Sonntag, 2. September 2018
Longlist vom Buchpreis 2018 – mein subjektiver Eindruck
In manchen Momenten ist es wirklich schön, in der Großstadt zu wohnen: Das war vor ein paar Tagen ein Leseabend mit fast allen der Nominierten für den Buchpreis. Ich konnte da einfach hinradeln und mir das angucken. Ich stelle meine Eindrücke hier ins Netz – vielleicht ist ja das eine oder andere für Sie interessant.
Insgesamt war das ein bisschen wie ein Sportereignis – in einer großen Halle, die etwas von einer Sporthalle hatte, und zeitlich straff durchorganisiert: immer 5 min Interview und 10 min Lesen und schwupps der Nächste.
Zuerst kam Franziska Hauser auf die Bühne. Sie las aus „Die Gewitterschwimmerin“ – das war nett, anekdotisch, belanglos. Die Autorin erzählte im einleitenden Interview von den Schwierigkeiten und Wirkungen, ein Buch über die eigene Familie zu schreiben, schreibend herauszufinden, warum ihre Mutter „ein Biest“ gewesen sei und welche Bedeutung ihr Großvater, ein ostdeutscher Prominenter und Kulturfunktionär, für seine Frau und für die ganze Familie gehabt hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie so ein Text in einer Familie funktioniert als Katalysator. Als Außenstehender fand ichs aber langweilig. Zumal wir Geschichten aus dem ostdeutschen Funktionärsmilieu nun wirklich schon genug, eigentlich zu viele gehört haben.
Gleich danach wieder ein Buch über eine Mutter, nun aber westdeutsch-individualistisch, von Susanne Fritz („Wie kam der Krieg ins Kind?“), die dem Schicksal ihrer Mutter in einem polnischen GPU-Lager der Nachkriegszeit nachforschte. Statt Plauderei gabs hier Psychologie, die volle Dosis: Eindrucksvoll, stimmig wirkte das auf mich, leider auch ein bisschen weinerlich.
Auch Adolf Muschgs Lesung aus „Heimkehr nach Hiroshima“ begeisterte mich nicht, umso mehr dagegen der Autor selbst, der im Interview in wenigen Worten Kluges vermitteln konnte über das Verhältnis von Natur und Mensch: wo z.B. bei Adalbert Stifters meisterhafter Naturidylle der Knackpunkt ist, nämlich beim eigenen körperlichen Ich des Autors, das in den Beschreibungen so auffällig fehlt („und diesen Körper hat er dann ja auch umgebracht“), oder warum er pessimistisch ist betreffs der zukünftigen Entwicklung der Menschheit: weil der Mensch Dinge zu tun in der Lage ist, deren Folgen außerhalb seiner Wahrnehmungsfähigkeit liegen. Ob Muschgs Buch gut ist, weiß ich nicht, klug ist es sicher.
Ganz anders „Lebt wohl, ihr Genossen und Geliebten!“, bereits das zweite Buch der rumänischen Funktionärstochter Carmen-Francesca Banciu über ihren Vater: ein balkanesisch sprudelndes Dokument der Vaterfixierung. Sicher witzig. Aber brauchen tut das keiner.
Da gefiel mir der Text der Schweizerin Gianna Molinari „Hier ist noch alles möglich“ besser: eine mysteriöse, offenbar hochsymbolische Geschichte über eine Nachtwächterin in einer fast verlassenen Fabrik, über das Gelände streift laut Überwachungskamera ein Wolf. Der gelesene Ausschnitt war trocken, distanziert erzählt, mit viel Konjunktiv I, und dennoch interessant. Könnte was sein.
Eckhart Nickel dagegen ist sicher nichts: ein promovierter Kunsthistoriker mit nach hinten gegelten Haaren, der Thomas Bernhard verehrt und schon mit Christian Kracht in Nepal der Atmosphäre des Ortes nachgespürt hat. Auch in seinem Textausschnitt gab er den Décadent: Der männliche Protagonist hieß Bergheim, die weibliche Charlotte, also mit Vornamen, und Bergheim war natürlich narzisstisch und paranoid, vielleicht stand er auch unter Drogen.
Christina Viragh war die nächste, von ihr hatte ich schon im Internet gehört und eine Leseprobe probiert: „Eine dieser Nächte“ erzählt eine Nacht im Flugzeug, in der ein penetranter Ami die anderen zum Reden bringt und selbst ungeahnte innere Katastrophen offenbart. Das war ganz korrekt erzählt, mir sagte das nichts.
