Montag, 3. November 2014
Wahlen verändern nichts, sonst ...
damals, 23:30h
Den kennen Sie sicher auch, den blöden Spruch. Na ja, wie dem auch sei – jedenfalls, als ich heute Morgen schlaftrunken in die Küche kam, um mir von den 6-Uhr-Nachrichten des Deutschlandfunks ein bisschen von den Absurditäten der Weltpolitik erzählen zu lassen, da erfuhr ich, dass in Burkina Fasu das Militär geputscht hat. Der Gewaltakt solle aber, so ließen die neuen Machthaber verlauten, in allernächster Zeit durch Wahlen abgesegnet werden. Nicht anders in der Ostukraine: Auch dort wurden zunächst mit Waffengewalt Fakten geschaffen, jetzt legt man mit Wahlen ein dünnes demokratisches Mäntelchen über die anrüchige Sache.
Wenn man das so hört, dann kann man doch froh sein, dass in Deutschland der Bundespräsident seinen Unmut darüber äußert, dass in Thüringen die Wahlergebnisse umgesetzt werden. Immerhin beweist dieses Nörgeln, dass es zumindest in Thüringen doch einen Unterschied macht, wie gewählt wurde.
Und auch von der Bundeswehr ist ja nicht zu erwarten, dass sie putscht. Oder dass der Geheimdienst einen Mitarbeiter zum „Igor Schützenkönig“ ernennt und die Rolle des Revolutionärs spielen lässt, so schmierig-kitschig wie einst Sascha Anderson. Im Gegenteil: Hierzulande muss sich der Verfassungsschutz vom Gericht rügen lassen, wenn er einfach Politiker bespitzelt, und wenn er Kriminelle unterstützt, wird er sogar vor Untersuchungsausschüsse gezerrt.
Recht so! Mehr davon!
Wenn man das so hört, dann kann man doch froh sein, dass in Deutschland der Bundespräsident seinen Unmut darüber äußert, dass in Thüringen die Wahlergebnisse umgesetzt werden. Immerhin beweist dieses Nörgeln, dass es zumindest in Thüringen doch einen Unterschied macht, wie gewählt wurde.
Und auch von der Bundeswehr ist ja nicht zu erwarten, dass sie putscht. Oder dass der Geheimdienst einen Mitarbeiter zum „Igor Schützenkönig“ ernennt und die Rolle des Revolutionärs spielen lässt, so schmierig-kitschig wie einst Sascha Anderson. Im Gegenteil: Hierzulande muss sich der Verfassungsschutz vom Gericht rügen lassen, wenn er einfach Politiker bespitzelt, und wenn er Kriminelle unterstützt, wird er sogar vor Untersuchungsausschüsse gezerrt.
Recht so! Mehr davon!
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Mittwoch, 27. August 2014
Religiöse Etiketten
damals, 00:07h
Seit einigen Wochen beschießt, so hört man, die „radikal-islamische Hamas“ Ziele in Israel mit Raketen. Gestern sind auch wieder Raketen eingeschlagen. Allerdings waren die Urheber diesmal „militante Palästinenser“, wie der Deutschlandfunk meldete. Nanu, dachte ich beim Zuhören: War es diesmal tatsächlich jemand anderes? Oder zeigt die neue Sprachregelung nur einen Bündniswechsel an – so wie bei der Organisation mit dem anmaßenden Namen „Islamischer Staat“: Die Leute firmierten ja vor einem Jahr auch noch als „Aufständische“ in Syrien, die nur ein ideologisch verblendeter Assad als „Terroristen“ bezeichnen konnte.
Was in diesen Gegenden wirklich vor sich geht, erfahre ich (als täglicher Nachrichtenkonsument, der keine Lust zu tiefer gehender Recherche hat) ja sowieso nicht, mich ärgert nur (und über Politik schreibt man ja nur, wenn man sich ärgert) dieser offensichtliche Missbrauch religiöser Bezeichnungen für militärische Propaganda-Zwecke – egal, ob nun als Feindbild gemeint („radikalislamisch“) oder ganz aus der eigenen Anmaßung entstanden („Islamischer Staat“). Erinnert mich irgendwie an den dreißigjährigen Krieg, in dem ja die Kriegsparteien auch versuchten, ihrem Machtkampf den Anschein einer religiösen Auseinandersetzung zu geben. Ob die es im Nahen Osten auch so weit treiben werden wie einst hier in Mecklenburg, wo am Ende ganze Landstriche entvölkert waren?
Was in diesen Gegenden wirklich vor sich geht, erfahre ich (als täglicher Nachrichtenkonsument, der keine Lust zu tiefer gehender Recherche hat) ja sowieso nicht, mich ärgert nur (und über Politik schreibt man ja nur, wenn man sich ärgert) dieser offensichtliche Missbrauch religiöser Bezeichnungen für militärische Propaganda-Zwecke – egal, ob nun als Feindbild gemeint („radikalislamisch“) oder ganz aus der eigenen Anmaßung entstanden („Islamischer Staat“). Erinnert mich irgendwie an den dreißigjährigen Krieg, in dem ja die Kriegsparteien auch versuchten, ihrem Machtkampf den Anschein einer religiösen Auseinandersetzung zu geben. Ob die es im Nahen Osten auch so weit treiben werden wie einst hier in Mecklenburg, wo am Ende ganze Landstriche entvölkert waren?
