Sonntag, 2. April 2023
Ich nehme es als Bestätigung meines Vorurteils
Ich lese mal wieder ein Sachbuch, und es begeistert mich: "Transithandel" von Lea Haller. Da erfährt man so viele überraschende, aufschlussreiche Dinge, und manchmal bestätigt es auch Dinge, die ich irgendwie geahnt habe - zum Beispiel, dass die neoliberale "Deregulierung" gar keine Deregulierung ist, die uns hilflos irgendwelchen naturgegebenen Marktkräften überlässt, sondern einfach eine andere Art von Regulierung, da ja schließlich jede Art von Handel und Markt nach irgendwelchen Vereinbarungen "konfiguriert" sein muss (wie es Haller nennt), sonst könnte ja gar kein Geschäft zustande kommen.

Oder eben heute Morgen im Bett, als ich das inhaltlich interessante, aber gedanklich dünne "Essay und Diskurs" im Radio ausschaltete und lieber zum Buch griff:

In meiner naiven Art habe ich die Ökonomie schon lange für so etwas Ähnliches gehalten wie den Marxismus-Leninismus in meiner ostdeutschen Jugendzeit: eine Hilfswissenschaft, bestellt die herrschenden Verhältnisse zu legitimieren - und also ein Gebiet, von dem man sich möglichst fernhält.

Haller zeigt historische Zusammenhänge auf, die meine private Abneigung stützen: "Timothy Mitchel hat gezeigt, dass das Konzept einer abgeschlossenen Sphäre, die man 'die Wirtschaft' nennt, erst in den Jahren zwischen 1930 und 1950 aufgekommen ist, insbesondere im Zusammenhang mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Möglich war das durch die radikale Umstellung vom Energierträger Kohle - einem begrenzten Rohstoff, dessen Abbau und Transport arbeitsintensiv waren und der deshalb die Entstehung nationaler Demokratien befördert hatte - auf den Energieträger Öl. Ö ist flüssig und scheinbar unbegrenzt vorhanden, weshalb 'die Wirtschaft' auf einmal als etwas Abstraktes vorstellbar wurde, das losgelöst von der politischen Sphäre exisitert. Dieser Prozess ging Hand in Hand mit dem Aufstieg der Wirtschaftswissenschaften zur relevanten Instanz steuerungspolitischer Extertise."

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Freitag, 31. März 2023
Zwei Arten Lehrerinnen – eine Augenblicksbeobachtung mit pauschalisierendem Titel
Neulich kam ich auf einer Party mit einer Frau ins Gespräch – hoch gewachsen, Pagenschnitt mit Mittelscheitel, darunter eine lange spitze Nase und zwei helle, kluge Augen. Natürlich Lehrerin, so wie ich, wie sich schnell herausstellte, sie am Gymnasium, ich an der Berufsschule. Aber mit Migrantenunterricht haben wir beide zu tun. Ich schnitt also zwecks Small Talk ein Thema an, das bei Migranten Unterrichtenden grad aktuell ist und auch mich im Moment beschäftigt: warum nämlich ukrainische Geflüchtete in extra Klassen unterrichtet werden, während alle anderen Nationalitäten sich in allgemeinen Migrantenklassen wiederfinden. Aber sie mochte das Thema gar nicht so gern.

„Ja, ich weiß“, sagte sie, „ich hab davon gehört, dass das diskutiert wird, die eventuell gemeinsam zu unterrichten. Aber das muss man doch mal sehen, dass das ganz was anderes ist …“ und nein, sie kam jetzt nicht mit dem Argument von der kulturellen Nähe als Europäer, sie war ja keine rechte Dumpfbacke, sie sprach ganz ehrlich: „… also, die Ukrainer sind doch viel strukturierter, die kommen doch aus Mittelschichtsfamilien, und dann die Mütter, die da hinterher sind, dass die Kinder was lernen – ich meine, viele von denen machen den deutschen Schulabschluss und den ukrainischen online gleichzeitig auch noch, das ist doch enorm – während die anderen, ja, also schon allein mit ihren Aufenthaltsproblemen, das sind doch Lernhindernisse …“ … dass es mit den Unterschichtlern aus der dritten Welt eh zwecklos ist, wagte sie so direkt nicht zu sagen.