Dann wieder ein Ostdeutscher, ausgebildet am Leipziger Literaturinstitut: Matthias Senkel, „Dunkle Zahlen“, es geht um eine „Spartakiade“ realsozialistischer Informatiker 1985 in Moskau. Von der in den Feuilletons gerühmten und teils auch bekrittelten überbordenden Wildheit des Textes war an dem Abend nichts zu spüren: Ich fand den Ausschnitt sehr schön erzählt, nur thematisch interessierte mich das gar nicht.
Das mag persönliche Gründe haben (meine Abneigung gegen Osteliten), und persönliche Gründe hatte es auch, dass das nächste Buch mich begeisterte. Im Interview war mir Gert Loschütz erstmal noch nicht so sympathisch – er wirkte ein bisschen wie Erich Loest oder Henry Hübchen: ein älterer Ossi, der seine Intellektualität mit burschikoser, gespielt prolliger Attitüde überspielt. Sein Text aber war großartig: konventionell erzählt, aber sensibel, eindringlich, ernsthaft – und bar jeder Attitüde. Inhaltlich geht es um die Geschichte einer Flucht von Ost- nach Westdeutschland, auch das für mich interessant.
Auch Susanne Röckel gefiel mir. Sie erzählte im Interview von ihrem Erstberuf als Übersetzerin (Frage: „Muss der Übersetzer nicht mit der Übersetzung immer auch ein neues Kunstwerk schaffen?“ – „Ja, wenns schlecht ist, ganz besonders.“). So war auch der Text aus „Der Vogelgott“, den sie las: fein boshaft, satirisch ohne jede Grobheit. Sehr schön.
Maria Cecilia Barbetta las dann aus „Nachtleuchten“, eine ebenfalls satirische Geschichte aus dem Argentinien des Jahres 1974. Gefiel mir nicht so, da ich mit der blumigen lateinamerikanischen Art nicht so klarkomme (Barbetta begeisterte sich an der Gruseligkeit des Umstands, dass sie zur Lesung zu spät gekommen war, da ihr Zug in eine Schafherde gerast war in der Lüneburger Heide: „Ich bin abergläubisch.“), vor allem aber, denke ich, kann ich als in der Materie völlig Unwissender den vermutlichen Anspielungsreichtum des Textes nicht genießen. Ist was für Experten.
Auch Josef Oberhollenzer war mir fremd, ein Südtiroler Spät-68er: Warum er seine Bücher in Kleinschreibung verfasse? Er tippe auf einer alten Olivetti, bei der die Taste für Großbuchstaben unnötig viel Kraft verbrauche. Mir erschien er wie ein trotzköpfiger Chaot, der sein Chaos schlitzohrig als Kunst tarnt. Sein Buch „Sülzrather“ handelte von einem Querschnittsgelähmten, der Schuhfetischist ist, der gelesene Ausschnitt befasste sich mit Schuhsorten und bestand zum großen Teil aus von Sülzrather vergebenen Schuhsortennamen. Zerhackt wurde der Text von Fußnoten, die der Autor grundsätzlich mitlas, um anschließend den zerhackten Satz nochmal ohne Fußnote zu wiederholen. So ein Spiel mit Fußnoten kann witzig sein (ich erinnere mich an Polityckis „Weiberroman“, in dem das zum Kranklachen war), hier diente es offenbar der Herstellung von Chaos.
Daher war es von den Organisatoren ganz clever ausgedacht, nun Inger-Maria Mahlke folgen zu lassen, Juristin, Hochschulassistentin der Kriminologie, nun im wahrsten Wortsinn professionelle Schriftstellerin (die Liste der von ihr besuchten Seminare und errungenen Preise liest sich wie die Veröffentlichungsliste auf einer Uni-Webseite). Eine hohe, schlanke, schöne – nein, eher attraktive Frau, die Perfektion ausstrahlte und einen ebensolchen Text vorlas. „Archipel“ (es geht darin um Teneriffa und dessen Geschichte) ist sicher ein gutes Buch, sicherlich besser als ihr etwas unterkühlter Auftritt.
