe vertuscht werden, eine Ermittlerin als Heldin (jung, hübsch, Oberleutnant), ihre Gegenspieler zwei Machos, von denen der eine den guten und der andere den bösen Bullen darstellt, am Ende scheitert die Idealistin tragisch und der böse Bulle mindert seine Schuld, indem er mit männlich-entschiedenem Einsatz das Schlimmste verhindert. Afrika, sofern es außerhalb des Militärlagers existierte, bildete den passenden Hintergrund aus Naturschönheit und armen Opfern (teilweise bemitleidenswert, teilweise gefährlich verstrickt, in jedem Fall aber: fremd, nicht vertrauenswürdig).
Ich, der etwas über den Kongo und, was die Deutschen dort so getrieben haben, erfahren wollte, war enttäuscht: Das Ganze hätte genauso gut in Afghanistan oder sonstwo spielen können, der Schauplatz inklusive einheimischer Bevölkerung war völlig austauschbar. Wenn irgendetwas echt war an der Geschichte, dann die Nöte der Soldaten, die in eine fremde, feindliche Umgebung und in einen Konflikt, den sie nicht verstehen, geworfen werden. Und tatsächlich – als ich nachgoogelte, erfuhr ich, dass sich der Plot an Motiven „am Hindukusch“ passierter Vorfälle orientiert.
Aber auch, was den Kongo betrifft, wurde ich im Internet fündig. Schon die Erlebnisse von Frau damenwahl hatten in mir ja – wie bei Herrn Stubenzweig – die Frage ausgelöst, was da eigentlich los ist. Eine mir einleuchtende Darstellung der Situation fand ich hier, und die hat mich schwer beeindruckt: Ich erfuhr, dass die heutigen Konflikte nicht nur Nachwehen eines besonders schlimmen Kolonialzeit waren, auch nicht nur Folgen des Mordes am ersten Präsidenten des unabhängigen Kongo durch belgische Söldner oder der darauf folgenden Diktatur durch Mobutu (einer echten Pinochet-Saddam-Figur von US-Gnaden), sondern dass auch im Jahr 2000 wieder ein kongolesischer Präsident durch westliche Geheimnisdienste ermordet wurde. Und dass der besagte Bundeswehreinsatz dazu diente, die Wahl des aktuellen Frankreich-Lieblings abzusichern. Die Führung dieses Militäreinsatzes wollte halt Frankreich aus Prestige-Gründen nicht schon wieder übernehmen - und Deutschland war grade scharf darauf, seine Auslandstruppen international zu etablieren.
So betrachtet war die Entscheidung des Drehbuchautors, die Geschichte im Kongo anzusiedeln, gar nicht schlecht: Wenn er weg wollte von der politisch aufgeheizten Tagesdiskussion um Afghanistan, wenn es darum ging, das Publikum daran zu gewöhnen, dass deutsche Soldaten in x-beliebige Länder der 3. Welt geschickt werden, in Konflikte, von denen sie keine Ahnung haben und auch nicht haben sollen, dann waren die Schauplatzwahl Kongo und das Ausblenden jeglicher gesellschaftlicher Hintergründe sicher eine gute Wahl: einfach professionell. Es gibt nämlich einen Grad an Professionalität, der Volksverdummung gleichkommt.

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Samstag, 26. Juni 2010
Vor 65 Jahren war der Krieg vorbei - kleine Gedenkrezension, Teil 2: Darf eine „Anonyma“ anonym bleiben und wer hindert sie eigentlich daran?
Ich weiß, ich bin mal wieder zu spät: Der Gedenktag ist lang vorbei, meine erste Rezension zm Thema "Kriegsende" hab ich auch schon vor einem Monat geschrieben; ich referiere eine Debatte aus dem Jahr 2004 und auch die unvermeidliche Verfilmung der "Anonyma" ist schon nicht mehr ganz aktuell. Aber ich gehe davon, dass sich meine Leser (seid gegrüßt, Ihr 5 -6 Getreuen!) dennoch an meinem Text erfreuen. Er ist das Ergebnis der Tatsache, dass ich letzte Woche ein bisschen Zeit und Muße hatte, um mal dem Tipp von K.Modick nachzugehen, dass es mit der Authentizität des Textes nicht allzu weit her sei.
