Donnerstag, 21. Juli 2016
Ist Toni Erdmann ein guter Vater?
Wer den Mann nicht kennt, darf jetzt ruhig weiterklicken – ich jedenfalls habe „Toni Erdmann“ heute Abend gesehen: An einem lauen Sommerabend bin ich nach Ottensen reingeradelt – der Alma-Wartenberg-Platz schwirrte vom Geplauder und Gelächter der Freilichttrinker – und hab mir den Film von Maren Ade im Zeisekino angesehen. Nach den Geniestreichen „Der Wald vor lauter Bäumen“ und „Alle anderen“ waren meine Erwartungen sehr hoch und wurden dann doch ein bisschen enttäuscht, trotz der vielen wunderbar schrägen, klugen, komisch-peinlichen Szenen, die der Film auch enthält.
Es geht um eine junge deutsche Businessfrau, die in Rumänien auf die perverseste Art den Globalisierungsdiener gibt und dort von ihrem Vater, einem 68er-mäßigen Loser und Witzbold, heimgesucht wird. Verkleidet als ein Horst Schlämmer ähnlicher „Coach“ namens Toni Erdmann mischt er sich in ihre Geschäftsverhandlungen und macht alles lustvoll aggressiv zunichte. Am Ende versöhnen sich natürlich Vater und Tochter.
So banal kann man den Film auffassen, und dass man das kann, ist seine große Schwäche. Natürlich ist Maren Ade klug, viel klüger als diese Story. Sie zeigt genau, was hier abgeht: wie sehr sich Vater und Tochter gleichen: die Clownerien des Vaters sind nicht weniger plump und verlogen als das Businessgebaren der Tochter; wie sehr ein Machtgefüge das Geschehen beherrscht: Die Arroganz der Oberschicht gegenüber der Mittelschicht („Ich lebe in Frankfurt und Paris, es ist schön, in Ländern mit Mittelschicht zu leben – das entspannt.“) wiederholt sich in der Arroganz der Mittelschicht gegenüber der Unterschicht (die Tochter schikaniert die Rumänen, der Vater bringt ihnen nur verständnislose Höflichkeit entgegen) usw.
Und vor allem zeigt sie, dass die Tochter, die hier ihre Identität, ihre Würde viel zu billig an moralisch fragwürdige Firmen verkauft, ja gar nicht anders kann. Ihr Vater, der 68er, ist ein Clown, ein Provokateur, ein ewig Pubertierender. Von ihm hat sie keine Richtschnur fürs Leben bekommen können. Und jetzt, im Lebensherbst, ist er ein Einsamer, ein Verzweifelter, jemand, mit dem man Mitgefühl haben kann und muss, aber erst recht niemand, der einem etwas fürs Leben mitgeben kann.
All diese wichtigen Aspekte deutet die kluge Regisseurin in ihrem Film an. Schade, dass sie sie am Ende einer kitschigen Story opfert.

Nachsatz und Zurücknahme: Wenn Sie meinen Text gelesen haben, haben Sie sicher bemerkt, wie ich mir selbst widerspreche: Natürlich kann der Film gar nicht banal sein, da er ja doch, wie ich betonte, genau und konkret ist. Und eine "kitschige Story" - nun, die muss er ja haben, er will ja eine eine Komödie sein!
Dass ich gestern Abend dennoch leicht gestresst aus dem Kino kam und daher Lust hatte, ein bisschen im Netz abzunörgeln - das hatte vermutlich einen einfacheren Grund: Der Fim ist eine halbe Stunde zu lang. Das nervt. Ich finde, Filme sollten 80 bis 100 Minuten dauern, ein außerordentlich guter Film (wie dieser) darfs auch auf 2 Stunden bringen. 162 Minuten sind zu viel.
Na ja, aber einen Tag später ist diese kleine Pubikumsquälerei vergessen, und ich erinnere nur noch die Fülle wunderbarer Filmmomente (Das einsame Kleidanziehen mit der Gabel! Der Spermawurf aufs Petitfour! Die zarte Szene mit dem Tod des Hundes! usw.) und nachdenkenswerter Aspekte. Gehen Sie ins Kino, wenn Sie noch nicht da waren!

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Donnerstag, 7. April 2016
Über die NSU-Filme
In den letzten Tagen liefen drei Fernsehfilme, die den NSU-Krimi zum Thema hatten. Ich hatte mich im Vorfeld gefragt: Gleich drei Filme - ist das nicht ein bisschen viel? Aber das war schon ganz richtig so: Wie sonst soll man dieses monsterhafte Thema (monsterhaft aufgrund des ihm reichlich innewohnenden Bösen, aufgrund der vielen erschreckenden Unklarheiten und seines Reichtums an Abstrusitäten) - wie soll man dieses Thema in 20.15-Uhr-gerechtes Fernsehen überführen? Das ist doch nur möglich, indem man es aufsplittet.
Und so gab es eben verschiedene Arten von Kitsch - für jede Zielgruppe etwas. Zunächst den Kitsch in der Tradition des Milieufilms, bei dem die NSU-Terroristen im Grunde Opfer der Umstände sind. Entsprechend wird Beate Zschäpes Unterschichtenherkunft in den Mittelpunkt gestellt. Da kommen die Linken dann aus dem Westen und sind nur was für Gymnasiasten und brave Bürger - die Rechten kommen dagegen ganz eigenständig aus besagter Unterschicht und ihre Gewalttätigkeit kommt aus der Verzweiflung.