Zu Arno Geiger interessant fand ich, wie er davon erzählte, wie er schon einmal den Buchpreis bekommen hatte: „Ich weiß nicht warum, das Buch, das ich vorher geschrieben hatte, >Schöne Freunde<, fand ich eigentlich genau so gut, und das hat niemand beachtet ... Der Preis hat mein Leben verändert. Ich kann das eigentlich nur jedem empfehlen.“ Sein aktuelles Buch heißt „Unter der Drachenwand“, eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Was er las, fand ich gut und genau erzählt, der Funken des Interesses sprang dennoch nicht über.
Und zum Schluss Helene Hegemann, die Berühmte. Ich hab ihre Biografie nochmal bei Wikipedia nachgelesen hinterher – das grenzt ja an Kindesmissbrauch, was der Vater mit ihr gemacht hat. Und das erklärt auch manches: Sie wirkte auf der Bühne wie 16 (deshalb hab ich nachgelesen: wie alt sie nun wirklich ist), und was sie vorlas, wirkte auch so: authentisch, pubertär, ein bisschen simpel. „Vielleicht muss sie was nachholen.“ meinte meine Frau, als ich ihr davon erzählte. Na, und das wollen wir ihr mal gönnen.
So, Ende der Geschichte. Schreiben Sie mir doch, wenn Sie eins der Bücher besser kennen als ich durch diese winzigen Ausschnitte!

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Sonntag, 13. Mai 2018
Ein Tag in den Vatikanischen Museen II – Bei der Heiligen Patchwork-Familie
Viele dieser Erzählungen hatten natürlich die Heilige Familie zum Thema: eine junge Frau, schwanger, der Vater des Kindes ist abwesend, irgendwo in höheren Sphären; Joseph, der das akzeptiert und mit dieser Frau und dem fremden Kind eine Familie bildet; das Kind, das später seinen Vater suchen wird und auf diesem vergeblichen Weg zu ihm wie nebenher seine Leistungen vollbringt.
Vor einem Bild blieb ich länger stehen, einer Verkündigungsszene (Sie wissen schon: wo der Engel Maria sagt, dass sie schwanger ist): Maria ist da alles andere als die liebliche, reine Jungfrau. Natürlich ist sie jung, hat ein feines Gesicht, ist aber eher altklug-skeptisch als lieblich, halt die Sorte Mädchen, die sich aus dem üblichen derben Geschlechtergetümmel der jungen Leute raushält und sich auf einmal als Geliebte eines älteren Mannes wiederfindet.
Da kann man auch mal schwanger werden. Und dann verschwindet der Mann in den Wolken, von wo er die Szene beobachtet, und schickt nur einen Boten – auch der sehr gut dargestellt: ein frömmelnder Untertan.
Sie sehen schon: Dieser Vater ist jetzt in moralischer Hinsicht nicht gerade anbetungswürdig. Das verlangt auch niemand. Er ist halt Gott.
Und der Junge, der vaterlos aufwächst, aber die Gene des Gottes in sich hat, der muss ja auch irgendwie anders sein als die anderen Menschen.
Und jetzt ist es doch verrückt, dass gerade dieser Sohn Jesus aufgrund seiner halben Göttlichkeit auf eine Art moralisch gut sein kann, weil ihm die sündige, vitale, machthungrige Seite der Renaissance-Menschen fehlt, die wir Menschen alle haben, haben müssen, die offenbar auch Gottvater hat. Jesus nachzufolgen hieße dann nicht, dass man versucht zu sein wie er (das ginge nur unter Verleugnung der eigenen Natur), sondern sein Sein als Vorbild anzunehmen, gütig zu sein, auch wenn es die göttliche Ordnung nicht ist.
Mein Fazit: Es ist gut, sich mal wieder Kunst anzusehen, auch viel Kunst – man findet dann schon das Richtige und die Anregung, das zu denken, was man eh schon immer denken wollte und im Alltag nicht dazu kam.

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Ein Tag in den Vatikanischen Museen I - Sammelrezension
Wir haben sie besucht, und es war zu voll. Das war mein erster Eindruck: zu viele Menschen, zu viel Kunst. Erst nach einiger Zeit gelang es mir, mich zu orientieren und genauer hinzugucken: Es gab vor allem zu viel antike Plastik, immer die gleichen harmonischen Posen, immer die gleichen fein gearbeiteten Marmoroberflächen, einfach langweilig. Während mich die Architektur der alten Römer draußen schon beeindruckt hatte – die technischen und organisatorischen Leistungen, die Vernunft, die Harmonie der Bauformen – ließen mich ihre Statuen kalt. An einer Stelle wurde es geradezu lächerlich, da hatten die kunstsinnigen Päpste oder wer auch immer eine ewig lange Galerie mit Regalreihen voller Altmännerköpfe befüllt.
