Sonntag, 2. September 2012
Endlich gesehen: „Das weiße Band“
Nun habe ich mich doch noch überreden lassen, „Das weiße Band“ zu sehen. Jetzt kann ich mich nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass der Film gut ist, jedenfalls qualitativ: Er funktioniert als Film, reißt den Zuschauer mit und ist in sich stimmig bis ins letzte Detail. Und als ostdeutscher Bildungsbürger hatte ich auch kein Problem mit der übermetaphorisierten, überstilisierten Bildsprache. Das kann man machen. Warum nicht?
Und Haneke macht es, in einer atemberaubenden Konsequenz und Gnadenlosigkeit. Er führt den Zuschauer in ein norddeutsches Dorf der Zeit um 1900, das er samt menschlichem Inventar so korrekt und exakt ausstaffiert, dass es einem kalt den Rücken runterläuft: kein Stäubchen in den Bauernstuben, nicht das kleinste Unkraut auf der Dorfstraße - unsere hiesigen Museumsdörfer sind das blühende Leben im Vergleich dazu. Schon in den neunziger Jahren hat ja Haneke Kafkas herrlichen Roman „Das Schloss“ so steif und humorlos verfilmt, dass ich mir das damals im Fernsehen nicht zuende angeguckt habe. Daran knüpft er jetzt an.
Wieder ist es also ein ideal unterdrücktes Dorf, dessen männliche Repräsentanten ein brutales autoritäres Regiment aufrechterhalten. Nur gibt es diesmal Widerstand, und der ist das Thema des Films. Immer wieder geschehen Racheakte aus dem Untergrund, deren Brutalität der der offiziellen Unterdrücker in nichts nachsteht. Leider erschöpft sich darin auch schon die Logik des Films. Unterdrückte dürfen bei Haneke demütig erdulden oder irrational aufbegehren. Andere Lebensregungen sind nicht vorgesehen.
Und weil die Unterdrückten so eindimensional dargestellt werden, fühlt der Zuschauer auch nicht mit ihnen. Was dagegen subtil inszeniert wird, das ist die Angst der Herrschenden vor einer möglichen Renitenz der Untertanen. Im Zentrum des Films steht der Dorfpfarrer, der von Anfang an ahnt, dass seine Kinder zu den Tätern gehören. Auch der Zuschauer weiß es am Anfang noch nicht, sondern ahnt es nur. Er fühlt das Grauen des Pfarrers mit, er stellt sich dessen bange Frage: Können Kinder so grausam sein? Und er wird am Ende natürlich bestätigt.
Das letzte, schlimmste Attentat der Kinder zielt übrigens nicht auf einen Täter, sondern auf ein Opfer: Ein behindertes Kind, Kalli, wird halt tot geschlagen, weil es unehelich ist und den Tätern somit als ein Symbol der Verkommenheit des Systems gilt, so jedenfalls verkündet es das Bekennerschreiben. Spätestens hier muss man an die Nazis denken (wie es viele Kritiker ja auch getan haben), an die Euthanasie oder an die Beweggründe der NSU-Täter. „Die Pfarrerstochter sieht doch schon aus wie so eine KZ-Aufseherin.“, meinte Mitgucker T. ganz richtig.
Und da hört sich für mich alles auf: Der Pfarrer-Patriarch hat also nach der Logik des Films eigentlich Recht (auch wenn er ideologisch irregeleitete Maßnahmen ergreift). Die vornehmlich weibliche leidende Bevölkerung (für die wieder Susanne Lothar ihre Kulleraugen hinhalten muss) ist im Grunde verachtenswert. Der vitale Widerstand der Kinder nötigt uns dagegen Respekt ab, führt aber in unkontrollierten Naziterror, einen Terror, der am Ende ungesühnt bleiben muss, weil sonst das System ins Wanken käme.
Damit folgt der Film einer konservativen, letztendlich menschenverachtenden Herrschaftslogik. Natürlich kann man so denken. Man kann auch bombenbastelnde V-Leute bezahlen, um den irrationalen Terror der Jugend wieder ins patriarchale System einzubauen.
Ich halte es für ein schlimmes Zeichen, dass „Das weiße Band“ den Deutschen Filmpreis 2009 ausgerechnet gegen „Alle anderen“ gewonnen hat. Auch „Alle anderen“ thematisiert die Unentrinnbarkeit des patriarchalen Systems. Aber er zeigt, wie individuelle Menschen darin einen gangbaren Weg suchen, vielleicht scheitern, vielleicht fündig werden, das ist gar nicht der Punkt. Wenn diese Suche überhaupt aussichtslos ist, wie „Das weiße Band“ behauptet, dann ... ja, dann hätte man ja nur die Wahl zwischen NSU oder CDU. Und so trostlos ist Deutschland nun auch wieder nicht. Und auch nie gewesen.