Als Nächstes gab es dann den Migrantenkitsch in 68er-Tradition, der alles ideologisch begründet und den NSU letztendlich als Produkt einer sowieso schon latent rechten deutschen Gesellschaft ansieht. Das ging natürlich nur, wenn man das ossihafte Opfer Michele Kiesewtter weglässt.
Na, und heute endlich den Kitsch der Aufrichtigkeit, der ganz im Gegenteil zum zweiten Teil die rechtsradikalen Tendenzen in den Behörden herunterspielte und stattdessen den Thüringer Verfassungsschutz einfach als arrogant, fahrlässig und dekadent-westdeutsch darstellte und ihm einen aufrechten Polizisten gegenüberstellte mit dem Gesicht von Florian Lukas.
Da hatten sie mich. Das ist der Kitsch, bei dem ich schwach werde, gebannt vor dem Fernseher sitze und alles glaube. War der Film nun wirklich dichter an der Wahrheit oder nur dichter an der Wahrheit, für die ich mich interessiere? Mein Bauch jedenfalls sagte "Stimmt! Ich verstehe." (da war ja sogar der mysteriöse Auto-Tod des Heilbronner Polizeiinformanten glaubhaft, sinn- und effektvoll in die Handlung eingebunden), mehr als bei der etwas spiegel-tv-mäßigen Doku von Stefan Aust, die hinterher kam.

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Sonntag, 28. Februar 2016
Die Tristesse von "Auerhaus"
Ein Tag allein zu Hause, Auftrag: neues Regal in die Kammer dübeln. Habe Stunden dafür gebraucht und fühlte mich hilflos. (Hätt ich den Humor von nnier, dann hätte ich Ihnen hier einen schönen Fotobericht diverser Katastrophen posten können.) Ansonsten rumgehangen und „Auerhaus“ zuende gelesen. Macht einen noch trübsinniger. Ich wollte erst einen Verriss schreiben à la „fehlende soziale Dimension“, war dann aber doch eher traurig. Das passt schon, was da beschrieben ist, das ist ganz stimmig. „Sehr westdeutsch“, meinte mark793 ganz richtig: diese Leere unter brüchigem Firnis von Rest-Linkssein (man ist gegen die Bundeswehr und die Polizei, klaut im Supermarkt, aber möglichst nicht im Buchladen).
Das Buch beschreibt eine WG von ein paar Jugendlichen in den 80ern in der westdeutschen Provinz und kreist um die zentrale Erkenntnis: Wer in dieser Zeit, in dieser Generation relativ noch am meisten durchblickte, das waren die Verrückte und vor allem der Selbstmordkandidat. Die am Ende aus der Geschichte ausscheiden, durch Gefängnisaufenthalt bzw. Tod. Nur die ganz Ahnungslosen schaffen es, sich in ein normales Leben hinüberzuretten. Gut beobachtet.
Mich erinnerte das an meine Studienzeit in Bremen Anfang der 90er. Ich hatte dort einen Freund, der eigentlich nie so richtig mein Freund wurde, weil wir uns nie nahe kamen, obwohl wir ständig zusammen rumhingen. Eines Tages kam ich wie oft in seine WG und fragte: „Wo ist denn I?“. Entgeistert sah mich X. an: „Ich dachte, du bist sein bester Freund. I. ist in der Psychiatrie. Komisch, dass du das nicht weißt.“ Später kam er wieder raus und wir lebten weiter so unpersönlich mit- und nebeneinander her. Bis ich von Bremen wegging und der Kontakt abbrach. Es war eine tote, eine leere Zeit. Ein Auerhaus hätte das vielleicht gelindert. Grundsätzlich anders wär es nicht gewesen, wie ich jetzt in diesem Buch nachlesen konnte. Schade.
Irgendwie ist unsere Zeit jetzt schöner. Trotz rechtem Zeitgeist und drohender Katastrophen rings um das Wohlstandsland Deutschland. Oder vielleicht sogar deshalb. Vielleicht brauchen die Menschen ein bisschen Stress, um zu sich zu kommen.

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Freitag, 4. Dezember 2015
Nochmal: Falscher Glanz oder ehrliches Mittelmaß – diesmal am Beispiel von Klaus Modick
Auf Klaus Modick wurde ich aufmerksam durch einen schönen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung, in dem er beschrieb, wie er Unterhaltungsschriftsteller wurde: indem er nämlich eher durch Zufall hinter das Erfolgsrezept kam und - einmal erfolgreich – lieber damit sein Brot verdienen wollte als sich brotlos um große Kunst zu bemühen, von der noch ziemlich unklar war, ob sie ihm je gelingen würde. Mir war das sehr einleuchtend, zumal mich dabei einige persönliche Parallelen anrührten: Wie Modick, nur 15 Jahre später, habe ich eine literaturwissenschaftliche Dissertation verfasst und dabei wesentlich mehr Spaß am Schreiben als an wissenschaftlicher Theorie gehabt, und Modicks Doktorvater Mandelkow bin ich in meinen beiden ersten Semestern auch noch begegnet: Er war es, der überhaupt erst mein Interesse an der wissenschaftlichen Seite der Literaturbetrachtung weckte, die dann einige Jahre mein berufliches Leben dominierte.