Also aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass die aufenthaltsrechtlichen Schikanen (um das Ding mal beim Namen zu nennen) wirklich ein erhebliches Lernhindernis darstellen können. Die Leute sind vor Angst wie blockiert und kriegen nichts mehr rein in den Kopf. Allerdings kann ein unter Lebensgefahr an der ukrainischen Front befindlicher Vater ganz ähnliche Blockaden hervorrufen, auch das hab ich erlebt. Bringt nicht halt jeder seine Probleme mit? Oder, wie eine afghanische Schülerin angesichts eines Konflikts mit der Ukrainerklasse sagte (und dieser Konflikt entstand meines Erachtens genau aus dieser Klassentrennung): „Die denkt wohl, ich hab noch keine Leiche gesehen, was weiß die denn ...“

Zum Glück gibt es dann die Lehrerinnen mit dem Herz für die Unterschichtler. Ich denke an eine Kollegin, wie sie mit ihrer großen Kladde ankommt, in die sie die Ergebnisse aus den vielen individuellen Schülergesprächen einträgt, ihr knochiges Gesicht mit der billigen lila Lesebrille. Die paddingtonartige Kunstfellmütze, wenn sie ihre Schützlinge zu den Ämtern begleitet. Sie kennt alle Förderprogramme des Jobcenters mit ihren jährlichen wechselnden Namen und Rahmenbedingungen und den immer gleichen Inhalten. Ihre überschießenden Spekulationen zu den Ursachen der Probleme: „Dass die Schülerin immer so müde ist, so unkonzentriert, das könnte natürlich auch an der Schilddrüse liegen, eine Verwandte von mir hat das, da gibt es ein gutes Medikament, aber sie, sie verweigert sich ja jedem Arztbesuch …“ oder „… in der Diagnose von der KJP (Kinder- und Jugendpsychologin) steht ja was von mittelschwerer Depression – also, auf mich wirkt der Schüler eher autistisch, ich weiß nicht, wie die da drauf kommen …“ Natürlich hasst diese Kollegin Baerbock und die NATO – sie kommt halt aus einem andern Milieu als die erstgenannte Kollegin.

Ach so, und da wir grad beim Sozialen sind: Natürlich ist die erstere Beamtin, die andere keine „echte“ Lehrerin, sondern outgesourcte Billigkraft mit halbjährlich verlängertem Vertrag. Ich vergleiche mal wieder Äpfel mit Birnen. Ist aber beides Obst.

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Sonntag, 12. März 2023
Kontakte zu den üblichen Verdächtigen
In Hamburg hat ein Amokläufer mit einer halbautomatischen Pistole etliche Menschen erschossen, allesamt Zeugen Jehovas. Natürlich rätselt man jetzt über die Motive des Täters. Es heißt, er habe im Internet krude religiöse Ansichten vertreten, und die Frage ist, ob er vielleicht psychisch krank war und man ihm daher die Waffe und die vielen hundert Schuss Munition hätte entziehen müssen, die er in seiner Wohnung lagerte.

Dabei muss natürlich die Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Auch Zeugen Jehovas vertreten krude religiöse Thesen – das weiß jeder, bei dem sie schon mal an der Haustür geklingelt haben, und der sich mit ihnen in ein Gespräch eingelassen hat. Allerdings erschießen sie in der Regel keine anderen Menschen. Das könnte vielleicht daran liegen, dass sie keine Waffen und keine Munition in ihren Wohnungen horten.

Außerdem frage ich mich, wieso die psychische Gesundheit ein Kriterium dafür sein soll, ob jemand Waffen und Munition in seiner Wohnung anhäufen darf. Ist ein psychisch gesunder Mensch, der mehrere hundert Schuss Munition und eine Waffe in seiner Wohnung liegen hat … ja, kann so einer überhaupt als psychisch gesund bezeichnet werden? Und selbst wenn, ist er dann ungefährlich? Wenn er seine Amoktat nicht aus irrationalen religiösen oder politisch extremistischen Motiven, sondern nach streng wissenschaftlichen Kriterien durchführt – ist das dann vielleicht sogar erlaubt?

Unsinnig finde ich auch die Ansicht, einem Sportschützen müsse es erlaubt sein, eine Waffe zu Hause zu haben. Wieso eigentlich? Wenn ich rudern gehe, nehme ich den Einer auch nicht mit nach Hause. Weil ich zum Rudern ein Gewässer brauche. Nicht anders beim Sportschützen: Braucht der nicht zum Schießen einen Schießstand? Oder darf der zu Hause überm Sofa eine Zielscheibe aufhängen und dann gehts los?