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Donnerstag, 14. August 2014
Das Schiedsgericht und die Gerechtigkeit: Zum YUKOS-Urteil
damals, 12:28h
Selbst die taz hält das Schiedsgerichtsurteil für gerecht, das Chodorkowski und den Seinen Milliardenentschädigungen zuspricht. Wie kann man nur so kurzsichtig sein?
Chodorkowskis Reichtum kommt nicht aus dem Nichts. Ihm und den Seinen wurde Anfang der Neunziger ein ehemals staatliches Ölunternehmen zugeschoben, damit die Filetstücke des zerfallenden Sowjetimperiums in die Hände treu schlitzohriger Komsomol-Funktionäre fallen, nicht in die Hände westlicher Geschäftsgeier, die schon auf die leichte Beute am toten Körper des exkommunistischen Kolonialreiches lauerten.
Gut: Chodorkowski hat das ihm zugefallene Erbe gut verwaltet, den Profit gemehrt. Dass er aber Jahre später glaubte, das Ganze gehöre doch ihm persönlich und er könne Anteile davon nach Belieben ins Ausland, gar in die USA, verkaufen, das war dann doch Selbstüberschätzung: Logisch, dass die, die ihm den Reichtum einst beschert, einschritten und ihm das Unternehmen wieder wegnahmen, um es in die Hände loyalerer Untertanen zu legen. Nur ein paar Millionen Privatvergnügen durften die Leute jeweils behalten, zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts.
Wenn jetzt ein Schiedsgericht Chodorkowski eine Entschädigung zuspricht, weil ihm durch Betrug genommen wurde, was ihm einst durch Betrug zufiel, dann geht es keinesfalls um irgendeine Gerechtigkeit diesen Leuten gegenüber.
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – so ist das nunmal. Warum bemühen sich internationale Gerichte mit der Nachverfolgung dieser gegenseitigen Gaunereien? Und warum rege ich mich darüber auf?
Chodorkowskis Reichtum kommt nicht aus dem Nichts. Ihm und den Seinen wurde Anfang der Neunziger ein ehemals staatliches Ölunternehmen zugeschoben, damit die Filetstücke des zerfallenden Sowjetimperiums in die Hände treu schlitzohriger Komsomol-Funktionäre fallen, nicht in die Hände westlicher Geschäftsgeier, die schon auf die leichte Beute am toten Körper des exkommunistischen Kolonialreiches lauerten.
Gut: Chodorkowski hat das ihm zugefallene Erbe gut verwaltet, den Profit gemehrt. Dass er aber Jahre später glaubte, das Ganze gehöre doch ihm persönlich und er könne Anteile davon nach Belieben ins Ausland, gar in die USA, verkaufen, das war dann doch Selbstüberschätzung: Logisch, dass die, die ihm den Reichtum einst beschert, einschritten und ihm das Unternehmen wieder wegnahmen, um es in die Hände loyalerer Untertanen zu legen. Nur ein paar Millionen Privatvergnügen durften die Leute jeweils behalten, zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts.
Wenn jetzt ein Schiedsgericht Chodorkowski eine Entschädigung zuspricht, weil ihm durch Betrug genommen wurde, was ihm einst durch Betrug zufiel, dann geht es keinesfalls um irgendeine Gerechtigkeit diesen Leuten gegenüber.
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – so ist das nunmal. Warum bemühen sich internationale Gerichte mit der Nachverfolgung dieser gegenseitigen Gaunereien? Und warum rege ich mich darüber auf?
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Mittwoch, 13. August 2014
Den Staat zur Räson bringen
damals, 01:33h
Gestern las ich in der Süddeutschen Zeitung, die Sicherheitspartnerschaft der Bundesrepublik Deutschland zu den USA sei Staatsräson und stehe als solche in ihrer Gewichtung über den Forderungen des Grundgesetzes. Komisches Wort: „Staatsräson“. Ich kannte es ich bisher nur von der Freundschaft zu Israel, die ja auch „Staatsräson“ sein soll. Für mich klingt es irgendwie nach „räsonieren“, also „besserwisserisch herumnörgeln“. Mit Vernunft jedenfalls, wie die Wortherkunft nahelegt, scheint es nichts zu tun zu haben.
Wahrscheinlich ist „Staatsräson“ so etwas wie eine politische Richtlinie oder Willensbekundung. An sich ja etwas Sympathisches in unserer pragmatismus-verseuchten politischen Landschaft. Nur wieso solche Willensbekundungen sich über die demokratischen Forderungen des Grundgesetzes erheben sollen, das will mir nicht einleuchten.