Ich las dann noch mehr von diesem Autor, viel Freude hatte ich auch an „Bestseller“, einer kolportagemäßig geschriebenen, aber hochkomischen Abrechnung mit dem Literaturbetrieb, in der er seinen Frust darüber ablässt, dass er, der beim „U“-Literatur-Schreiben immerhin noch Maß hält und es nicht übertreibt, ins Hintertreffen gerät gegenüber denen, die die Gruseligkeiten der jüngeren Vergangenheit recht skrupellos zu Lesefutter verarbeiten und das den Lesern dann auch noch als „e“ wie ernsthaft verkaufen, wie Hans Magnus Enzensberger z. B. mit seiner Anonyma oder dieser Frauen-Flüchtlings-Roman (den ich jetzt nicht namentlich erwähnen möchte, weil ich ihn nicht gelesen habe und nicht ganz ausschließen kann, dass er vielleicht doch nicht so schlecht ist). Auch viele von Modicks Büchern arbeiten nach dieser Methode: der Stoff die jüngere Vergangenheit, die Story eingängig, ein bisschen Bildung, ein bisschen Kolportage, ein bisschen Politik. Aber bei ihm ist es elegant („Sunset“), manchmal sogar richtig bewegend („Die Schatten der Ideen“) - und immer richtig klug.
Er weiß eben, wie’s funktioniert. Und dann wird man wahrscheinlich eben doch irgendwann schwach und sagt sich: Mit ein bisschen weniger Aufwand geht’s doch auch: Da nahm er die schöne Grundidee von „Sunset“: das gegensätzliche Künstlerpaar. Aus Feuchtwanger/Brecht wurden Vogeler/Rilke. Er machte es auch etwas eindeutiger, also platter (Rilke-Bashing kommt immer gut); am Ende noch genügend Worpswede-Folklore drangemischt: fertig. Und siehe da: Das Publikum liebt es. Mehr als seine besseren Bücher. Und da man bei Erfolg nie aufhören darf, sondern noch einen draufsetzen muss, kommt jetzt „Bestseller“ als Taschenbuch neu raus und tut so, als wäre es das nagelneue Werk „Vom Autor des Bestsellers „Konzert ohne Dichter“, wie das Cover verkündet (nirgends ein Hinweis auf die Erstveröffentlichung). Das funktioniert garantiert.
Sogar bei mir, der „Bestseller“ damals als Bibliotheksexemplar, also auf Staatskosten, las, und als ich es jetzt in der Buchhandlung liegen sah, kamen schöne Erinnerungen hoch – und ich habs mir jetzt doch gekauft und les es nochmal, mit Genuss.
Dabei ist es ein schwacher Trost, dass ich vor einigen Monaten auf dem Grabbeltisch mit den aussortierten Titeln der Bücherhallen nicht den dicken Roman von der „Mittagsfrau“ kaufte für einen Euro, sondern Modicks schmales Bändchen „Moos“, das sich dann zwar nicht als das große Kunstwerk darstellte, als das er es selbst in seinem Essay angepriesen hatte, aber doch als ein qualitätvolles, kluges, sympathisches Buch, kein Geniestreich, sondern solides, ehrliches Mittelmaß. Warum liest man nicht mehr davon?

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Samstag, 3. Oktober 2015
Je eine Buchempfehlung zum Jahrestag der deutschen Einheit
Vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk gab es eine Reportage über ein Schulprojekt irgendwo in Hessen, bei denen die Schüler den DDR-Alltag mit Fahnenappell usw. nachspielen konnten, denn – so die ossigeborene Lehrerin – man müsse schon in die Vergangenheit eintauchen, um den Ost-West-Gegensatz zu erleben, heutzutage gebe es da ja keine nennenswerten Unterschiede mehr. Vermutlich hatte sie dabei Supermarktregale und Werbeflächen im Auge, die sich tatsächlich in ganz Deutschland (und darüber hinaus) so ziemlich gleichen – und nicht etwa Vermögensverhältnisse. Schließlich hat man als DDR-Bürger ja gelernt, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse jenseits des öffentlich gepflegten Diskurses unter keinen Umständen thematisiert werden dürfen.