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Ich glaube, du hast den Film nicht richtig verstanden. Wenn ich mich recht erinnere (ich habe den Film vor Jahren gesehen) begehen die Kinder lauter sadistische Quälereien an Tieren und Menschen und werden als Opfer des brutalen, patriarchalen Systems dargestellt. Sie sind von der Gesellschaft zu dem gemacht worden, was sie sind. Nix "vitaler Widerstand".

Und ein Film ist erstmal ein Kunstwerk und muss überhaupt nichts, also auch keinen Ausweg zeigen.

Der Pfarrer fragt sich auch nicht bange, ob Kinder so grausam sein können, er ist ja eine Ursache der Grausamkeit der Kinder durch sein Verhalten. Ich fühlte auch durchaus mit den Kindern mit, wenn beispielsweise der Junge ans Bett gefesselt wird.

Es ist interessant, wie unterschiedlich man Filme sehen kann. Bei einem Hanneke wäre ich aber mit solch vernichtenden Urteilen vorsichtig, der Mann versteht was von Filmen.

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Mir ist schon klar, dass der Film vor allem anklagen will. Ich fragte mich nur, warum das nicht funktioniert, bei mir jedenfalls nicht. An der fehlenden künstlerischen Qualität, das erwähnte ich ja, kanns nicht liegen - der Film war so reich an klugen Details, man kann das halt in einem kurzen Blogpost nicht alles erwähnen.
Mir fiel dann eben auf, dass der Film die Dinge aus dem Blickwinkel der Herrschenden betrachtet - ganz ausdrücklich sogar: Er setzt ja den Lehrer als Erzähler ein, der sich zwar persönlich aller Brutalität enthält, aber doch eindeutig zu den Unterdrückern gehört (die Szene, in der er mit seiner Verlobten in den Wald abbiegen will, demonstriert das deutlich). Entsprechend differenziert ist dann auch die Figur des Pfarrers geschildert, der natürlich in erster Linie als Täter angeklagt wird, es wird aber auch gezeigt, dass er (aus seiner Sicht heraus) etwas Gutes will: Er spürt das Abrutschen seiner Kinder in die Gewalt und will dagegen einschreiten - mit völlig idiotischen Mitteln eben und ohne zu ahnen, dass er selbst die Ursache des übels ist, das er zu bekämpfen glaubt.
Der arme Sohn dagegen, der da ans Bett gefesselt wird - das ist eine quälende Szene - aber wir sehen von außen, wie ein Mensch gequält wird, wer dieser Mensch ist, dafür interessiert sich der Film nicht.
Eigentlich logisch: Der Film interessiert sich ausschließlich für die Strukturen der Gewalt, und daher interessiert er sich für die Täter. Dass damit eine Faszination an Gewalt und Tätern einhergeht, mag überinterpretiert sein, ich empfinde es aber so.
Ich kritisiere nicht den Film als Kunstwerk, ich kritisiere die system- und gewaltfixierte Haltung, aus der er entstand.

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Und weil die Unterdrückten so eindimensional dargestellt werden, fühlt der Zuschauer auch nicht mit ihnen

Ich habe durchaus mit den Kindern mitgefühlt, gerade die Szene, in der der Dorfpfarrer seinen Sohn Masturbation als etwas Teuflisches schildert und bei ihm damit die Qualen der Angst und des Schrecken vor sich selbst auslöst, ist ungemein grausam und löst Mitleid mit dem Kind und nicht mit dem Vater aus.