Das Internet ist ja herrlich, es gab mir prompt einige Auskünfte, und danach stellt sich die Sache so dar: Eine Journalistin erlebt das Kriegende in Berlin, und das war für eine junge Frau ein grausiges Erlebnis, wie wir heute wissen. Sie notiert die Geschehnisse in einem Tagebuch, also für sich. Das Tagebuch zur Veröffentlichung freizugeben, dazu überredet sie zehn Jahre später ein guter Freund. Dieser Freund, ebenfalls Journalist, hat sich in den Kriegsjahren als propagandistischer Kriegsberichterstatter hervorgetan, es gelang ihm aber, nach dem Krieg eine zweite Karriere als Autor und Rowohlt-Lektor aufzubauen. Der Freund übernimmt das Manuskript (und überarbeitet es?), zunächst für eine amerikanische Ausgabe. Offenbar hat er – wie schon in den vierziger Jahren – einen guten Riecher für erfolgversprechende Trends: In den USA der 50er Jahre lassen sich russische Vergewaltiger gut verkaufen. Das Buch wird ein Erfolg. Davon angespornt bereitet der Mann auch eine deutsche Ausgabe vor. Diese aber floppt: In Deutschland ist Schweigen über die Vergangenheit angesagt. Hier haben einige einiges zu vertuschen, und damit das nicht so auffällt, schweigt man überhaupt, über Täter ebenso wie über Opfer. Und über Frauen sowieso.
Das Blatt wendet sich ein paar Jahrzehnte später. Die Kriegsgeneration ist alt, Lebensrückschau, sentimentales Erinnern angesagt. Diesmal ist es H. M. Enzensberger, der den guten Riecher hat: Er veranstaltet in seiner „Anderen Bibliothek“ (im Eichborn-Verlag) eine Neuausgabe des Buches – ein Riesenerfolg. Ob und inwiefern der Text nachbearbeitet oder nicht ganz echt sein könnte, prüft er nicht, wozu auch. Dann erhebt sich aber doch Protest. Jens Bisky weist in der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Nazivergangenheit des Herausgebers hin, Gustav Seibt schließt sich ihm an. Da auch sie nicht wissen, ob bzw. wie authentisch der Text ist, werden sie stark angegriffen. Endlich kommt ein Journalist der ZEIT auf die Idee, die Witwe und Nachlassverwalterin des Herausgebers zu kontaktieren. Zum vereinbarten Treffen mit ihr ist aber ein Mitarbeiter des Eichborn-Verlags anwesend, der den Einblick in das Originalmanuskript verhindert.
Klar, dass das der Verlag nicht auf sich sitzen lassen kann – er bestellt einen Gutachter: Walter Kempowski. Das ist eine gute Wahl, Kempowski hat in derselben Zeit wie die Anonyma ebenfalls genug Schlimmes durch die Russen erlebt, so dass man sich seines Antikommunismus sicher sein kann. Allerdings ist er nicht nur Antikommunist, sondern auch korrekt. So erledigt er erstmal seinen Auftrag und erklärt, dass alle Geschehnisse im Buch authentisch sind und auf den Originialaufzeichnungen basieren. (Daran hat allerdings auch nie jemand gezweifelt, wie J. Güntner in NZZ richtig anmerkt.) Der in knappem Stil gehaltene, teilweise unfertige Text des Tagebuchs wurde später lediglich etwas literarisiert. Auch das ist ja normal. Interessant wäre die Frage, wer hier überarbeitet hat. Kempowski sagt (auftragsgemäß), er hätte keinen Hinweis auf das Eingreifen des Herausgebers finden können. Er sagt aber auch, warum: Es gebe, so hat er erfahren, neben abgetipptem Originalmanuskript und Buchausgabe noch ein drittes Manuskript, über das sich alle Beteiligten ausschweigen.