Na ja, aber mal Lästerei beiseite (es ist doch eigentlich normal, dass politische Aufklärung in der Schule zu allerletzt ankommt): Das Schöne an der vergangenen Zeit seit 1989 ist doch, dass sich die Wogen der Aufregung glätten und man beginnen kann, normal über die Dinge zu reden. Jens Wonneberger hat mit seinem aktuellen Roman „Sture Hunde“ etwas geschafft, das er noch 1999 mit seinem als Wenderoman gedachten „Wiesinger“ verfehlte: die Lebensverhältnisse in der ostdeutschen Provinz darzustellen und dabei die historisch-politische Situation weder zu verschweigen noch zu romantisieren – sie ist einfach dabei, wie ja die Vergangenheit bei uns allen Teil der Gegenwart ist. In „Sture Hunde“ geht es um einen Mann, der aus dem Dorf in Stadt gegangen ist, ohne sich dort je zu verwurzeln, und der nun zurück in sein Dorf, seine Heimat kommt, wo jeder Grashalm mit Bedeutung aufgeladen ist und warme Gefühle auslöst, ganz zu schweigen von den alten Kumpels oder gar der Nachbarin und Jugendfreundin. Und der am Ende wieder von dort weggeht, obwohl er nirgendwo anders heimisch sein kann. Sehr treffend. Besonders gut: die subtile Schilderung der Art, wie politische Vergangenheit Teil der Persönlichkeiten wird – der Enkel des LPG-Gründers hat eine andere Ausstrahlung als der Sohn des Gastwirts, der alte Landbesitzer bewegt sich anders als der Bürgermeister oder der Treckerfahrer – und das, obwohl sie in erster Linie individuelle Charaktere haben, ihr gesellschaftlicher Habitus nur ein kleiner Teil der jeweiligen Persönlichkeit ist.
„Sture Hunde“ ist übrigens im Jahr 2012 erschienen, im selben Jahr wie das westdeutsche Dorf-Buch, das ich ebenfalls in den letzten Wochen gelesen habe: „Brandhagen“ von Hinrich von Haaren. Auch dieses Buch ist sprachlich so qualitätvoll, dass es wohl nie auf irgendeine Bestsellerliste kommen wird. Auch hier wird der Mikrokosmos eines Dorfes treffend und genau beschrieben bis in die Einzelheiten kleinster Gewohnheiten, verschwiegenster Geheimnisse. Aber der Fokus ist ganz anders, westdeutsch eben: Es geht um Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse. Politisches, gar Historisches spielt gar keine Rolle, was natürlich die Verwerfungen der Sexualität inklusive der Konsequenzen im dörflichen Zusammenleben noch einmal größer und bedrohlicher werden lässt. Entsprechend ist es in diesem Buch gar keine Frage (wie in „Sture Hunde“), sondern eine Selbstverständlichkeit, dass man das Dorf verlässt: Der Autor von „Brandhagen“ lebt jetzt in London, das man als Metropole des europäischen Finanzkapitals kennt – der Autor von „Sture Hunde“ wohnt dagegen in Dresden, das im Moment eher mit Pegida assoziiert wird.

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Mittwoch, 19. August 2015
graphic novels
In diesem Urlaub habe ich nun zum dritten Mal so etwas gelesen, was man als "graphic novel" bezeichnet. Und wenn man aufgrund dieser hauchdünnen Datenlage schon ein Urteil abgeben könnte, dann wäre es dieses:
Es ist wie Hiphop. Der kühle Kopf muss anerkennen, dass hier Qualitätvolles entsteht. Aber ich mags nicht. Ist mir zu machohaft.

P.S. Die Bücher waren:
- "Nietzsche" von Michel Onfray und Maximilien Le Roy
- "Alois Nebel" von Jaroslav Rudiš / Jaromír 99
- "Die Sache mit Sorge" von Isabel Kreitz

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Donnerstag, 11. Dezember 2014
Ausreise in die Mündigkeit: „Westen“ von Christian Schwochow
Nach allem Gemecker über "Bornholmer Straße" und „Novemberkind“ habe ich nun einen richtig guten Schwochow-Film gesehen: „Westen“. Eigentlich wollte ich ja das Drehbuch lesen, da ich es so verrückt fand, dass es sowas im Netz gibt, wie arboretum verriet. Aber dann hab ich mir s doch mit einem Wein vorm Fernseher bequem gemacht.
Ästhetisch machte der Film erstmal nicht so viel her, was auf mich dann besonders stark wirkte, denn nach der Optik der ersten Minuten erwartete ich einen der üblichen DDR-Aufarbeitungsfilme und war dann umso überraschter, als ich hier in eine Geschichte verwickelt wurde, die es wirklich in sich hat.
Die Hauptfigur, Nelly, reist nach dem Tod ihres Mannes mit ihrem Sohn in den Westen aus, per Scheinheirat. Dort, im Notaufnahmelager, nimmt sie der amerikanische Geheimdienst in die Mangel, denn ihr verstorbener Mann war, wie sie nun erfährt, ein Doppelagent, und man vermutet, dass sein Tod nur fingiert war. Nelly lässt sich auf eine kurze Affäre mit dem amerikanischen Geheimdienstmann ein, wohl auch, um mehr, Genaueres zu erfahren. Aber der scheint gar nicht mehr zu wissen, warnt sie nur vor möglichen Stasi-Spitzeln in ihrem persönlichen Umfeld. Daraufhin fällt Nellys Verdacht auf Hans, einen ehemaligen DDR-Häftling, den sie im Lager kennen gelernt hat und der im Begriff ist, sich mit ihrem Sohn und ihr anzufreunden. Am Ende verlassen Nelly und ihr Sohn das Lager und damit die Zone der gegenseitigen Verdächtigungen. Sie ziehen in die Wohnung, die Hans ausfindig gemacht hat, und lassen diesen dort auch ein, als er zu Weihnachten klingelt.