Acht tote Menschen, einer davon ein Fötus von 7 Monaten … wie jetzt? Kann jemand schon vor seinem Geburtstag sterben, als Mensch? Natürlich weiß ich, dass ein Fötus sterben kann, die meisten tun das gleich zu Beginn der Schwangerschaft. Auch abgetriebene Föten sterben. Und sie sollen, müssen betrauert werden, wenn die Sache wieder ins Gleichgewicht kommen soll. Aber es sind keine Menschen, sie werden keine Toten. Andernfalls müsste man das Abtreibungsrecht ändern.

Also, Sie merken, worum es mir geht: Wenn etwas Schreckliches passiert, dann finde ich es zu einfach zu sagen: Ach ja, die Religiösen, die Extremisten, die Fanatiker warens, die anderen eben. Wir selber sind völlig rein, völlig unschuldig, einer von uns könnte sowas nie tun. Jan Böhmermann hat mit Entsetzen festgestellt, dass es Kontakte von Waldorf-Lehrern zu Querdenkern gibt. Ist das wirklich so schrecklich oder zeigt es vielleicht nur, dass die Lehrerschaft dort in verschiedene politische Richtungen offen ist. So what?

Es gibt auch grüne Politiker, die Kontakte zu Kriegstreibern haben. Einer von denen war sogar mal Außenminister (und der jetzigen traue ich auch nicht so recht über den Weg). Da könnte ich mich jetzt auch wie Böhmermann hinstellen und wegen solcher Kontakte die ganze grüne Partei als Macht des Bösen hinstellen, wie das manche machen. Aber auch das oder das ist Politik grüner Politiker. Es lebe die Vielfalt.

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Mittwoch, 1. März 2023
Wo soll ich jetzt langfahren?
Also, mal das Positive vorweggeschickt: Ich freue mich, dass man in Hamburg neuerdings darüber nachdenkt, wie der Fahrradverkehr sinnvoll geregelt werden könnte. Die Horrorstrecke Reeperbahn zum Beispiel hab ich seit Jahren vermieden – heute fuhr ich sie mal wieder, und war begeistert: Die neue Bus- und Radspur war ein echtes Erlebnis (und die Autos können auf die verlorene zweite Spur wirklich verzichten, da ja niemand die Reeperbahn als Hochgeschwindigkeits- und Durchrasestrecke verwendet oder verwenden sollte.)

Als allerdings am Spielbudenplatz ein Bus hinter mir auflief, bin ich dann doch wieder wie gewohnt auf den Fußgängerweg ausgewichen (zumal dort nur völlig orientierungslose Menschen den Fußgängerweg direkt an der Straße benutzen anstatt des gemütlichen Schlenderwegs entlang der vereinigten Littmannschen Lokalitäten) …



Aber wie soll ich mich nun hier verhalten? Ich weiß, hinter der nächsten Kurve, das wird’s echt eng, sowohl auf der Fahrbahn wie auf dem Fußgängerweg, wie das eben so ist in Altstadtstraßen. Soll ich den alten Radweg (rechts: rot) benutzen und wie gewohnt den Fußgängern in die Parade fahren? Oder soll ich der neuen Empfehlung folgen und mich in den Kampf mit den Autos um die enge Fahrbahnfläche begeben?

Zumal mir bewusst ist, dass ein – zwei Sträßchen weiter der Kampf gegen die Autos nicht gerade dem Ausgleich verschiedener Interessen, sondern der Verdrängung der allerletzten Einzelhändler zugunsten von noch mehr Gastro-Kommerz dient.

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Sonntag, 26. Februar 2023
Naiver Vorschlag
Mein naiver Vorschlag: eine breite entmilitarisierte Zone in Osteuropa durch die baltischen Staaten, Ostpolen und die Ukraine und auf der anderen Seite der russisch/weißrussischen Grenze ebenso breit. International kontrolliert. Wie wäre das? (müsste natürlich so schmal sein, dass Moskau nicht berührt wird - und ebenso so schmal auf der andren Seite, sodass die genannten Länder nicht gänzlich entmilitarisiert würden) Und Polen und baltischen Staaten bliebe ja auch bei weitgehender Entmilitarisierung die NATO-Mitgliedschaft als zusätzliche Garantie, die Ukraine müsste sich dann ohne weitere Garantie mit dem Abzug der russischen Truppen begnügen und Putin könnte seinem Volk wenigstens den überwiegenden Abzug von NATO-Truppen aus Osteuropa als Erfolg verkaufen.