Fazit: Zwei Frauen (eine Autorin, eine Nachlassverwalterin) und viele Männer, eine schlimmes Schicksal und viele, die damit rumgetrickst haben. Und sicher ist nur eins: Was derzeit über die Leinwände flimmert (und von Max Färberböck sicherlich akkurat in Szene gesetzt wurde), basiert auf einer Literarisierung im Geist der 50er (oder sogar der frühen 40er?) Jahre. Und passt damit hervorragend in unsere Zeit.

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Dienstag, 11. Mai 2010
Vor 65 Jahren war der Krieg vorbei - kleine Gedenkrezension
Sozusagen in Gedenken an das 65 Jahre zurückliegende Kriegsende rezensiere ich (in schwarz-weiß-malerischer Absicht) zwei Texte darüber. Heute geht es um die Erzählung „Ein Kriegsende“ von Siegried Lenz aus dem Jahr 1983., die eher zufällig auf meinen Nachttisch geriet und mich sofort in ihren Bann zog, wenn auch nicht unbedingt im positiven Sinne. In der Geschichte berichtet ein Ich-Erzähler, wie er das Kriegsende auf einem Minensuchboot erlebte. Die Mannschaft fuhr gerade über die Ostsee, um irgendwo im Ostpreußischen Verwundete aufzunehmen (Anfang 1945 ein halsbrecherischer Auftrag, wie man sich denken kann), als die Nachricht von der Kapitulation kommt. Es entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob man die gefährliche Aktion abbrechen kann oder muss, um als Besiegter heimzukehren. Der Kapitän will weiterfahren, der Steuermann nicht und wird von einem auf das Boot strafversetzten Besatzungsmitglied zur Meuterei aufgestachelt. Man kehrt zurück, wird verhaftet, die beiden Aufrührer erschossen. Obwohl der Krieg eigentlich schon vorbei ist.
Das ist eine Geschichte, die ins Innerste militärischer Logik führt: Darf und muss man ab dem Zeitpunkt einer Kapitulation sofort jegliches militärische Handeln unterlassen? Wiegt die Rettung in Ostpreußen festsitzender Kameraden schwerer als das Leben der eigenen Mannschaft? Endlich: Darf die Entscheidung eines militärischen Vorgesetzten angezweifelt werden? Alles unschöne, hässliche, vielleicht notwendige Fragen. Aber es ist schon merkwürdig, wenn angesichts eines Kriegsendes immer noch Fragen des Krieges verhandelt werden und die Sehnsucht nach dem Ende, die Hoffnung, dass bald alles überstanden ist, erzählerisch eher die Rolle des Verführers spielt. Wenn der Strafversetzte vorsichtig negativ gezeichnet wird – im Gegensatz zu Steuermann und Kapitän, die uns als ehrliche Fischer vorgestellt werden, die eben, wenn es sein muss, ihren Dienst tun. Und besonders merkwürdig finde ich diesen Ich-Erzähler, der die Geschehnisse atmosphärisch sensibel beschreibt, in einer ganz unmilitärischen Sprache („Unser Minensucher glitt mit kleiner Fahrt durch den Sund ...“), und sich doch widerstandslos dem Sog dieser militärischen Logik hingibt. Er sieht alles, sagt nichts und hat immer Kopfschmerzen. Das einzige Mal, dass er als Figur in Erscheinung tritt, ist die Stelle, wie er vor dem Militärgericht den verehrten Steuermann zu retten versucht, indem er den ohnehin verlorenen Strafversetzten anschwärzt.
Und das Ganze dann 1983 geschrieben! Über dreißig Jahre nach „Die Mörder sind unter uns“, sogar noch nach der Filbinger-Entlarvung. Da kann doch eine Erzählung nicht mehr so enden: mit dem naiven Entsetzen darüber, dass uns unsere Vorgesetzten so enttäuschen und einfach zwei unserer Kameraden erschießen, obwohl ihre juristische Berechtigung dazu sehr in Frage steht. Das schmeckt mir sehr nach Untertanengeist (à la „ich bin ja ein Schöngeist, aber wenn nun mal Krieg ist ...“). Vielleicht wär ich auch nicht besser, ich erinner mich gut, wie stolz ich auf die Beherrschung der bescheuerten Kanone war, an die man mich mit 18 zwang. Aber schön ist das trotzdem nicht.

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