In „Westen“ werden neben Deutsch zwei weitere Sprachen oft gesprochen: russisch und amerikanisches Englisch. Und tatsächlich bestimmt die Grundstruktur des Kalten Krieges auch diese Geschichte. Die Hauptfigur Nelly weiß es anfangs nur noch nicht. Sie muss erst in den „Westen“ gehen, um ihr bisheriges DDR-Leben nachträglich zu begreifen. Wie wahr!
Am Beginn ist Nelly naiv. Ihr Mann, der Russe, ist geheimnisvoll und zärtlich, und pflegt in Abständen immer wieder zu verschwinden. Nelly bewundert das. Als der Mann dann irgendwann für immer wegbleibt, hält es auch sie nicht mehr in der DDR, und prompt begegnet sie dem westlichen Spiegelbild ihres schönen Russen, dem schönen Amerikaner, einem attraktiven Schwarzen. Neben diesem wirken der westdeutsche Geheimdienstler und überhaupt die ganzen westdeutschen Lagerverwalter piefig, beinahe fies in ihrer subalternen Art. Nicht anders als die Subalternen in der DDR, die auch nicht mehr zu ertragen waren, nachdem Nelly ihren Mann, ihren Kontakt ins Internationale und nach Moskau, verloren hatte.
Das Leuchten, das erste Glücksgefühl, endlich im Westen und entronnen zu sein, vergeht schnell. Nelly und ihr Sohn Alexej schließen sich einer deutsch-russischen Familie an, die vital die Möglichkeiten des Westens nutzt. Später entsteht der Kontakt zu Hans, dem DDR-Oppositionellen, dem verkorksten Charakter, dem der Absprung aus dem Lager in die westdeutsche Wirklichkeit nicht gelingen will. Mich hat dieser Erzählstrang besonders bewegt: Denn es ist ja der kleine Alexej, der Vaterlose und Verlorene, der in dem seelisch zerstörten Hans eine gleichgesinnte Seele und einen Vaterersatz erkennt und ihn zu sich heranzieht, während die Mutter Nelly, frisch vom Rendevous mit dem Amerikaner kommend, in ihm vor allem einen Stasi-Spitzel sieht.
Am Ende kulminiert der Konflikt darin, dass die Lagerinsassen, dominiert von den Russen, Hans verprügeln und demütigen. Alexej nimmt Partei für Hans. Nelly ist sich unschlüssig.
Doch dann – die Russen sind inzwischen auch aus dem Lager ausgezogen – nimmt sie Hans‘ Vorschlag an und mietet die Wohnung, die Hans für sie gefunden hat. Es ist Weihnachten und Alexej und sie sind glücklich. Der Film endet damit, dass Hans, der mit dem deutschesten aller Namen, klingelt, und es scheint, dass ihm aufgetan wird.
In dem Interview zum Film betont die Drehbuchautorin Heide Schwochow, dass es ihr wichtig war, nicht aufzulösen, ob Hans nun ein Spitzel war oder nicht. Emotional und was die Filmlogik betrifft, ist er es nicht. Keine seiner Verhaltensweisen im Film ist auffällig verdächtig. Einzig sein Charakter, sein Gebrochensein, sei Loser-Zynismus könnten in diese Richtung deuten. Aber das ist sehr vage: Durch Diktaturen Gebrochene eignen sich gut zu Spitzeln (Sascha Anderson), vielleicht sind sie aber einfach nur gebrochen (Jürgen Fuchs). Vielleicht müssen sie sich zwischen beidem entscheiden („Der Kuss der Spinnenfrau“).
Letztendlich ruft der Film dazu auf, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Logik des Kalten Krieges. Deutlich wird das an der ergreifenden Geschichte des Kindes. Der Kalte Krieg nahm ihm den Vater, der Kalte Krieg konfrontierte ihn mit der Verachtung durch die Westdeutschen, die Erfüllungsgehilfen der Amerikaner. Nur Hans, der mit dem einheimischen Schicksal, kann ihm ein Vater sein. Und wenn es zu diesem Schicksal gehören sollte, in Stasi-Fiesheiten verstrickt gewesen zu sein – nun, dann war es so. Das lese ich aus dem Film. Und bin nicht sicher, ob ich es unterschreibe. Aber wahrscheinlich schon.

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Freitag, 7. November 2014
Kürzestrezension: „Bornholmer Straße“
Ich weiß nicht, ob Sie das gesehen haben (ich als bekennender Ossi musste natürlich): „Bornholmer Straße“ von Christian, Heide und Rainer Schwochow in der ARD. Um mein Urteil vorweg zu nehmen: Das war ganz okay, regte keinen auf, war aber völlig verzichtbar – ein glattes, witziges Stricken an einem Mythos, den man sich getrost um 20.15 Uhr ansehen kann, der keinem weh und jedem wohltut und jegliche ernsthaften Konflikte außen vor lässt.