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Freitag, 17. Februar 2023
Kulturpessimistische Betrachtung im Park von Sanssouci
Der hintere Teil vom Park Sanssouci in Potsdam wurde im 19. Jahrhundert als Landschaftsgarten gestaltet: Verschlungene Wege führen in weiten Kurven scheinbar nirgendwohin, durch kleine Gehölze und über Wiesen, sodass sich vielfältige, oft überraschende Ausblicke auf ferne Baumgruppen, Tempelchen, Statuen oder Villen ergeben, aber natürlich führt der Weg am Ende doch zu einem Ziel: einem Schloss, einem Parkausgang, einem Rondell, ... - denn es ist ja kein Irrgarten, sondern ein kunstvoll ersonnenes System zum anregenden Spazierengehen. Und ermöglicht ein wunderbares Erlebnis, sofern man sich ihm hingibt.

Im 20. Jahrhundert, als der Park öffentlich wurde, überwachten "Parkeulen", dass sich die Besucher auch angemessen hingeben, anstatt einfach die Wege zu verlassen.

Im 21. lassen sich die Parkbesucher nicht mehr von Wegen tyrannisieren: Erscheint ein reizvolles Objekt in einer Blickachse, dann latschen sie drauf zu, quer über die Wiese.

Ist es nicht ähnlich mit der Diskussionskultur im öffentlichen Raum? Früher durften überhaupt nur Eliten sich daran beteiligen. Später dann, in demokratischen Zeiten, konnten dann schon alle mitmachen, hielten sich aber brav an die durch Aufklärung und Vernunft vorgezeichneten Wege, überwacht von intellektuellen Autoritäten. Jetzt latscht jeder querfeldein, direkt auf die Villa zu, die ihm verschlossen bleibt, wie sie es schon immer war, nur dass er sich als Individualist und Querdenker fühlt, weil er den vorgezeichneten Weg verließ, um einer ebenso vorgezeichneten Verlockung plump zu folgen und dabei ein paar Blumen zu zertrampeln.

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Freitag, 27. Januar 2023
Eine Geschichte, an der nichts stimmt
Wieder ein zufälliger Griff im Buchladen: Adania Shibli "Eine Nebensache". Ein schmaler Band von 100 Seiten, "Roman" steht vorne drauf. Komisch, denke ich: ein bisschen kurz für einen Roman. Der Klappentext verrät, dass es um den jüdisch-palästinensischen Konflikt geht, ein kurzes Reinlesen stehend im Laden zeigt, dass hier jemand klar und präzise erzählt, und offenbar von konkreten Einzelereignissen, nicht von den großen Linien der Politik, die der Wahrheitsfindung so oft hinderlich sind. Gut, ich kaufe es.

Also, ein Roman ist das tatsächlich nicht. Es ist eine Erzählung, genauer: eine Doppelerzählung – erst läuft die erste Erzählung ab, einfach und geradlinig, dann die zweite, auf dieselbe Art.

Die erste Erzählung schildert einen militärischen Vorfall in der Negev-Wüste aus dem Jahr 1949. Ein Trupp Soldaten schlägt sein Lager auf und durchstreift die Wüste auf der Suche nach Arabern. An einer Oase treffen sie auf Beduinen, erschießen die Männer, nehmen ein Mädchen fest, das sie später im Lager vergewaltigen und dann ebenfalls ermorden. Das Ganze detailgenau erzählt aus der Sicht des Kommandeurs. Aber irgendwie merkwürdig: Wir sehen jedes kleine Detail, das er sieht - nur die eigentlichen Verbrechen, die Erschießungen und Vergewaltigungen, bleiben ausgespart und werden dem Leser nur durch Andeutungen klar, und außerdem sehen wir zwar alles mit den Augen des Kommandeurs, erfahren aber null und nichts von seinen Gefühlen, Überlegungen und Beweggründen. So bleibt die Geschichte, so brutal sie ist, leer und lässt mich als Leser ratlos zurück.