Wahrscheinlich ist „Staatsräson“ so etwas wie eine politische Richtlinie oder Willensbekundung. An sich ja etwas Sympathisches in unserer pragmatismus-verseuchten politischen Landschaft. Nur wieso solche Willensbekundungen sich über die demokratischen Forderungen des Grundgesetzes erheben sollen, das will mir nicht einleuchten.
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Donnerstag, 26. Juni 2014
Man kann ja mit Klischees spielen ...
damals, 02:34h
... aber wird man dann auch verstanden?
Bei uns an der Straßenecke hängt dieses Plakat an einem Verteilerkasten. Heute komme ich vorbei und sehe, wie zwei junge Frauen - üppig, lange schwarze Haare, migrantisches Aussehen - daran herumpolken und versuchen es abzureißen. Ich: "Warum reißen Sie denn das Plakat ab?" Darauf eine der beiden: "Na, hier, steht doch dran: Diskriminierung. Meine Feundin ist selber Sinti. Wir sind gegen Diskriminierung!" Als sie mein entgeistertes Gesicht sieht, stockt sie und sagt. "Was bedeutet denn das?" Ich erklär es ihr. Sie darauf: "Ach so".
So viel zur Wirksamkeit politischer Plakate.
Bei uns an der Straßenecke hängt dieses Plakat an einem Verteilerkasten. Heute komme ich vorbei und sehe, wie zwei junge Frauen - üppig, lange schwarze Haare, migrantisches Aussehen - daran herumpolken und versuchen es abzureißen. Ich: "Warum reißen Sie denn das Plakat ab?" Darauf eine der beiden: "Na, hier, steht doch dran: Diskriminierung. Meine Feundin ist selber Sinti. Wir sind gegen Diskriminierung!" Als sie mein entgeistertes Gesicht sieht, stockt sie und sagt. "Was bedeutet denn das?" Ich erklär es ihr. Sie darauf: "Ach so".
So viel zur Wirksamkeit politischer Plakate.
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Mittwoch, 25. Juni 2014
Auch das hatte der Datenstrudel verschluckt ...
damals, 00:36h
.. und da ich nicht willens bin, meine Politik-Jammereien noch letzter Woche noch noch einmal zu wiederholen, folgt hier nur der Link, der mir des Weitergebens wert war, ich hab ihn über "anders deutsch" gefunden.
Was ich dazu denke, können Sie sich denken.
Was ich dazu denke, können Sie sich denken.
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Mittwoch, 30. April 2014
Angeblich
damals, 14:44h
In einer Stadt, von der wir alle noch nie gehört haben (wer interessiert sich schon für diese ganzen slawischen Völkerschaften?), haben ein paar Männer, die angeblich im Interesse der russischen Bevölkerung agieren, ein paar Menschen verhaftet, die angeblich Vertreter der OSZE sind. Was die OSZE da will, wissen wir zwar auch nicht (wer interessiert sich schon für die Bundeswehr?), aber natürlich sind wir empört, weil wir irgendwie noch von vor 1989 erinnern, dass die Russen eine Gefahr darstellen.
Einige von uns, die vor 1989 friedensbewegt waren oder Funktionsträger in der DDR, erinnern sich dagegen, dass die Russen eigentlich ganz liebe Menschen sind, denen ihre Interessen zu gönnen sind. Und die das erinnern, sind natürlich auch empört: über den „Westen“.
Und wenn diese Empörungen sich dann gegenseitig hochschaukeln, angefeuert von Medien, dann nennt sich das politische Meinungsbildung mündiger Bürger. Ach, bleibt mir doch vom Halse mit diesem Gespinst sich wechselseitig widersprechender Propagandalügen!
Einige von uns, die vor 1989 friedensbewegt waren oder Funktionsträger in der DDR, erinnern sich dagegen, dass die Russen eigentlich ganz liebe Menschen sind, denen ihre Interessen zu gönnen sind. Und die das erinnern, sind natürlich auch empört: über den „Westen“.
Und wenn diese Empörungen sich dann gegenseitig hochschaukeln, angefeuert von Medien, dann nennt sich das politische Meinungsbildung mündiger Bürger. Ach, bleibt mir doch vom Halse mit diesem Gespinst sich wechselseitig widersprechender Propagandalügen!
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Freitag, 21. März 2014
Die Dampfwalze im Theater
damals, 19:33h
Am Mittwoch habe ich mich wieder einmal meines Bürger-Daseins erinnert und mir Olaf Scholz im Thalia-Theater angesehen, der da eine Grundsatzrede zur Flüchtlingsproblematik gehalten hat. Ursprünglich hatte ich an dem Abend ja zum Körber-Forum gehen wollen und eine Diskussion zum selben Thema mit dem Innensenator Neumann anhören. Aber dessen scharfmacherische Position kennt man ja – und was eigentlich sein Chef dazu sagt, darauf war ich schon lange gespannt gewesen.