Wie kommt sowas zustande? Ganz einfach: Heide Schwochow hat in der DDR erst Pädagogik, dann Philosophie studiert („ein Studium, das in diesem Land kein Studium, sondern eine Gehirnwäsche war“, wie Martin Ahrends richtig bemerkte), bevor sie zum Rundfunk der DDR ging, also dem so ziemlich einzigen staatsnahen Bereich in der DDR, wo es nicht völlig doof zuging. Dort lernte sie Rainer Schwochow kennen, der nach einer gescheiterten Republikflucht zwar nicht wie üblich inhaftiert wurde, aber einige Jahre „Bewährung in der Praxis“ als Hilfsarbeiter absolvieren musste, ehe er ebenfalls beim Rundfunk unterkriechen konnte. Die beiden, die abtrünnige Funktionärin und der reuige Sünder, heirateten und gründeten eine Familie. Ihr Sohn Christian Schwochow verfilmt jetzt ihre Drehbücher.
Was für eine Familienverstrickung! Das ist ja klar, was dabei rauskommt! (Wenn meine Frau, in der DDR Ausreisekandidatin, und ich, damals Elitestudent, unsere Erinnerungen zusammenpacken wollten, da würde eine ähnliche Klischeesoße rauskommen, halt der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle irgendwie einigen können).
Was das Stilistische betrifft, orientiert sich „Bornholmer Straße“ natürlich an „Feuerwehrball“ von Milos Forman, der damit 1967 die Form vorgab, mit der man den realen Sozialismus am besten parodiert. Ja, eigentlich ist „Bornholmer Straße“ ein „Feuerwehrball“-Remake, nur ohne das anarchische Element, ohne Biss und ohne eine irgendwie lebendige Bevölkerung. Im Gegenteil: Bei den Schwochows sind die Ossis alle lieb, angepasst und doof, wie es sich gehört. Da mag ja ein Stückchen Wahrheit dran sein. Schön ist es nicht.

... und wenn Christian Schwochow mal Lust haben sollte, einen tatsächlich spannenden Film zu drehen, dann könnte er doch das Leben seiner Eltern verfilmen.

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Montag, 20. Oktober 2014
NS-Aufarbeitung: Schuld-Klischee und wirkliche Schuld
In der letzten Zeit habe ich zwei Bücher gelesen, in denen Söhne nach ihren Vätern fragen, was die so gemacht haben in der Nazizeit: „Mein Vater, der Deserteur“ von René Freund (sehr gut) und „Heimat. Eine Suche“ von Thomas Medicus (weniger). Jetzt war ich in den Ferien eine Woche wandern im Harz und da stand in der Buchhandlung von Thale etwas dazu Passendes: „Meines Vaters Land“ von Wibke Bruhns, das Buch einer Tochter über ihren Vater in der Nazizeit. Es war wahrscheinlich deshalb dort so prominent ausgelegt, weil Bruhns’ Vater, Johannes G. Klamroth (genannt HG), Harzer war: der Sohn des maßgeblichen Industriellen von Halberstadt am Harz, später selbst ein Harzer Honoratior. Ich nahm mir das Buch gleich mit und las es dieses Wochenende.
Ich mochte daran vor allem das, was Bruhns aus spezifisch weiblicher Sicht mit hineinbringt: die Geburten der Mutter und welche Rolle der Vater dabei spielt, die Ehebruchsgeschichten, sein Charme und seine Aufschneidereien in geselligem Kreise ... Von dieser Seite her nähert sie sich ihrem Vater auf eine Weise, die den Charakter sehr gut deutlich werden lässt: Es war ein konventioneller, etwas labiler Mensch.
In politischer Hinsicht war das Buch leider ziemlich enttäuschend: Die Autorin versucht sich ihren Vater (den sie nie richtig gekannt hat – er wurde, als sie sechs war, im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichtet) mithilfe platter 68er-Klischees zu erklären: Sie fragt nach der Schuld des Vaters und biegt ihre Beobachtungen dabei auf Teufel komm raus auf das Klischee vom ideologischen Kollektivversagen der Vätergeneration zurecht – wobei sie die tatsächliche Schuld ihres konkreten Vaters glatt übersieht. Da mir dieser Denkfehler symptomatisch zu sein scheint, will ich ihn hier kurz erläutern.
Zunächst die Fakten, soweit ich sie dem Buch entnehmen konnte: J. G. Klamroth pubertiert spät und heftig, der ihm vorgezeichnete Weg als Firmenerbe will ihm gar nicht passen. Das kann man verstehen. In dieser Situation bietet sich ihm als Ausweg die Bewährung als Offizier im Ersten Weltkrieg an: Viel zu jung bekommt er viel zu viel Macht, an der er sich berauscht – seine Aufzeichnungen von der Ostfront sind von einer überheblichen Menschenverachtung gekennzeichnet. Die Autorin, seine Tochter, sieht hier schon eine Brutstätte dessen, was dann im Zweiten Weltkrieg geschieht. Das mag sein. Tatsache ist aber, dass er sich keiner außerordentlichen Kriegsverbrechen schuldig macht und nach dem Krieg – anders als seine Ideologie es nahelegt – auch nicht zu den Freikorps geht, sondern zurück auf den vom Vater vorgezeichneten Berufsweg, inklusive lokalpolitischer Betätigung, die traditionell gemäßigt rechts ist, nicht antibürgerlich rechtsradikal wie die mancher seiner bewunderten Offizierskameraden.
