Freitag, 27. Januar 2023
Eine Geschichte, an der nichts stimmt
Wieder ein zufälliger Griff im Buchladen: Adania Shibli "Eine Nebensache". Ein schmaler Band von 100 Seiten, "Roman" steht vorne drauf. Komisch, denke ich: ein bisschen kurz für einen Roman. Der Klappentext verrät, dass es um den jüdisch-palästinensischen Konflikt geht, ein kurzes Reinlesen stehend im Laden zeigt, dass hier jemand klar und präzise erzählt, und offenbar von konkreten Einzelereignissen, nicht von den großen Linien der Politik, die der Wahrheitsfindung so oft hinderlich sind. Gut, ich kaufe es.

Also, ein Roman ist das tatsächlich nicht. Es ist eine Erzählung, genauer: eine Doppelerzählung – erst läuft die erste Erzählung ab, einfach und geradlinig, dann die zweite, auf dieselbe Art.

Die erste Erzählung schildert einen militärischen Vorfall in der Negev-Wüste aus dem Jahr 1949. Ein Trupp Soldaten schlägt sein Lager auf und durchstreift die Wüste auf der Suche nach Arabern. An einer Oase treffen sie auf Beduinen, erschießen die Männer, nehmen ein Mädchen fest, das sie später im Lager vergewaltigen und dann ebenfalls ermorden. Das Ganze detailgenau erzählt aus der Sicht des Kommandeurs. Aber irgendwie merkwürdig: Wir sehen jedes kleine Detail, das er sieht - nur die eigentlichen Verbrechen, die Erschießungen und Vergewaltigungen, bleiben ausgespart und werden dem Leser nur durch Andeutungen klar, und außerdem sehen wir zwar alles mit den Augen des Kommandeurs, erfahren aber null und nichts von seinen Gefühlen, Überlegungen und Beweggründen. So bleibt die Geschichte, so brutal sie ist, leer und lässt mich als Leser ratlos zurück.

Die zweite Erzählung bringt dann ein bisschen Licht ins Dunkel. Wir haben nun eine Ich-Erzählerin, eine palästinensische Frau aus dem besetzten Gebiet, eine unsichere, vor Panik flatternde Frau, der es nicht gelingt, die täglichen Schrecken der Besetzung auch nur für einen Moment zu verdrängen und zu sich zu kommen. Ganz typisch für so einen Menschen: Einerseits starrt sie wie das Kaninchen auf die Schlange immer wieder auf die (in der Tat monströsen) Ungerechtigkeiten, die ihr und den ihrigen täglich widerfahren, gleichzeitig nimmt sie in vorauseilendem Gehorsam oft deren Sichtweise ein: Sie beschuldigt sich selbst, ein Mensch zu sein, der tolpatschig immer wieder Grenzen übertritt - ohne mal zu fragen, ob diese Grenzen nicht vielleicht ihre normalsten Bedürfnisse beschneiden oder ob es - in anderen von ihr genannten Fällen - nicht einfach Grenzüberschreitungen aus Trotz und Wut sind. Denn ihre eigenen Gefühle nimmt sie nicht wahr und beschuldigt sich selbst absurderweise des Narzissmus. Und sie fühlt sich "schwach und hilflos wie die Bäume", die "der Wind erbarmungslos in alle Richtungen biegt". Nun, solange die Bäume nicht brechen oder umstürzen, kann ich daran nichts Hilfloses finden.

Diese Ich-Erzählerin erfährt durch einen israelischen Zeitungsartikel von dem Vorfall aus dem Jahr 1949 und macht sich auf, die Geschichte des Mädchens genauer zu recherchieren. Sie leiht sich von einer Jerusalemer Kollegin einen Ausweis (denn mit ihrem könnte die Fahrt kompliziert werden), ein Freund mietet ihr ein Auto, und sie fährt nach Israel, um Näheres zu erfahren. Natürlich findet sie in israelischen Museen nichts Neues (außer Details zu Ausrüstung und Bekleidung der Soldaten damals), sie glaubt später am Ort des Geschehens zu sein, erkennt später ihren Irrtum und findet den richtigen Ort. Am Ende folgt sie einer spontanen Intuition und entdeckt eine Oase in militärischem Sperrgebiet, wo Soldaten das Feuer auf sie eröffnen.

Nun erkennt der Leser die erste Erzählung als Produkt der Ich-Erzählerin und begreift, warum sie so hirnlos und täterfixiert daherkommt: Es ist der gescheiterte Versuch der Ich-Erzählerin, die Geschichte des Opfers zu erzählen, voller irrelevanter (die Bekleidung der Soldaten) und falscher Details (der irrtümlich angenommene Ort des Geschehens). Und das Mädchen, dessen Geschichte ja eigentlich erzählt werden sollte, erscheint nur als sprachloses Objekt aus dem Blick des Kommandeurs. Es gelingt der Erzählerin nicht, dem Mädchen als Person nahezukommen - so wie sie sich selbst ja auch nicht nahekommt. Dazu passt, dass sie am Ende ihre eigene Erschießung imaginiert: Sie schafft es nicht, dem Opfer eine Würde zu verleihen, also versucht sie, sich in dessen Würdelosigkeit einzufühlen.