Denn es gibt einen aktuellen Hintergrund dazu, der so etwas die Nagelprobe ist darauf, wie man nun steht zur Flüchtlingsproblematik: Eine Gruppe von Afrikanern tauchte hier auf. Sie waren als Gastarbeiter in Libyen von den dortigen neuen Herren nach Italien abgeschoben worden. Die Italiener drückten den Leuten ein paar hundert Euro in die Hand und empfahlen ihnen, es anderswo in Europa zu probieren. Nun sind 300 davon in Hamburg. Rein rechtlich gibt es natürlich keinerlei Verpflichtung, diese Menschen in Hamburg aufzunehmen, aber mit rechtlich korrekten Vorgängen hat das Ganze ja auch nichts zu tun. Da kann man nur großherzig sein oder engherzig. Die Position der Stadt bisher: Die Leute müssen Asylanträge stellen, die – wie man in Verhandlungen vorab deutlich machte – höchstwahrscheinlich nicht bewilligt werden. Mehr könne man nicht tun. Also wollten die Afrikaner lieber illegal bleiben. Und das tun sie bis heute.
So, und jetzt äußert sich endlich der Erste Bürgermeister zu dem Fall im Thalia-Theater. Das war zunächst einmal ein Event. Vor dem Theater demonstrierten die Afrikaner und ihre autonom bis freakig aussehenden Unterstützer. Drinnen mischte sich gutbürgerliches Theaterpublikum mit offensichtlich Bürgerbewegten und ein paar nach Politik aussehenden Schlips- und Anzug-Typen. An der Garderobe sah ich Wolf Biermann herumstehen. Er wirkte alt und einsam. Die Kartenabreißer waren junge Männer, auch sie trugen Anzüge – und dazu blasse ML-Studenten-Gesichter (wenn mir die DDR-Assoziation gestattet sei): offenbar SPD-Karriere-Nachwuchs. Scholz selbst kam, von Demonstranten aufgehalten, eine halbe Stunde zu spät, und auch im Theater selbst gab es ein paar Krakeeler, wurden Transparente entrollt und Flugblätter geworfen.
So weit, so üblich. Aber was hat er denn nun eigentlich gesagt? Genau genommen gar nichts. Das aktuelle Problem mit den Lampedusa-Flüchtlingen sprach er nicht an. Wie eine Dampfwalze zog er eine routinierte, kluge und in sich stimmige Rede durch, die sich weder durch die Krakeeler vor und im Theater noch durch die Realität in der vom ihm regierten Stadt irgendwie beirren ließ. Scholz skizzierte ein künftig mögliches System zur Regulierung der Einwanderung, das ich sehr vernünftig fand. Wie er sich zu verhalten gedenkt, solange dieses System noch nicht Realität ist, sagte er nicht; er sagte auch nicht, was er zu tun gedenkt, um diesem Ziel näher zu kommen.
Scholz sparte stattdessen nicht mit Spitzen auf die Italiener, die sich einer europäischen Einwanderungspolitik versperren würden (und die ihm das Hamburger Problem eingebrockt haben). Er hätte als Hamburger Bürgermeister eine hervorragende Gelegenheit, den Italienern mal zu demonstrieren, wie man menschlich mit Flüchtlingen umgehen kann. Da er diese Gelegenheit nicht nutzt, traut man auch seiner schönen Rede nicht.
Das versuchte ihm im folgenden Podiumsgespräch auch Ilja Trojanow klarzumachen: dass es nicht genügt, schöne Ideen zu entwickeln, dass man etwas wollen muss, aus moralischer Überzeugung, sonst wird es nie was. Scholz ging darauf nicht ein, fühlte sich von Trojanow nur politisch angegriffen und reagierte beleidigt. Er kenne die Probleme doch und habe auch die Bücher der Dritte-Welt-Autoren gelesen. Tja, Kennen und Wissen ist das eine, Handeln etwas anderes.
Man mag es für richtig halten, seiner eigenen Bevölkerung den Wohlstand (und sich selbst damit deren Wohlwollen) zu sichern, indem man alle anderen aussperrt. Dann muss man zu dieser Überzeugung stehen. Aber erst seine Polizisten Schwarze jagen lassen im Stadtgebiet, und dann im Theater den Menschenfreund mimen, das geht nun wirklich nicht.
Denn es gibt einen aktuellen Hintergrund dazu, der so etwas die Nagelprobe ist darauf, wie man nun steht zur Flüchtlingsproblematik: Eine Gruppe von Afrikanern tauchte hier auf. Sie waren als Gastarbeiter in Libyen von den dortigen neuen Herren nach Italien abgeschoben worden. Die Italiener drückten den Leuten ein paar hundert Euro in die Hand und empfahlen ihnen, es anderswo in Europa zu probieren. Nun sind 300 davon in Hamburg. Rein rechtlich gibt es natürlich keinerlei Verpflichtung, diese Menschen in Hamburg aufzunehmen, aber mit rechtlich korrekten Vorgängen hat das Ganze ja auch nichts zu tun. Da kann man nur großherzig sein oder engherzig. Die Position der Stadt bisher: Die Leute müssen Asylanträge stellen, die – wie man in Verhandlungen vorab deutlich machte – höchstwahrscheinlich nicht bewilligt werden. Mehr könne man nicht tun. Also wollten die Afrikaner lieber illegal bleiben. Und das tun sie bis heute.