Dass mich zum ersten Mal etwas berührte in diesem Museum, das war an einer einer Stelle, an der es ich nun zu allerletzt vermutet hätte: bei den etruskischen Vasen. Auch hier auf den ersten Blick nur: Räume über Räume voller Töpfe. Auf diesen Töpfen aber fanden sich zarte, oft witzige und teils sogar richtig elegante Ritzzeichnungen, lebendiges Leben.
Wir haben uns natürlich auch die Sixtinische Kapelle angeguckt, die berühmte renaissancene Wiedergeburt der Antike. Auf Abbildungen hatte ich den Szenen immer wenig abgewinnen können, das war mir zu kraftmeierisch. Kraftmeierisch sind die Fresken auch im Original, aber das ist ja auch keine Kapelle, sondern ein riesiger Saal – unten treiben grobe italienische Aufseher Aberhunderte von Touristen durch den Raum – an dem weit oben irgendwo ebenso pralles Leben sich tummelt. Das war schon gut. Ich stand lange da und konnte hier und da und dort interessante Details entdecken.
Raffael, dessen Madonnen ich als Jugendlicher sehr geliebt habe, hat mich dagegen enttäuscht: Das schien mir nur handwerklich sensibel gestaltete Frömmelei und Theatralik. Der Raffael-Saal bildete den Wendepunkt im Durchgang durch die chronologisch geordnete Gemäldesammlung. Dieser Logik der Ausstellungsmacher folgte auch meine Aufmerksamkeit: In den Räumen nach Raffael hat mich nichts mehr interessiert, während ich mich vorher in den Mittelalter-Räumen wohl und zu Hause gefühlt hatte, wo die Heilgen, wo die Beter meditativ versunken „auf den goldnen Gründen prangen“, so dass man ihnen – anders als bei Raffael - die Frömmigkeit auch glaubt: statt Theaterdonner comichaftes Erzählen.

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Montag, 16. April 2018
„Transit“ - erster Eindruck
Ich habe heute Abend „Transit“ gesehen, das musste sein: „Transit“ ist einer meiner Lieblingsromane und Christian Petzold ist ja auch nicht irgendwer. Ich war im Vorfeld skeptisch gewesen, ob so ein Kopfmensch wie Petzold einen so hochemotionalen Roman verfilmen kann.
Doch, kann er. Ein wuchtiger, eindringlicher Film. Die Idee, die Geschichte optisch in der Gegenwart spielen zu lassen, wirkte gar nicht so gewaltsam und gewollt, wie ich befürchtet hatte: Sie weckte nämlich keine Assoziationen an Jetztzeit und Flüchtlingskrise, sondern vertrieb sie eher, wirkte wie ein Brechtscher Verfremdungseffekt, noch verstärkt durch die häufigen gesprochenen Texte aus Off. Dadurch verschwand jeder ablenkende historische Bezug, es blieb die Problematik der Flucht an sich. Das Ganze machte eher den Eindruck eines erzählerisch angelegten Filmessays, weniger den eines Spielfilms.
Die eigentliche Geschichte, die von Anna Seghers ersonnen wurde, handelt ja von einem Flüchtling aus Nazi-Deutschland, der in Marseille seinen Mitflüchtlingen begegnet, immer mehr Abschied zu seinen Exil-Kameraden und insbesondere den kommunistisch Kungelnden unter ihnen gewinnt und am Ende eine andere Art Solidarität findet, die der ortsansässig Anständigen, bei denen er eine neue Heimat findet.
Im Film fehlt diese Ebene: Es fehlt der kommunistische Filz und es fehlt die entspannte Willkommenskultur der Einheimischen. Nur die Einsamkeit des Flüchtlings, auch bei Seghers zentral, wird in ergreifender Intensität vorgeführt.