Nein, Frau Shibli, wenn die Geschichte des Opfers verloren ist, dann ist es so. Es genügt, des Opfers zu denken und vor allem nicht immer wieder die Geschichte der Täter zu repetieren! Man kann die Ohnmacht auch herbeireden: Wenn die Erzählerin mit einem falschen Ausweis reist, um sich diese oder jene Schikane zu ersparen, und die Soldaten mit ihren unzähligen Kontrollposten nichts merken - wer ist dann eigentlich hilflos? Und ja, es ist ungerecht, dass Israel palästinensische Dörfer von der Landkarte verschwinden ließ, und diese Ungerechtigkeit gehört benannt. Aber warum nennt die Erzählerin im israelischen Alltag nicht ihren arabischen Namen? Stärkt sie damit nicht diejenigen, die die Araber weghaben wollen? Und schwächt die Araber, die es doch in Israel ziemlich viel gibt?

Wer bedrängt wird, ist nicht weg. Er soll nicht jammern, er soll "ich" sagen, "ich bin da und habe meine Rechte". Oder verlang ich da zu viel aus meiner deutschen Komfortzone?

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… und eine Geschichte, an der alles stimmt
Ich habe nämlich jetzt noch einen Roman einer Palästinenserin gelesen, „Das Buch vom Verschwinden“ von Ibtisam Azem, der mich begeistert, und ich sollte doch, wenn ich schon über die nur so halb guten Bücher abnörgele (während ich die belanglosen Lektüren wie neulich „Melody“ von Martin Suter in der Regel gar nicht erwähne), dann auch Loblieder auf die richtig guten verfassen.

Ich lese den schon 2014 erschienen und leider jetzt erst ins Deutsche übersetzten Roman jetzt gleich zum zweiten Mal, weil ich den wunderbar melancholischen Grundton beim ersten Lesen gar nicht genießen konnte, denn ich musste ich musste ständig unterbrechen und in Wikipedia nachblättern, weil ich von den als bekannt vorausgesetzten Hintergründen keine Ahnung hatte.

Eigentlich passiert nicht viel in dem Buch. Es geht um einen arabischstämmigen Bewohner von Tel Aviv, der die lückenhafte Erinnerung an die Geschichte seiner Familie nicht zu fassen kriegt: Deren Heimatstadt Jaffa ist längst von seinem einstigen Vorort Tel Aviv geschluckt und zu einem nachgebauten Künstler- und Touristenviertel gemacht worden; der größte Teil seiner Familie wurde schon vor seiner Geburt vertrieben. Und die geliebte Großmutter, Hüter der Familienerinnerung, ist gerade gestorben. Aber auch sein jüdischstämmiger Freund weist eine solche lückenhafte Familienerinnerung auf und treibt wie er wurzellos durch Tel Aviv. Dann lösen sich auf einmal und auf mystische Weise alle palästinensischen Menschen (inklusive der Hauptfigur) aus Israel und den besetzten Gebieten in Luft auf und nach einigen Tagen des Schocks gibt sich das Land seiner über Nacht gewonnenen Reinrassigkeit und damit dem Vergessen, der Erinnerungslosigkeit und der Leere der kapitalistischen Gegenwart hin.

Eine einfache, aber kluge Parabel, geschrieben in einem traurigen Tonfall, der mich jedenfalls sofort sehr berührte. Jetzt beim zweiten Lesen beginne ich auch langsam die ersten Anspielungen zu verstehen: Da sind zum Beispiel zwei Freunde, ein Jude und ein Araber, die einst als Tagelöhner bei den Gurkenverkäufern auf dem Markt arbeiteten – die Gurken waren köstlich, sie hatten so gelbe Blütenkrönchen, wie kleine Türkenfeze. Die beiden arbeiten da längst nicht mehr, die Gurken schmecken auch nicht mehr, nur noch wässrig. Und eine Palästinenserin aus dem Westjordanland bringt ihre Familie durch, indem sie auf israelischen Gebiet in einem Gewächshaus voller Chemiedunst Gewürznelken pflückt, während ihr aus dem Gefängnis entlassener Mann bewegungslos zu Hause am Küchentisch sitzt und Löcher in die Luft starrt. Oder die von der Schuld ihrer Vorfahren besessene Deutsche, die auf einer Party ihrem Kollegen den Quoten-Araber ihres Freundeskreises vorstellt, in aschkenasischem Hebräisch – worauf dieser betont mizrachisches Hebräisch anstimmt. Oder die alte Jüdin aus Bagdad, deren Familie nach Tel Aviv vertrieben wurde, dort aber gesellschaftlich ausgeschlossen bleibt, wie sie sich freut, als der palästinensische Arzt sie mit einer arabischen Höflichkeitsfloskel beruhigt.

Und natürlich das dominierende Symbol der „weißen Stadt“ Tel Aviv mit ihren neusachlichen Bauhausbauten. Für mich, der kommunistisch erzogen wurde, und für den das Bauhaus der Inbegriff des Guten war und der sich als Kind schon wunderte, weshalb er das Bauhausgebäude in Dessau eigentlich nicht schön finden konnte – für mich war das Symbol der weißen Stadt sehr eindringlich und einleuchtend, die weiße Stadt als künstlich erdachter Fremdkörper (mit dem künstlichen erdachten und aller Geografie widersprechenden Namen Tel Aviv), der die Erinnerungslosigkeit mit sich bringt und die alte Stadt Jaffa auffrisst und deren Reste in die Erinnerungslosigkeit verstößt.

Lesen Sie dieses Buch!

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