So, und jetzt äußert sich endlich der Erste Bürgermeister zu dem Fall im Thalia-Theater. Das war zunächst einmal ein Event. Vor dem Theater demonstrierten die Afrikaner und ihre autonom bis freakig aussehenden Unterstützer. Drinnen mischte sich gutbürgerliches Theaterpublikum mit offensichtlich Bürgerbewegten und ein paar nach Politik aussehenden Schlips- und Anzug-Typen. An der Garderobe sah ich Wolf Biermann herumstehen. Er wirkte alt und einsam. Die Kartenabreißer waren junge Männer, auch sie trugen Anzüge – und dazu blasse ML-Studenten-Gesichter (wenn mir die DDR-Assoziation gestattet sei): offenbar SPD-Karriere-Nachwuchs. Scholz selbst kam, von Demonstranten aufgehalten, eine halbe Stunde zu spät, und auch im Theater selbst gab es ein paar Krakeeler, wurden Transparente entrollt und Flugblätter geworfen.
So weit, so üblich. Aber was hat er denn nun eigentlich gesagt? Genau genommen gar nichts. Das aktuelle Problem mit den Lampedusa-Flüchtlingen sprach er nicht an. Wie eine Dampfwalze zog er eine routinierte, kluge und in sich stimmige Rede durch, die sich weder durch die Krakeeler vor und im Theater noch durch die Realität in der vom ihm regierten Stadt irgendwie beirren ließ. Scholz skizzierte ein künftig mögliches System zur Regulierung der Einwanderung, das ich sehr vernünftig fand. Wie er sich zu verhalten gedenkt, solange dieses System noch nicht Realität ist, sagte er nicht; er sagte auch nicht, was er zu tun gedenkt, um diesem Ziel näher zu kommen.
Scholz sparte stattdessen nicht mit Spitzen auf die Italiener, die sich einer europäischen Einwanderungspolitik versperren würden (und die ihm das Hamburger Problem eingebrockt haben). Er hätte als Hamburger Bürgermeister eine hervorragende Gelegenheit, den Italienern mal zu demonstrieren, wie man menschlich mit Flüchtlingen umgehen kann. Da er diese Gelegenheit nicht nutzt, traut man auch seiner schönen Rede nicht.
Das versuchte ihm im folgenden Podiumsgespräch auch Ilja Trojanow klarzumachen: dass es nicht genügt, schöne Ideen zu entwickeln, dass man etwas wollen muss, aus moralischer Überzeugung, sonst wird es nie was. Scholz ging darauf nicht ein, fühlte sich von Trojanow nur politisch angegriffen und reagierte beleidigt. Er kenne die Probleme doch und habe auch die Bücher der Dritte-Welt-Autoren gelesen. Tja, Kennen und Wissen ist das eine, Handeln etwas anderes.
Man mag es für richtig halten, seiner eigenen Bevölkerung den Wohlstand (und sich selbst damit deren Wohlwollen) zu sichern, indem man alle anderen aussperrt. Dann muss man zu dieser Überzeugung stehen. Aber erst seine Polizisten Schwarze jagen lassen im Stadtgebiet, und dann im Theater den Menschenfreund mimen, das geht nun wirklich nicht.
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Dienstag, 11. Februar 2014
Einfallslos
damals, 21:13h
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes war ein Untersuchungsausschuss zu Geheimdienstfragen tatsächlich nicht ganz ergebnislos. Und kaum ein Jahr später gibt es eine Hausdurchsuchung bei dem Ausschussvorsitzenden von damals, und zwar wegen – des Verdachts auf Besitz von Kinderpornographie. Wie langweilig! Habt ihr es in vielen Monaten nicht mal geschafft, euch eine glaubhafte Intrige auszudenken?
(... ja, ich weiß, Kinderpornographie gibt es wirklich und sie ist widerlich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Edathy damit etwas zu tun hat, ist größer als Null. Sie ist vermutlich sogar größer als die Wahrscheinlichkeit der allgemein geglaubten Tatsache, dass Andreas Temme von dem Mord nichts mitbekommen hat, der zwei Meter neben ihm passierte ... was soll man denn von all den abstrusen Nachrichten halten? Kinderpornographie? Klingt für mich irgendwie nach BILD-Zeitungs-Ente.)