Komisch: Da hatte ich erst Angst gehabt, dass Petzold, den man als politischen Regisseur kennt, die Sache vermurkst, indem er zu viel Gegenwartsbezug da reinbringt – und als ich dann im Kino war, war mir das zu wenig davon. Ich meine, wir haben hier einen Haufen Flüchtlinge im Land, und wir haben enorme Probleme damit, die Menschen zu integrieren, sie so in unser Leben hier in Deutschland einzubauen, dass wir und sie damit leben können – und dann ist da dieser Roman, der aus der Sicht eines deutschen Flüchtlings zeigt, wie verdammt schwer es ist, die emotionale Haltlosigkeit und Verzweiflung des Flüchtlings (die man heute gern „Traumatisierung“ nennt) zu überwinden und wieder ins geregelte Leben zu finden, der aber auch zeigt, dass es möglich ist, dass man nicht in der Klüngelsauce seiner Flüchtlingsparallelwelt bleiben und versauern muss, sondern dass es einen Weg in ein neues geregeltes Leben gibt – und dann nutzt Petzold diese Steilvorlage nicht und bleibt bei der Einsamkeit und Verzweiflung seines Flüchtlings kleben, lässt seinen Flüchtling sich in einer Liebesgeschichte verheddern und am Ende in der Falle sitzen bleiben. Das geht doch nicht!
Und irgendwie erinnert mich das auch an einige Linke hierzulande, die vor lauter Akzeptanz der Fremden auch das akzeptieren, was diese – zumindest vorerst – zu den Akten legen müssten, um bei uns anzukommen. (Dass das die staatlichen Vorgaben heute in Deutschland wie damals in Marseille nicht gerade befördern, ist klar, da braucht es eben unsere menschliche Solidarität.)
Und da sind wir beim Punkt: Dieses Negative, Resignative, Passive heutiger linker Positionen nervt ("Da kann man halt nichts machen, wenn Flüchtlinge in ihrer Traumatisierung verwirrt und destruktiv sind, man muss sie so annehmen." Nein, muss man nicht, und man hilft ihnen damit auch nicht, und man macht die Verbrechen neokolonialistischer Wirtschaftspolitik in Afrika auch nicht wieder gut, indem man einfach die Grenzen öffnet.) Es gibt in "Transit" eine Verkörperung des Guten, Moralischen, des Kommunistischen, fast eine jesusartige Figur: Heinz. Dessen Flucht gelingt aufgrund seiner Ausstrahlung, selbst zwielichtige Gestalten helfen ihm selbstlos. Petzold lässt diesen Heinz gleich am Beginn der Geschichte elendig verrecken. Und die Figur des anständigen Menschen, der durch tragische Umstände unter die brutalen Fremdlegionäre geraten ist und doch anständig bleibt, den lässt er ganz aus der Geschichte raus. Das Gute darf es nicht geben.
Und auch die Liebe nicht. Auch bei Anna Seghers ist die Liebe negativ besetzt: Sie lässt am Ende die femme fatale und mit ihr die erotische Liebe sterben und im Gegenzug die Mitmenschlichkeit und Solidarität erblühen. Sicher ein äußerst fragwürdiger Aspekt in dem Roman. Noch fragwürdiger ist es allerdings, wenn Petzold die Liebe ebenso negativ zeichnet wie Seghers, ihr aber nichts adäquat Positives gegenüberstellt.
Wie ich schon bei meiner Rezension zu Hanekes "Weißem Band" sagte: So furchtbar ist die Welt nun auch wieder nicht. Und ist es nie gewesen.

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Donnerstag, 22. Februar 2018
Solche Linke und solche, mir sind die stillen lieber
Ich habe hier vor ein paar Tagen über drei Bücher linker Autoren geschrieben, die ich neulich las, und dabei zum wiederholten Mal zum Ausdruck gebracht, wie sehr mir die Verachtung des Gefühlsseligen auf die Nerven geht, in der ich eine Weiterführung des machismo des Marxismus und der Arbeiterbewegung erblicke.
Das war insofern unfair, als ich die zwei mir unangenehmen Bücher gar nicht zuende gelesen habe. Dem Roman „Die verbesserte Frau“ von Barbara Kirchner hab ich vorgeworfen, er sei eiskalt. Wahrscheinlich ist er das nicht. Wahrscheinlich ist er nur von einem Gefühl getragen, das mir widerlich ist. Ich muss sowas nicht lesen. Ich muss meine Abneigung aber auch nicht in die Öffentlichkeit raustragen.