Die zweite Erzählung bringt dann ein bisschen Licht ins Dunkel. Wir haben nun eine Ich-Erzählerin, eine palästinensische Frau aus dem besetzten Gebiet, eine unsichere, vor Panik flatternde Frau, der es nicht gelingt, die täglichen Schrecken der Besetzung auch nur für einen Moment zu verdrängen und zu sich zu kommen. Ganz typisch für so einen Menschen: Einerseits starrt sie wie das Kaninchen auf die Schlange immer wieder auf die (in der Tat monströsen) Ungerechtigkeiten, die ihr und den ihrigen täglich widerfahren, gleichzeitig nimmt sie in vorauseilendem Gehorsam oft deren Sichtweise ein: Sie beschuldigt sich selbst, ein Mensch zu sein, der tolpatschig immer wieder Grenzen übertritt - ohne mal zu fragen, ob diese Grenzen nicht vielleicht ihre normalsten Bedürfnisse beschneiden oder ob es - in anderen von ihr genannten Fällen - nicht einfach Grenzüberschreitungen aus Trotz und Wut sind. Denn ihre eigenen Gefühle nimmt sie nicht wahr und beschuldigt sich selbst absurderweise des Narzissmus. Und sie fühlt sich "schwach und hilflos wie die Bäume", die "der Wind erbarmungslos in alle Richtungen biegt". Nun, solange die Bäume nicht brechen oder umstürzen, kann ich daran nichts Hilfloses finden.

Diese Ich-Erzählerin erfährt durch einen israelischen Zeitungsartikel von dem Vorfall aus dem Jahr 1949 und macht sich auf, die Geschichte des Mädchens genauer zu recherchieren. Sie leiht sich von einer Jerusalemer Kollegin einen Ausweis (denn mit ihrem könnte die Fahrt kompliziert werden), ein Freund mietet ihr ein Auto, und sie fährt nach Israel, um Näheres zu erfahren. Natürlich findet sie in israelischen Museen nichts Neues (außer Details zu Ausrüstung und Bekleidung der Soldaten damals), sie glaubt später am Ort des Geschehens zu sein, erkennt später ihren Irrtum und findet den richtigen Ort. Am Ende folgt sie einer spontanen Intuition und entdeckt eine Oase in militärischem Sperrgebiet, wo Soldaten das Feuer auf sie eröffnen.

Nun erkennt der Leser die erste Erzählung als Produkt der Ich-Erzählerin und begreift, warum sie so hirnlos und täterfixiert daherkommt: Es ist der gescheiterte Versuch der Ich-Erzählerin, die Geschichte des Opfers zu erzählen, voller irrelevanter (die Bekleidung der Soldaten) und falscher Details (der irrtümlich angenommene Ort des Geschehens). Und das Mädchen, dessen Geschichte ja eigentlich erzählt werden sollte, erscheint nur als sprachloses Objekt aus dem Blick des Kommandeurs. Es gelingt der Erzählerin nicht, dem Mädchen als Person nahezukommen - so wie sie sich selbst ja auch nicht nahekommt. Dazu passt, dass sie am Ende ihre eigene Erschießung imaginiert: Sie schafft es nicht, dem Opfer eine Würde zu verleihen, also versucht sie, sich in dessen Würdelosigkeit einzufühlen.

Nein, Frau Shibli, wenn die Geschichte des Opfers verloren ist, dann ist es so. Es genügt, des Opfers zu denken und vor allem nicht immer wieder die Geschichte der Täter zu repetieren! Man kann die Ohnmacht auch herbeireden: Wenn die Erzählerin mit einem falschen Ausweis reist, um sich diese oder jene Schikane zu ersparen, und die Soldaten mit ihren unzähligen Kontrollposten nichts merken - wer ist dann eigentlich hilflos? Und ja, es ist ungerecht, dass Israel palästinensische Dörfer von der Landkarte verschwinden ließ, und diese Ungerechtigkeit gehört benannt. Aber warum nennt die Erzählerin im israelischen Alltag nicht ihren arabischen Namen? Stärkt sie damit nicht diejenigen, die die Araber weghaben wollen? Und schwächt die Araber, die es doch in Israel ziemlich viel gibt?

Wer bedrängt wird, ist nicht weg. Er soll nicht jammern, er soll "ich" sagen, "ich bin da und habe meine Rechte". Oder verlang ich da zu viel aus meiner deutschen Komfortzone?

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Montag, 16. Januar 2023
"Ein simpler Eingriff" von Yael Inokai
Jetzt hab ich mal einen Roman von der ganz jungen Generation gelesen. Der Name der Autorin war mir schon da und dort begegnet, und neulich im Buchladen lag da ihr Buch, ich hab reingelesen – und war gleich ganz angetan von der kühlen, eleganten, präzisen Sprache, die sich nicht in den Vordergrund drängt, sondern der Geschichte ihren Lauf lässt.