(... ja, ich weiß, Kinderpornographie gibt es wirklich und sie ist widerlich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Edathy damit etwas zu tun hat, ist größer als Null. Sie ist vermutlich sogar größer als die Wahrscheinlichkeit der allgemein geglaubten Tatsache, dass Andreas Temme von dem Mord nichts mitbekommen hat, der zwei Meter neben ihm passierte ... was soll man denn von all den abstrusen Nachrichten halten? Kinderpornographie? Klingt für mich irgendwie nach BILD-Zeitungs-Ente.)
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Freitag, 17. Januar 2014
Politik und Depression
damals, 17:23h
arboretum bat mich neulich, mal über Politik in meiner Kindheit zu erzählen. Hässliches Kapitel. Aber sei’s drum. Um das Ganze in den passenden historischen Rahmen zu heben, beginne ich mit einem Rückblick auf das Jahr 33 und ich hoffe, hier wird mir keiner ein gaucksches Gleichsetzen deutscher Diktaturen vorwerfen. So ist es nicht gemeint: nicht politisch – eher antipolitisch.
Als das Jahr 1933 kam, waren meine Großeltern nicht mehr ganz jung. Mein Großvater, Sozialdemokrat und Finanzbeamter, kroch zu Kreuze, um den wirtschaftlichen Ruin der Familie zu verhindern. (Sein Bruder, der sich anders entschied, endete, jämmerlich – und nicht etwa märtyrerhaft.) Meine Großeltern jedenfalls (auch meine Großmutter war langjähriges SPD-Mitglied) zogen sich ganz in die private Resignation zurück und bekamen noch einmal ein Kind, meinen Vater. Unter diesem depressiven Vorzeichen wuchs auch ich auf, eine Generation später. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass ich die Panzer gesehen habe, die 1968 durch meine Heimatstadt rollten, auf der Rückkehr von einer äußerst ruhmlosen Mission. Es waren riesige, laute, beeindruckend bedrohliche Monster. Meine Mutter erzählt, dass ein fremder Mann mir Fähnchen geschenkt, ich sie begeistert geschwenkt und sie sie mir wütend aus der Hand gerissen habe. Daran kann ich nicht erinnern, an den Zwiespalt zwischen Sprachlosigkeit und Wut, den meine Mutter mit sich herumschleppt, schon. Ich habe auch erst später erfahren, dass unser Umzug nach Potsdam wenige Monate später auch mit diesem Ereignis zusammenhing: Mein Vater suchte sich eine neue Arbeit, die er für weniger politisch hielt, wo man ihm auch die übliche Unterwerfungsgeste ersparte, eine Resolution zur Rechtfertigung des Putsches in Prag zu unterschreiben.
Das Ende des Prager Frühlings bedeutete für meine Eltern den endgültigen Abschied von ihren kommunistischen Jugendidealen. Ähnlich wie meine Großmutter sah sich meine Mutter, obwohl sie sehr politisch dachte, auf die private Sphäre verwiesen. Dort, in den eigenen vier Wänden, wurde der Marxismus weiter zelebriert. Im Schrank standen die gesammelten Werke von Bertolt Brecht und alle Platten von Ernst Busch. Sie wurden auch gehört. Mit der Realität, in die wir Kinder jeden Morgen zur Schule gingen, hatte das nichts zu tun. Ich erinnere mich zum Beispiel an das sagenumwobene Buch „Die Alternative“, das als heimlicher Kopienstapel in unser Haus kam, die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Ich ging an das Versteck und versuchte zu lesen, verstand aber nur Bahnhof. Es hatte nichts mit mir zu tun. Trotzdem kritzelte ich „Freiheit für Rudolf Bahro!“ in mein Mathebuch und hatte furchtbare Angst, irgendjemand könnte das entdecken.
Als zum Beginn der achten Klasse, wenige Wochen vor dem kollektiven Eintritt in die FDJ, Fahnenappell angesagt war, nutzten viele Mitschüler die kleine formale Lücke, um nicht mehr mit Pioniertuch (und noch nicht im FDJ-Hemd) zu erscheinen, sondern einfach in Zivil. Ich fand das unehrlich und sagte das auch in der Versammlung. Plötzlich hatte ich alle gegen mich, auch die Lehrer. Und auch zu Hause meine Mutter meinte, dass man sowas lieber nicht öffentlich äußern sollte. Damit war klar: Den kämpferischen Reden zu Hause hatte kein öffentliches Handeln zu entsprechen. Mir war das recht, mir lag das Kämpferische eh nicht.