Dem Sachbuch „Erwachsenensprache“ von Robert Pfaller warf ich Zeitgeistigkeit und ein Kokettieren mit Verschwörungstheorien (die Postmoderne ist ein Kampfinstrument der Ausbeuterklasse) vor. Das meine ich immer noch. Aber meine Güte!: Irgendwie muss sich ein Buch doch behaupten, wenn es sich auf ein diskursiv so umkämpftes Gebiet begibt. Aber es so stehen so viele kluge Sachen drin, dass ich jetzt weiterlese, auch wenn ich mich manchmal ärgere.
Zum Beispiel an der Stelle, wo Pfaller behauptet, political correctness fördere deshalb die Zensur, da sie das rationale Element ausschalte – und die ratio sei in der Lage, Irrtümer zu korrigieren, während Beleidigte immer beleidigt bleiben. (Er übersieht hier, dass Gefühle nicht grundsätzlich kindisch sind, sondern natürlich auch sehr wohl erwachsen sein können, genauso wie rationale Gedanken.) Mit diesem Text liefere ich ein Beispiel.
Überhaupt hab ich in meinem Blog zunehmend Probleme mit dem Öffentlichen und dem Privaten. Ich habe viele Jahre auf Papier Tagebuch geschrieben und da meine Gedanken zu diesem und jenem probeweise formuliert. Manches davon fand ich im Nachhinein gar nicht so schlecht, so dass ich die Aussicht verlockend fand, dieses Tagebuch auf blogger.de öffentlich zu führen. Aber das geht nicht. Schon allein die Notwendigkeit, die Texte einigermaßen zu einem Ende zu führen und die gröbsten Tipp- und Formulierungsfehler zu entfernen (ich tippe daher immer zuerst in mein Schreibprogramm, ehe ich ins Netz kopiere) … führen dazu, dass ich viel seltener schreibe als früher. Und dann noch die Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte (inkl. meine eigenen), die blöden Anonymisierungen und dass ich das Thema Sexualität aussparen muss. Und als Krönung: peinliche Irrtümer wie dieser (im Tagebuch wärs egal gewesen) – und das ist nicht der erste.
Wie gehen Sie mit sowas um?

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Montag, 8. Januar 2018
Wahrheit oder Kunst? (Akin versus Schorlau)
Aus gegebenem Anlass stelle ich fest, dass man doch misstrauisch sein sollte wenn ein Kunstwerk zu gut funktioniert: Als ich vor zwei Wochen „Aus dem Nichts“ sah, war ich tief gerührt, verließ ergriffen das Kino, dankbar, dass jemand die Sicht der Opfer auf so großartige Weise in Szene setzt. Natürlich war mir klar, dass es gewagt ist, wie diese Geschichte alle Brisanz und alles Politische aus dem NSU-Fall rausnimmt und nur das Menschliche sieht. Aber ich fand das mutig. Erst nach und nach fiel mir auf, wie geschickt Bohm/Akin da alle Knöpfe gedrückt haben, mit denen man mittelalte Mitte-Links-Mittelklasse-Leute wie mich dazu bringt, die Taschentücher rauszuholen (der etwas unsolide, aber herzensgute Anatole, der „gute Deutsche“, die nette Szenefrau mit den zerrissenen Jeans usw.). Und erst nach längerem Nachdenken wurde mir klar, dass dieser Film sicher gut erdacht und künstlerisch qualitätvoll ist, aber nicht gerade mutig – eher im Gegenteil.
Und ich werde im Nachhinein verständnisvoller betreffs der „schützenden Hand“, diesem NSU-Krimi von Wolfgang Schorlau, der in literarischer Hinsicht ziemlich lausig ist, zudem unangenehm pingelig in seiner Detailversessenheit, aber eben gut recherchiert und von einem ehrlichen Aufklärungswillen beseelt. Denn was hilft ein großer Wurf wie „Aus dem Nichts“, wenn er im Grunde dazu auffordert, über der Rührung die Wahrheit zu vergessen?

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Sonntag, 8. Oktober 2017
Gedanken über ein Foto (das ich aus Datenschutzgründen hier nicht zeigen kann)
Es ist ein Foto von einer Lesung. J. schreibt nämlich Gedichte, drei Bände hat sie schon veröffentlicht, ohne nennenswerten kommerziellen Erfolg. Neulich trat sie mal wieder in einer kleinen Berliner Buchhandlung auf. Ein Musiker spielte Rockklassiker, und J. las.