1933, Klamroth ist weder Antisemit noch mag er die Nazis besonders, gibt es, wie man weiß, einen Umsturz in Deutschland, die neuen Machthaber demonstrieren sehr schnell, dass es vorbei ist mit der Demokratie. Klamroth erwägt einen Kompromiss, ein Engagement beim „Stahlhelm“, konsultiert einen Bekannten, der dort im Vorstand tätig ist. Doch letztendlich entscheidet er sich, der deutlichen Aufforderung der neuen Machthaber nachzukommen, und tritt noch schnell vor dem Aufnahmestopp vom 1.Mai 1933 in die NSDAP ein – und, da ihm das allein doch zu blöd und proletarisch ist, auch in die SS, wo er sich als Reiter betätigen will (natürlich merkt er bald, dass er auch da verkehrt ist, und lässt die Sache ruhen). Als nicht verkehrt erweist sich aber das mit der NSDAP - sein guter Bekannter vom „Stahlhelm“ wird im Zuge des „Röhm-Putschs“ erschossen.
Im Krieg wird Klamroth, der aufgrund familiärer Verbindungen gut Dänisch kann, als Spionageoffizier nach Dänemark geschickt. 1941 bewirbt er sich an die Ostfront, wo er an verantwortlicher Stelle zur Partisanenbekämpfung eingesetzt wird. 1944 wird er im Zusammenhang mit dem 20. Juli verhaftet, und, da er von den Putschplänen wusste, ermordet.
Aber wie beurteilt nun Wibke Bruhns dieses Leben ihres Vaters? Zunächst zieht sie eine Verbindungslinie von den militaristischen Großmachtphantasien des jungen Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg zu seinem Eintritt in die SS 1933. Das ist sicher richtig, Ob, wie sie meint, auch die Tatsache, dass Klamroth so überschnell seinen Frieden mit den Nazis gemacht hat, damit zusammenhängt, da bin ich mir schon nicht so sicher.
Überhaupt: Seitenlang kann sie sich darüber empören, dass im Hause ihrer Eltern Hitler-Lieder gesungen wurden – so als bestände darin die eigentliche Schuld. Bruhns will uns weismachen, dass 1936/37 alle glücklich waren, bei den Klamroths wie in ganz Deutschland: „Man kann Autos kaufen zu moderaten Preisen ... Siedlungen über Siedlungen von Arbeiterhäuschen werden gebaut, die auch bezahlbar sind.“ Also, meine beiden Großväter (der eine eher rechts und der andere eher links) konnten die Nazis nicht leiden, so viel Kultur hatten sie schon (und J.G. Klamroth vermutlich auch). Barlach schuf seine berühmte Plastik „Das schlimme Jahr 1937“. Und vernünftige Arbeiterwohnungen wurden in den von Bruhns als so unsicher gekennzeichneten 20er Jahre Jahren, glaube ich, mehr gebaut als später zu Hitlers Zeiten.
Vor allem aber: Während Klamroths kritikloses, teilweise in der Tat übereifriges Sich-Einlassen mit dem Naziregime ziemlich dämonisiert wird von Bruhns („Großer Gott, ich dachte, ich hätte meinen Ekel und meinen Zorn verbraucht in all den Jahren, mein Entsetzen über die Gleichgültigkeit, die Anbiederei“), fällt ihr Urteil über die Kriegsverbrechen, die er später wirklich verübt, milde, ja verharmlosend aus: Klamroth hat 1942-43 die Erschießung etlicher Partisanen zu verantworten. Bruhns schreibt dazu: „Ich weiß nicht, wie ich mich dazu verhalten soll ... Soll ich mich empören, dass HG sie erschießen lässt? Keine Besatzungsarmee der Welt lässt sie gewähren und im Krieg schon gar nicht.“ Und später sogar offen lobend: „In dem einen Jahr hat er einen gut funktionierenden Laden dort installiert.“
Nimmt Bruhns in ihrer auch sonst manchmal spürbaren Aktengläubigkeit die Selbstschutz-Lüge Ihres Vaters (die Russen würden „zu diesem Weg gepresst, an dessen Ende nach völkerrechtlichen Bestimmungen der Tod durch Erschießen steht“) für bare Münze? Oder nimmt sie ihn bewusst in Schutz?
So oder so: Das Ende vom Lied ist, dass eine irgendwie allgemein böse Naziideologie den großen Dämon darstelllt, hinter dem konkrete Verbrechen einzelner Menschen, die aus dieser Ideologie heraus geschahen, verblassen. Das hat Wibke Bruhns sicher nicht gewollt, aber so wirkt es.