Also weiter heimlich Kampflieder und freche Satiren von Biermann zu Hause - und Schweigen, sobald man rausging. Einmal, ein paar Jahre später, wurden meine Schwester und ich von meinem Freund S. dabei ertappt. Als es klingelte, schoben wir das Plattencover von „aah ja!“ schnell unter den Fernseher, die Anlage vergaßen wir auszuschalten. „Was hört ihr denn da?“ fragte S. arglos, erspähte die Hülle, zog sie vor und erblasste. Großes Drama. Die, vor denen wir die Platten eigentlich versteckten, wussten dagegen Bescheid. Die Stasi hat alles per Wanze abgehört und den Inhalt mehrerer Biermann-Platten getreulich transskribiert und abgetippt. S. dagegen durfte, als er dicht hielt, nun auch den „ersten Kreis der Hölle“ von Solschenizyn lesen. Allerdings: Er dürfe nicht wissen, dass wir ihn besitzen, meinten die Eltern: Sag ihm, wir haben das geborgt gekriegt, und er kann es für eine Woche haben.“ Also lasen S., seine Eltern, seine Schwester und sein Schwager den 1000-Seiten-Roman umschichtig in sieben Tagen.
Aber das sind nur so die Anekdoten. Tatsächlich hielt ich mich weiter für einen Sozialisten und Verteidiger der DDR. Als in der 11. Klasse angeordnet wurde, die Jungen hätten in GST-Uniform (GST – „Gesellschaft für Sport und Technik“, Schieß- und Kampfsport-Verein, dessen Uniformen für die vormilitärische Ausbildung an der Schule genutzt wurden) und FDJ-Hemd zur Demonstration am Ersten Mai zu erscheinen, zwängte ich mein FDJ-Hemd über die Uniformjacke und erklärte meinem Direktor, ich sei in erster Linie FDJler. Allerdings interessierten solche Spitzfindigkeiten in der Auslegung des realen Sozialismus weder ihn noch sonst jemanden.
Und sie taten ja auch nichts zur Sache. Tatsächlich waren die Fronten klar. Ich begriff es, glaube ich, in diesem Jahr: als uns in der Schule die vormilitärische Ausbildung aufgedrückt wurde, als wir die natürlich veralberten, ich daraufhin vom Russischlehrer und „Kommandeur“ als Rädelsführer bezeichnet wurde und mein Vater in die Schule rannte, um mich rauszuhauen ... Ich beschloss darauf in meinem Frust, mit einem Freund im Sommer zu einer evangelischen Rüstzeit zu fahren. Mein Vater verbot es mir mit der Begründung, ich müsse doch die innenpolitisch angespannte Situation bedenken und im Grunde stände ich doch eher auf der Seite des Staates als der der Kirche. Was mir angesichts meines Russischlehrers nicht gerade einleuchtete. Gehorcht habe ich ihm trotzdem. Und dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob er diese idiotische Begründung wirklich so meinte oder, wie mein Freund S. mutmaßte, einfach im Jahr der Bewerbung zum Studium den dicken Eintrag in der Stasiakte fürchtete, wenn ich als Nicht-Christ und Sohn eines SED-Mitglieds mit der Kirche urlaubte.
Fazit: Bleibt mir mit Politik vom Halse! Ja, klar: politisch schwätzen, die Dinge ein bisschen verstehen – das macht Spaß. Aber verantwortlich handeln, das kann man nur für sich, seine Freunde, seine Familie, seine Moral – für den Bereich eben, auf den man Einfluss hat.
Als das Jahr 1933 kam, waren meine Großeltern nicht mehr ganz jung. Mein Großvater, Sozialdemokrat und Finanzbeamter, kroch zu Kreuze, um den wirtschaftlichen Ruin der Familie zu verhindern. (Sein Bruder, der sich anders entschied, endete, jämmerlich – und nicht etwa märtyrerhaft.) Meine Großeltern jedenfalls (auch meine Großmutter war langjähriges SPD-Mitglied) zogen sich ganz in die private Resignation zurück und bekamen noch einmal ein Kind, meinen Vater. Unter diesem depressiven Vorzeichen wuchs auch ich auf, eine Generation später. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört, dass ich die Panzer gesehen habe, die 1968 durch meine Heimatstadt rollten, auf der Rückkehr von einer äußerst ruhmlosen Mission. Es waren riesige, laute, beeindruckend bedrohliche Monster. Meine Mutter erzählt, dass ein fremder Mann mir Fähnchen geschenkt, ich sie begeistert geschwenkt und sie sie mir wütend aus der Hand gerissen habe. Daran kann ich nicht erinnern, an den Zwiespalt zwischen Sprachlosigkeit und Wut, den meine Mutter mit sich herumschleppt, schon. Ich habe auch erst später erfahren, dass unser Umzug nach Potsdam wenige Monate später auch mit diesem Ereignis zusammenhing: Mein Vater suchte sich eine neue Arbeit, die er für weniger politisch hielt, wo man ihm auch die übliche Unterwerfungsgeste ersparte, eine Resolution zur Rechtfertigung des Putsches in Prag zu unterschreiben.