Auf dem Foto sieht sie auf den ersten Blick unsympathisch aus, so eine richtige Berliner Szene-Zicke. Macht das der strubbelige, blondierte Kurzhaarschnitt, der gouvernantenhafte Blick von oben herab oder die harte, steife Haltung?
Als ich mich mit meinen Fragen so weit vorgetastet habe, ändert sich mein Blick. Die Haltung ist nämlich schon besonders: so kerzengerade, diszipliniert, die strenge schwarze Kleidung betont das noch. Wie anstrengend muss das sein! Sie hält ihr Buch vor sich, sie hält es fest, aber der Wald von Post-its, der aus den Seiten lugt wie die vorwitzigen Haarspitzen, die auf ihrem Kopf den strengen Schnitt ad absurdum führen, sie zeigen, dass hier gar nichts fest ist. Sie hält es nur mühsam aufrecht.
In ihrem Gesicht erkenne ich zuerst die lange, schmale Nase wieder, die damals, in ihrer Jugend, als ihr Markenzeichen galt – Verehrer begeisterten sich für ihr griechisches Profil. Jetzt wirkt die Nase immer noch edel, aber schmaler und sehr fein. J. wurde beim Rezitieren fotografiert, der Mund ist halb geöffnet, die Lippen, beim Artikulieren ertappt, wirken unsicher, fast zitterig, und die Augen, unter hohen, rund gezogenen Augenbrauen und schweren blauen Augenlidern blicken verachtungsvoll auf den Fotografen: Was wisst ihr schon von meinem Elend?
Natürlich wissen wir es nicht, wir ahnen nur, was du verschweigst, und reagieren mit instinktiver Ablehnung. Würdest du doch nur mal den falschen Stolz, dieses blöde Haltungbewahren ablegen! Es wäre sicher alles halb so schlimm, und du könnest wieder geistreich und lebendig sein wie früher. Denn das geht auch mit Elend.

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Montag, 31. Juli 2017
Literatur von gestern: Maguerite Duras, Christa Wolf
Geistig an einem Nullpunkt, an dem ich noch nicht weiß, ob, wann und welche Interessen sich vielleicht einmal ergeben werden, muss ich doch irgendwas lesen, so zur Unterhaltung, und da dachte ich: Ich greif mir einfach irgendeinen Klassiker aus dem Bücherregal meiner Eltern, den ich damals verpasst habe.
Meine Wahl fiel eher zufällig auf „Der Liebhaber“ von Maguerite Duras. Was für ein Fehlgriff! Aus dem Buch glotzten mich die ganzen schrecklichen 80er Jahre an: dieses kunstvolle, wortreiche Herumreden um den heißen Brei. Erinnerte mich an Christa Wolf. Diese tiefe Resignation, die ängstlich vermeidet, auch nur irgendetwas zu erzählen, was wirklich ist. Stattdessen seitenlanges Abschweifen in zeittypische essayistische Gefilde (bei Wolf „Feminismus“, bei Duras „Begehren“).
Aber vielleicht tu ich Maguerite Duras auch Unrecht: Während ich mich vor Jahrzehnten fleißig durchkämpfte durch „Kassandra“, hab ich „Der Liebhaber“ nach dreißig Seiten einfach weggelegt.
... und bin damit wahrscheinlich auch ganz ein Kind meiner Zeit, die sich ja ebenso ängstlich an „Fakten“ klammert, wie verlogen sie auch immer sein mögen.

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Samstag, 18. Februar 2017
Wo man die Fenster nicht öffnen kann
Samstagvormittag allein zu Haus, wozu nutz ich die Zeit? Natürlich, indem ich im Bet bleib und schön einen Film von der Festplatte weggucke, der dort schon seit Wochen auf Abruf wartet. Heute "Die Falschspielerin" ("The Lady Eve" ist der schönere Originaltitel), eine berühmte Screwball-Komödie, die ich noch nicht kannte. Und tatsächlich: Sie gefiel mir sehr, da sie mit Witz und Tempo wieder wettmachte, was an Screwball-Komödien eigentlich immer ein bisschen nervt: die Null-Erotik der Hauptdarstellerin, das lächerlich Konstruierte und Holzschnitthafte der Romantik-Szenen, die Sprödigkeit und und das völlige Fehlen einer irgendwie glaubhaften Gefühlsebene ...