Der Pfarrer-Patriarch hat also nach der Logik des Films eigentlich Recht Ich glaube nicht, dass dies die Logik des Films ist. Vielmehr wird meines Erachtens in dem Film die verheerende Konsequenz der rabenschwarzen Pädagogik offengelegt, die ein Kind seelisch verkrüppelt und zu jemandem macht, der nach oben duckt und nach unten tritt. Recht hat der Pfarrer allenfalls in seiner eigentlichen Absicht, nämlich seinen Kindern moralische Grundsätze beizubringen. Das ist ja gerade das Unheimliche und sehr Bedrückende an dem Film, dass sich eine für sich genommen moralische Absicht ins genaue Gegenteil verkehrt, denn die Mittel, mit denen Moral geschaffen werden soll, sind menschenverachtend und menschenunwürdig. Der Pfarrer hat in der Umsetzung seines Ziels einer Moral schaffenden Erziehung durch und durch Unrecht.

Ein Film enthält meist nie alle Facetten der menschlichen Persönlichkeit. Hier wird ein Mikrokosmos gezeigt, in dem die Gewalt sich im Kreis dreht und empfangen und weitergegeben wird und sich letztendlich die schwächsten Opfer sucht. Es ist niemand da, der Einhalt gebietet und vor den Konsequenzen warnt. Denn Erziehung ist privat und ein Dorfpfarrer stellt eine unhinterfragte Autorität dar. Und bevor man einem Opfer helfen könnte, ist es selbst schon zum Täter geworden. Die mangelnde Solidarität mit den Opfern führt zu nichts anderem als zu neuen Opfern. In sofern geht der Film für mich auch über das Thema Drittes Reich hinaus, denn auch jede andere Form gesellschaftlicher Gewalt unterliegt diesem verheerenden Teufelskreis.

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Böses gebiert Böses
Für ein paar Tage hatte das reale das Online-Leben ganz verdrängt - deshalb erst jetzt: Nun komm ich doch ins Grübeln, denn offenbar haben also auch Sie, Frau behrens, bei diesem Film mitempfinden können. Also bei mir wirklich alles andere als das, wenn ich überhaupt etwas empfunden habe dabei, dann fühlte ich mich gequält.
Ich glaube, es sind so eine Art religiöser Vorbehalte, die mich völlig blockierten: Ich erläutere das an einem Beispiel: Der Pfarrer hält einen Kanarienvogel, Piepsi, im Käfig. Sein Sohn findet einen kranken Vogel und will ihn nun ebenso, aus lauter Liebe, einsperren, ganz nach dem Vorbild des Vaters. Der aber widerspricht: "Piepsi ist das Käfigleben gewohnt. Dein Spatz aber will wieder in die Freiheit. Du darfst ihn im Käfig gesundpflegen. Dann musst du ihn wieder freilassen." Aber als es dann so weit ist, hat ja die Schwester bereits den Piepsi ermordet und der Spatz kommt als Piepsi-Ersatz in Vaters Käfig. Auch hier handelt der Pfarrer diametral entgegen seinen eigenen moralischen Vorgaben. Und wir lernen: Liebe führt direkt zum lebenslänglichen Einsperren des Liebesobjekts, genauso wie moralische Prinzipien in diesem Film grundsätzlich in Bosheit und Gewalt münden.
Aber diese Lehre ist eine Lüge. Natürlich kommt es oft vor, dass Liebe missbraucht wird, und der Missbrauch von Moral ist vermutlich noch häufiger (und für beides gibt es in der Regel auch strukturelle Ursachen). Aber es bleibt doch immer Missbrauch eines im Grunde Richtigen.
Und hier sehe ich meine "Religion": Die Anklage gegen das Falsche muss vom Richtigen ausgehen. Im "weißen Band" hat das Böse aber das Gute schon ganz verdrängt. Das ist sicher eine Überspitzung, die vermutlich aus einer guten Absicht heraus geschah. Aber ich persönlich kann das nicht akzeptieren. Ich glaube nicht, dass man das Böse mit Bösem bekämpfen kann.