Inhaltlich geht es um eine Krankenschwester, die kaserniert in einem Schwesternwohnheim lebt und im Krankenhaus bei Gehirnoperationen assistiert, die brutal, neuartig und insgesamt wenig erfolgreich sind, um es gelinde zu sagen. Langsam emanzipiert sie sich von dieser Funktionswelt – privat durch die Liebesgeschichte mit ihrer Zimmerkameradin, beruflich, indem sie zunehmend ihre Verantwortung wahrnimmt, die Götter in Weiß hinterfragt und zu einem Gegengewicht zu ihnen wird; am Ende befreit sie mit ihrer Freundin eine Patientin.

Das Geschehen wird historisch nicht konkret verortet, aber der schmerzhaft treffend beschriebene Leistungs- und Funktionswahn, das Unterdrücken der Individualität, die technokratische Arroganz weisen schon ziemlich deutlich in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zumal ja auch die mysteriösen Hirnoperationen nicht zufällig an die Lobotomie erinnern, die diesem Geist und dieser Epoche entsprungen ist.

Überraschend, ja fast atemberaubend fand ich den Kunstgriff der Autorin, in diese eiskalte Technokratenwelt eine Ich-Erzählerin zu setzen, die mit der Feinfühligkeit eines heute im Überfluss der ersten Welt lebenden jungen Menschen die Lage peilt, feinste Machtdifferenzen erspüren kann und bis ins kleinste Gesten wie das Anheben einer Kaffeetasse richtig zu deuten weiß. Man fragt sich geradezu, weshalb sie sich nicht schon viel früher aus diesem plumpen, brutalen Apparat verabschiedet hat. Und noch mehr fragt man sich, woher sie ihre Sensibilität hat – aus ihrer zeittypisch unsensiblen Kinderstube (die ebenfalls recht treffend skizziert wird) kann es jedenfalls nicht sein.

Vor allem aber frage ich mich, warum ich hier an einem Text rumnörgle, der mich doch beeindruckt hat. Na, eben deshalb: Beeindruckt hat er mich, aber nicht auf seine Seite gezogen. Ich komm von der anderen, der romantischen Seite, ich mag die menschenfreundliche Spötterei eines Frank Schulz, die philosophische Melancholie eines Orhan Pamuk, die kratzbürstige Einsamkeit einer Judth Hermann – da bin ich zu Hause. Den disziplinierten, klug komponierten, fein, doch kühl und präzise gearbeiteten Text von Inokai kann ich bestaunen, mögen kann ich ihn nicht.

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Freitag, 30. Dezember 2022
Zweckpazifismus
Weihnachtszeit bedeutet auch, dass man Menschen trifft, die man länger nicht gesehen hat. Meine Frau, die politische Diskussionen meidet und dadurch oft den klaren Blick behält, meinte nur: "Komisch, dass X. jetzt so pazifistisch redet. Das war doch früher nicht seine Art." Ich fand das gar nicht komisch.

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Montag, 26. Dezember 2022
Übersetzungsprobleme
Auf dem Gabentisch lag auch Michelle Obamas neues Buch. Ich habe vorhin darin geblättert und stieß auf folgende Stelle:



Wieso kann Obama unbekümmert von Rasse sprechen, ins Deutsche übersetzt werden kann das aber nicht? Ja, ich weiß, ich kenne das Argument: "Sowas wie Rasse gibts überhaupt nicht." Den Weihnachtsmann gibts aber auch nicht, und trotzdem käme niemand auf die Idee, dass sein Name nur noch auf Englisch genannt werden dürfe.

Und wenn jetzt jemand meint, das läge daran, dass die Vorstellung vom Weihnachtsmann halt eine schöne Idee sei, die Vorstellung von der Existenz von Rassen aber eine überhaupt nicht schöne - nun, dann hat er natürlich Recht, unterliegt aber der Illusion, Voldemort würde aufhören zu existieren, wenn wir nur vermeiden, seinen Namen auszusprechen.

Obama spricht ein real existierendes Problem an (nämlich dass es Menschen gibt, die von anderen anhand angeblicher Rassemerkmale ein- und abgestuft werden), und ihre Mahnung könnte auch für Deutsch Sprechende von Bedeutung sein. Wenn man das nicht mehr beim Namen nennt oder nur auf Englisch, betreibt man Augenwischerei, befördert Rassismus durch Wegsehen.

Meine Frau meinte dazu nur: "Ach, deshalb hat das Buch fünf Übersetzer, wenn die sich um solchen Blödsinn kümmern müssen. Ich hatte mich schon gewundert."

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