Donnerstag, 4. April 2013
Osterüberraschung


Damit der nörgelige Beitrag über das Fernsehen nicht ewig hier als Startbeitrag stehen bleibt, berichte ich schnell von einem Glücksmoment.
Wir waren Ostern bei der Schwiegerfamilie. Und da die Leute eine Buchhandlung betreiben, liegen auf dem Couchtisch immer diverse Neuerscheinungen umher, die meine Schwägerin an- oder durchliest, damit sie immer mal einen neuen Lesetipp ins Schaufenster hängen kann. Dieser Tisch zog mich wieder wie magisch an. Und als nach dem Ostereiersuchen im Schnee und dem langen Familienfrühstück die Truppe loszog, weil der Hund raus musste, die Erwachsenen eine Tante besuchen und die Kinder weitere Schneeballschlachten veranstalten wollten, da durfte ich mich ausklinken und bei einer Schale Erdnussflips ein paar Stunden lang schmökern.
Zuerst fiel mein Blick auf „Westschrippe“, wegen des markanten Titels. Thema: eine Kindheit im Zonenrandgebiet der siebziger-achtziger Jahre, autobiographisch. Da dachte ich nach einer Seite schon: Wie banal! Las dann aber doch weiter. Denn Lebensgeschichten sind immer interessant und informativ („Ich hab keine Zeit mehr für Romane, ich les nur noch Biografien.“, meinte der Schriftsteller-Archivar Walter Kempowski an seinem Lebensende), da können sie ruhig banal sein. Ich hab jedenfalls einiges gelernt über die westdeutsche Einfamilienhauskultur zwischen Stromkonzern und Friedensbewegung. Unreflektiert und authentisch - ich mag das (ein bisschen wie "Titos Brille", nur eben nicht jüdisch-jugoslawisch überdreht, sondern hessisch-provinziell trocken).
Richtig gepackt hat mich aber erst das nächste Buch: „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ von Tayie Selasi. Herrlich prätentiöser Titel (ganz im Gegensatz übrigens zum cool-knappen Originaltitel „Ghana must go“), und gleich die erste Szene präsentiert einen Todesfall unter gleißender ghanaischer Sonne und das psychologische Rätsel, das sich dahinter verbirgt. Und so geht es weiter: eindringlich, farbig, fast schon plakativ an der Oberfläche des Geschehens, sensibel, klug, oft jeanpaulhaft sich selbst korrigierend oder abschweifend auf der Ebene der eingestreuten Reflexionen: „Kwaku weiß – während er dasteht, in seinem Unterhemd und seiner MC Hammer-Hose, die Schulter an die halb offene Schiebetür gelehnt, während er tiefer in den Traum gleitet, in die Erinnerung und in andere Gefühle dieser Art (Bedauern, Reue, Ärger, Umwertung) - , dass er stirbt. Er weiß es. Aber er merkt es nicht.“
Ich bin begeistert und ich hoffe, meine Begeisterung hält sich. Ich werde berichten.

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Die gute alte Ostschrippe wurde durch den Mauerfall weggepustet und so ist dieses krümelige Aufbackbrötchen in ihren Augen automatisch eine »Westschrippe«.
Westschrippe ist paradox. Im Westen gibt es ja gar keine Schrippe, in West-Berlin schon, aber so richtig Westen ist West-Berlin eben nie gewesen.


Der Witz an der Sache ist, dass es im Westen auch außerhalb West-Berlins sehr wohl Schrippen gab (sie waren länglich). Nur haben die damals eben auch anders geschmeckt als heute, genau wie die anderen Brötchen.

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Interessant. (In welcher westdeutschen Gegend denn, wenn ich fragen darf? Oder sogar überregional?) Auch ich (als sächsich Sprachsozialisierter) hatte die Mär von der "Ostschrippe" für eine regionale Berliner Angelegenheit und also für einen Nachklang des alten DDR-Hauptstadt-Dünkels gehalten. Ihr Hinweis zeigt, dass das Aufrechnen der Regionen gegeneinander wohl nicht nur politisch, sondern auch sprachlich wenig Sinn ergibt.
Um noch eins draufzusetzen: Mir war die Geschichte der Hessin spannend zu lesen, Autorin und Personen blieben mir aber fremd. Die Londonerin mit ghanaischen Wurzeln dagegen empfand anhand ihres Schreibens dagegen sofort als mir sehr nahe. Der Spaß an ihrem Roman rührt auch von der Freude her, dass "eine von uns" auch dort oben in der Bestsellerwelt für eine Sache streitet, die ich als Heimat empfinde: "Home is where yor heart is."

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Im Rhein-Main-Gebiet - also auch Hessen. :-)
Die Schrippe war nur eine von mehreren verschiedenen Sorten Brötchen, wobei die damalige Westschrippe nicht ganz so kompakt war wie die Ostschrippe, aber eben auch nicht so ein krümeliges Nichts wie diese aufgebackenen Teiglinge heute.

Die Nummer mit der Ostschrippe kenne ich aber auch. Wurde mir auch schon vorgehalten - als wäre das meine Schuld. Ich kenne das Buch nicht, weiß daher nicht, wie die Autorin in der Provinz aufwuchs. Zonenrandgebiet war doch am Ende der Welt, dort, wo wirklich gar nix los war. Außer vielleicht "The Fulda Gap". Im Rhein-Main-Gebiet lebte man dafür in der Gewissheit, im Falle eines Atomkriegs wenigstens sofort tot zu sein, lagen dort doch Ziele von SS20-Raketen (aka РСД-10 Пионер).

Vielleicht ist die Engländerin auch einfach die bessere Autorin von den beiden oder/und hat die interessantere Geschichte zu erzählen.

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