Das ist heute nicht anders, und wenn Sie mich kennen, wissen Sie, dass ich an den NSU-Skandal denke. Auch hier erkenne ich dieses Denkmuster: Da heißt es doch allgemein, gerade auch von links, schuld an dem Desaster sei die Tatsache, dass die Behörden auf dem rechten Auge blind gewesen seien. Und es sei alles nur passiert, weil die Polizisten, die Gesellschaft also letztendlich wir alle irgendwie viel zu rassistisch denken. Das ist alles nicht verkehrt. Aber es verschleiert den Blick auf konkrete Schuld: Da mögen doch Polizisten und Verfassungsschutzmitarbeiter denken, wie sie wollen. Es kommt darauf an, ob sie sich von solchem Denken zu Straftaten hinreißen lassen oder ob ihnen rechtsstaatliche Normen mehr wert sind als ihre privaten Ressentiments. Denn der NSU-Terror ist nicht passiert, weil alle weggesehen haben. Im Gegenteil: Er ist passiert, weil viele den Tätern aktiv geholfen haben. Und das ist strafbar und gehört ermittelt und bestraft. Und in diesem dringenden Auftrag hilft allgemeines Lamentieren über Rassismus nicht weiter, sondern nur konkrete Arbeit. Gott sei Dank gibt es Menschen, die diese Arbeit tun.

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Freitag, 2. Mai 2014
Eine Heldin meiner Jugend: Emily Dickinson
Obwohl es in meiner Familie keine Westverwandtschaft gab, tauchten manchmal in meinem Elternhaus Westler auf, Menschen von einem anderen Stern, die sich aufgemacht hatten, dieses unbekannte Territorium hinter dem Eisernen Vorhang zu erkunden.
Das betraf zunächst einmal meine Eltern. Ich war nur der Sohn. Natürlich nahm ich an den Gesprächen teil, ich interessierte mich durchaus auch für Kunst und Politik. Aber die Themen der Elterngeneration waren zweitrangig, solange meine eigenen Verhältnisse nicht geklärt waren. Nur einmal, ich war schon erwachsen, wohnte aber noch bei den Eltern, war dieser Westbesuch auch für mich etwas Besonderes: Eine Frau von Klemperer, US-Bürgerin, sprach in einer Begegnung nebenher mich selbst an, und wir kamen in einen guten, aufbauenden Dialog. Dessen Ergebnis: dass nach einiger Zeit ein Büchlein mit Versen von Emily Dickinson eintraf, die mir sie empfohlen hatte.
Ich habe das schmale Buch sofort in mein Herz geschlossen. Emily Dickinson machte mich vertraut mit einem religiösen Weltverständnis, in dem das Ich als kraftvolles Einzelnes seinen Platz hat im Weltganzen. Nicht wie bei den politischen Diskussionen, die ich kannte, wo es immer um „die da oben“ ging, die alles bestimmen und denen man machtlos ausgeliefert ist. Bei Emily Dickinson konnte das Ich durchaus auch mikroskopisch klein sein, sich nähren von Krümeln, die von Gottes Tisch fallen. Aber manchmal stand es auch als geladene Waffe in der Ecke. Bei ihr lagen die Toten unter den Marmorbögen der Ewigkeit und sprachen. Sie waren tot, keine Handelnden, aber nicht einmal sie waren stumm oder ohnmächtig. Dickinson zeigte mir, dass man nicht zu sich kommt, ohne nach innen zu gehen. Und ich begann, ihre Gedichte – nur für mich – ins Deutsche zu übersetzen.
Daran änderte sich nichts, als zwei Jahre später die DDR und mein bisheriges Leben zuende gingen. Es verschlug mich nach dem Westen, ich vergrub mich in einer Bremer Souterrainwohnung, abonnierte eine links-katholische Zeitung, die ich niemandem aus meinem Umfeld zeigen konnte, und übersetzte weiter Dickinson. Dass ihre Verse in Westdeutschland zum Allgemeingut gehörten und in ordentlichen Übersetzungen vorlagen, ignorierte ich, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verweigerte ich, sofern sie über den Medienkonsum hinausging. Einmal schrieb ich einen Leserbrief an die taz, weil mich die zögerliche Haltung der Linken im Jugoslawienkrieg nervte. Er wurde veröffentlicht und ich bekam kurz darauf Post von der militärpolitischen Sprecherin der Grünen: ob ich nicht mitarbeiten wolle. Ich erschrak und zog mich wieder weiter zurück.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Deutschland, das neue Deutschland, das jetzt schon über 20 Jahre das vereinigte ist, hat sich verändert. Der Sozialstaat bröckelt, die Tarifverträge schwinden dahin, die kritischen Fernsehmagazine, die damals den Ton angaben, gibt es fast gar nicht mehr. Die Grünen sind regierungsfähig, d.h. sie befürworten die Installation von Kriegen und Kohlekraftwerken. Allerdings kaufen jetzt auch normale Menschen Bio-Produkte, Türken können Minister oder Spielfilmregisseur werden und Ostdeutsche Bundeskanzler. Außenseiter-Meinungen muss man nicht mehr als Graswurzel-Blättchen vom Straßenverkäufer im Uni-Viertel erstehen – sie sind für jedermann im Internet einsehbar. Und werden auch eingesehen. Das Leben ist unsicherer und unübersichtlicher geworden, aber auch bunter, weniger normiert, und vielleicht fühle ich mich deshalb jetzt im neuen Deutschland zu Hause, gehe einem Beruf nach und habe eine Familie gegründet. An Emily Dickinson denke ich nur noch manchmal. Seit ich mich Mitte der neunziger Jahre wagte, bei Reclam eine zweisprachige Ausgabe ihrer Gedichte zu kaufen, habe ich nichts mehr von ihr übersetzt.

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