Ein Detail aus dem Gag-Feuerwerk fiel mir auf: "Sie wird ihn aus dem Zugfenster werfen!" - "In Zügen kann man die Fenster nicht öffnen". Aha, dachte ich, in den USA war das also schon 1941 so. Ich bin noch in 80ern den Kopf aus dem Zugfenster haltend ans Schwarze Meer gefahren. Die Zeit der Klimaanlagen und versiegelten Zugfenster begann für mich erst 1990. Inzwischen ist mir auch das vertraut.
Und deshalb schreckt mich auch ein öffentliches Klima nicht, das von maschinellen Meinungen und postfaktischem Schwachsinn beeinflusst wird. Dreistes Lügen und Meinungsmache sind mir noch aus DDR-Zeiten bekannt, inszenierten Jubel kennt man auch von Samstagabend-Fernsehshows. Wer den Wind um die Nase spürt, muss das nicht ernst nehmen.
Da lese ich zum Beispiel grade einen sehr schönen Unterhaltungsroman, "Die Unmöglichkeit des vierhändigen Spiels" von Stefan Moster, und staunte nicht schlecht, wie gut und stimmig ein Wessi-Autor mit DDR-Tristesse und Stasi-Thematik umgehen kann. An einem winzigen Detail erkannte ich dann, warum dem Autor das gelang: Er erwähnt die Stasi-Hochschule in "Potsdam-Gollen". Tatsächlich heißt der Ort Golm, ich komm ja aus der Gegend. Offenbar hat der Autor also sein Wissen per Hörensagen erworben, nicht im Internet recherchiert. Auf diesem Übertragungsweg scheint das Wissen seine Echtheit zu behalten. "Die Macht kommt aus den Mündern, die kommt aus den Mündungen nicht." dichtete Wolf Biermann einst über Gewehrmündungen, die ihn als alten Kommunisten vielleicht doch etwas zu stark faszinierten. Recht hat er trotzdem.
Und daher müssen Sie auch nicht ernst nehmen, was ich hier ins Internet tippe.

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Samstag, 5. November 2016
Altmännerliteratur
„Altershausen" – Das müssen Sie lesen! meinte damals der Zweitgutachter meiner Dr.-Arbeit zum Thema Wilhelm Raabe. Er stand kurz vor der Emeritierung und ich dachte: Den Tipp heb ich mir für später auf, wenn ich selber alt bin. Später las ich irgendwo von Heinrich Detering denselben Tipp und hab mir dann doch schon mit 51 Jahren eine schöne Ausgabe von 1904 davon gekauft (für 5 Euro inkl. Versand!).

Also, so genial fand ich das nun auch wieder nicht, aber es war ein wunderschönes Stück Altmännerliteratur: ein „back tot he roots“, warmherzig leuchtend, ironisch, demütig, kaum sentimental.
Jetzt ein Jahr später les ich „Herkunft“ von Botho Strauß, das mich manchmal an „Altershausen“ erinnert: Es ist ebenso rührend offenherzig wie “Altershausen“, aber nicht fiktional, keine Erzählung, sondern eine genaue autobiographische Offenbarung, leider nicht ganz frei von den bekannten Straußschen Verbohrt- und Exaltiertheiten, doch sehr direkt persönlich echt. Tut einfach gut.
Und als Nächstes kommt dann der „Abschied von den Eltern“ von Peter Weiß, hab ich mir schon bestellt.
... so, das reicht für heute an Namedropping. Und falls der geneigte Leser nach meinem autobiografischen Hintergrund fragt: Ja, die Eltern werden alt, ich hab das am Wochenende wieder erlebt, und vor kurzem, im Sommer bei der großen Deutschland-Wohnmobilrundreise mit Frau und Sohn (einmal Norddeutschland – Schweiz und zurück), nutzte ich die Gelegenheit, dem Großelternhaus, dem Kindheitsort meines Vaters und meiner eigenen Grundschul-Frühjahrs- und Herbstferien, einen kurzen Besuch abzustatten: Die das gekauft haben, haben es sich dort wirklich hübsch gemacht, sieht besser aus als damals, ich konnte-musste mich verabschieden: Dem Haus geht es jetzt besser, nachdem es seine Herkunftsfamilie verlassen hat. Manchmal ist das so.

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