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Gott sei Dank - hier sieht sieht das ja doch noch jemand ähnlich wie ich: "Letztlich ist kühle Distanz zum Geschehen schon immer eine Eigenart Hanekes gewesen. Auch hier nimmt man am Leben der Filmfiguren – ein sehr großes Ensemble übrigens, allein im Presseheft sind über 60 Charaktere aufgelistet – nicht eigentlich teil, sondern sieht ihnen gleichsam wie Versuchsratten in einem Labor zu."
Und ganz aus dem Herzen spricht mir auch Ekkehard Knörer.

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Sehen Sie sich lieber "Frantz" an!
„Frantz“ von Francois Ozon sollten Sie sich angucken! Da begreift man im Vergleich, wie stur und totalitär „Das weiße Band“ ist. Das Sujet ist ähnlich: deutsche Vergangenheit. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg kommt ein kriegstraumatisierter Franzose nach Quedlinburg und trifft auf eine kriegstraumatiserte Familie.

Aber obwohl der Film (ähnlich wie der von Haneke) die politischen Verhältnisse mit wachen Augen und völlig korrekt zeichnet, obwohl auch er die nationalistische deutsche Provinz in stilisiertem Schwarz-Weiß ablichtet, tut er dies nie von oben herab. Er interessiert sich für die Figuren, die er durch die korrekt aufgebaute Kulisse laufen lässt, er gibt ihnen die Chance, ihren Weg individuell und aufrichtig zu gehen. Und wenn sie das tun (was natürlich, wie im richtigen Leben, nur manchen und manchmal gelingt), dann wird manchmal sogar der Bildschirm farbig, so schön ist das.

Auch an anderen Stellen wird der Film manchmal für Momente farbig, nicht nur in den Augenblicken der Aufrichtigkeit – manchmal einfach auch bei schönen Erinnerungen, sogar mitunter bei schönen Lügen. Der Film zeigt eben, wie Leben ist, jedenfalls für die Menschen, die es leben müssen. Und um das anschaulich zu zeigen, womit sich die Menschen unter bestimmten politischen Verhältnissen eben so herumschlagen müssen, erlaubt sich das Drehbuch an einer Stelle sogar eine historische Inkorrektheit: Mitten in der Biederkeit der protestantischen Kleinstadtwelt steht da in der Kirche plötzlich ein Beichtstuhl und gibt ein katholischer Pater einen bestärkenden Ratschlag. Welch wunderbarer "Fehler"!

Denn natürlich braucht man Unterstützung, um es wagen zu können, in ein ehrliches, selbstbestimmtes Leben zu gehen. Man kann nicht mit jedem über alles reden, manchmal ist sogar eine Lüge die bessere, menschenfreundlichere Variante, zumindest solange die Zeit für die Wahrheit nicht reif ist. „Nur die Lüge lässt uns leben“, titelte Tilman Krause in seiner bekannten konservativ eingeschränkten Weltsicht in der „Welt“. Der Film zeigt aber deutlich, dass nur gut lügt, wer die Wahrheit liebt.

Na ja, Krause meinte auch, der Regisseur wolle uns mit seinem Film erklären, dass die Katastrophe des Weltkriegs „lebensfördernd“ gewirkt und „aus den Trümmern des alten ein neues Europa“ gemacht habe. Mit derart rechtskonservativer Politikfixiertheit hat der Film nichts zu tun: Wenn die Hauptfigur Anna am Ende ihre Verletzungen überwindet, deren schlimmste ihr der Weltkrieg zugefügt hat, dann schafft sie das trotz und nicht wegen des Krieges. Und die zarte Andeutung eines möglichen Happy Ends in der letzten Szene besteht auch nicht darin, dass sich ein junger Mann zu ihr setzt – sie ist es, die sich zu ihm setzt.

(entschuldigen Sie, dass ich am Ende doch wieder ins Nörgeln geraten bin – ich mache nach begeisternden Filmerlebnissen doch immer wieder den Fehlern, in den Feuilletons nachzugucken)

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