Das Ende des Prager Frühlings bedeutete für meine Eltern den endgültigen Abschied von ihren kommunistischen Jugendidealen. Ähnlich wie meine Großmutter sah sich meine Mutter, obwohl sie sehr politisch dachte, auf die private Sphäre verwiesen. Dort, in den eigenen vier Wänden, wurde der Marxismus weiter zelebriert. Im Schrank standen die gesammelten Werke von Bertolt Brecht und alle Platten von Ernst Busch. Sie wurden auch gehört. Mit der Realität, in die wir Kinder jeden Morgen zur Schule gingen, hatte das nichts zu tun. Ich erinnere mich zum Beispiel an das sagenumwobene Buch „Die Alternative“, das als heimlicher Kopienstapel in unser Haus kam, die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Ich ging an das Versteck und versuchte zu lesen, verstand aber nur Bahnhof. Es hatte nichts mit mir zu tun. Trotzdem kritzelte ich „Freiheit für Rudolf Bahro!“ in mein Mathebuch und hatte furchtbare Angst, irgendjemand könnte das entdecken.
Als zum Beginn der achten Klasse, wenige Wochen vor dem kollektiven Eintritt in die FDJ, Fahnenappell angesagt war, nutzten viele Mitschüler die kleine formale Lücke, um nicht mehr mit Pioniertuch (und noch nicht im FDJ-Hemd) zu erscheinen, sondern einfach in Zivil. Ich fand das unehrlich und sagte das auch in der Versammlung. Plötzlich hatte ich alle gegen mich, auch die Lehrer. Und auch zu Hause meine Mutter meinte, dass man sowas lieber nicht öffentlich äußern sollte. Damit war klar: Den kämpferischen Reden zu Hause hatte kein öffentliches Handeln zu entsprechen. Mir war das recht, mir lag das Kämpferische eh nicht.
Also weiter heimlich Kampflieder und freche Satiren von Biermann zu Hause - und Schweigen, sobald man rausging. Einmal, ein paar Jahre später, wurden meine Schwester und ich von meinem Freund S. dabei ertappt. Als es klingelte, schoben wir das Plattencover von „aah ja!“ schnell unter den Fernseher, die Anlage vergaßen wir auszuschalten. „Was hört ihr denn da?“ fragte S. arglos, erspähte die Hülle, zog sie vor und erblasste. Großes Drama. Die, vor denen wir die Platten eigentlich versteckten, wussten dagegen Bescheid. Die Stasi hat alles per Wanze abgehört und den Inhalt mehrerer Biermann-Platten getreulich transskribiert und abgetippt. S. dagegen durfte, als er dicht hielt, nun auch den „ersten Kreis der Hölle“ von Solschenizyn lesen. Allerdings: Er dürfe nicht wissen, dass wir ihn besitzen, meinten die Eltern: Sag ihm, wir haben das geborgt gekriegt, und er kann es für eine Woche haben.“ Also lasen S., seine Eltern, seine Schwester und sein Schwager den 1000-Seiten-Roman umschichtig in sieben Tagen.
Aber das sind nur so die Anekdoten. Tatsächlich hielt ich mich weiter für einen Sozialisten und Verteidiger der DDR. Als in der 11. Klasse angeordnet wurde, die Jungen hätten in GST-Uniform (GST – „Gesellschaft für Sport und Technik“, Schieß- und Kampfsport-Verein, dessen Uniformen für die vormilitärische Ausbildung an der Schule genutzt wurden) und FDJ-Hemd zur Demonstration am Ersten Mai zu erscheinen, zwängte ich mein FDJ-Hemd über die Uniformjacke und erklärte meinem Direktor, ich sei in erster Linie FDJler. Allerdings interessierten solche Spitzfindigkeiten in der Auslegung des realen Sozialismus weder ihn noch sonst jemanden.
Und sie taten ja auch nichts zur Sache. Tatsächlich waren die Fronten klar. Ich begriff es, glaube ich, in diesem Jahr: als uns in der Schule die vormilitärische Ausbildung aufgedrückt wurde, als wir die natürlich veralberten, ich daraufhin vom Russischlehrer und „Kommandeur“ als Rädelsführer bezeichnet wurde und mein Vater in die Schule rannte, um mich rauszuhauen ... Ich beschloss darauf in meinem Frust, mit einem Freund im Sommer zu einer evangelischen Rüstzeit zu fahren. Mein Vater verbot es mir mit der Begründung, ich müsse doch die innenpolitisch angespannte Situation bedenken und im Grunde stände ich doch eher auf der Seite des Staates als der der Kirche. Was mir angesichts meines Russischlehrers nicht gerade einleuchtete. Gehorcht habe ich ihm trotzdem. Und dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob er diese idiotische Begründung wirklich so meinte oder, wie mein Freund S. mutmaßte, einfach im Jahr der Bewerbung zum Studium den dicken Eintrag in der Stasiakte fürchtete, wenn ich als Nicht-Christ und Sohn eines SED-Mitglieds mit der Kirche urlaubte.
Fazit: Bleibt mir mit Politik vom Halse! Ja, klar: politisch schwätzen, die Dinge ein bisschen verstehen – das macht Spaß. Aber verantwortlich handeln, das kann man nur für sich, seine Freunde, seine Familie, seine Moral – für den Bereich eben, auf den man Einfluss hat.
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