Freitag, 1. Dezember 2023
Zwei Bücher
Ach, wie schön, im Blog darf mensch, wie einst im Tagebuch, einfach drauflos schreiben, auch mit der privatesten, irrelevantesten Idee, und auch wenn ich die beiden zugrundeligenden Bücher grade mal angelesen habe …

Also, das kam so, dass ich dringend ein Buch brauchte, einen schönen, opulenten Roman zum Drinversinken am besten, denn wenn ich nichts zum Lesen habe, werd ich nervös und fühl mich leer (meine Frau behauptet, Bücher wären meine wahren und einzigen Freunde). Da fand ich ich in den FAZ-Papierstapeln meines Vaters eine Rezension zu Zadie Smith‘ neuem Roman „Betrug“. Ja, von Zadie Smith hatte ich schon gehört, vielleicht wärs an der Zeit, mal was von ihr zu lesen. Normalerweise greif ich als Geizhals und zum Antesten in einem solchen Fall zunächst zu einem früheren Roman der selben Person, die gibts im Internet in der Regel für fast umsonst, aber hier ergab die Internetrecherche, dass mich die früheren Romane von Zadie Smith nicht interessieren. Also fuhr ich vorbei bei der Buchhandlung und fand den aktuellen Roman dort tatsächlich vorrätig. Und im Rausgehen, beim schnellen Durchsehen der Auslagen (was man in meiner Buchhandlung, Christiansen in Ottensen, nie versäumen darf, die ist wirklich wohl sortiert), fiel mir noch ein kritisches Buch von Omri Boehm über Identitätspolitik auf, das ich kurz entschlossen gleich mitnahm. Da ich Omri Boehm wegen seiner Idee einer Haifa-Republik positiv, der Identitätspolitik dagegen kritisch gegenüberstehe, war es ja wahrscheinlich, dass das was bringt.

Dann begann ich gleich zu lesen – und wunderte mich selbst, dass es mich zunächst zu Boehm und gar nicht zu dem Roman zog. Also, das Buch, „Radikaler Universalismus jenseits von Identität“, ist großartig: klug und kenntnisreich, ich musste mich richtig anstrengen, um zu verstehen. Gleichzeitig von einem hohen Ethos getragen, das den Lesenden erschauern lässt durch seine Reinheit. Grundidee: Die erhabene Idee, dass alle Menschen als gleich zu betrachten sind, zu ihr gelangt man nicht durch verhandelten Konsens, nicht durch schnöden Pragmatismus (von Spinoza über Nietzsche bis hin zu den Denkern des Liberalismus und Neoliberalismus), der die Menschen zu „klugen Tieren“ degradiert, sie muss schon als metaphysisch, also göttlich, genau genommen mehr als göttlich (wie er mit einleuchtenden Beispielen aus der Bibel demonstriert) akzeptiert werden, sonst ist sie nichts wert.

Die Lektüre begeisterte mich, gab mir ein Gefühl von Reinheit, Schönheit, wahrhafter Gerechtigkeit. An einer Stelle jedoch fand ichs zu radikal: als er davon brichtet, wie nach der großen Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg in Gettysburg die Toten exhumiert wurden, um sie in Gut und Böse zu teilen: Die Nordstaatler wurden an Ort und Stelle und nun würdig wieder begraben, da das Schlachtfeld im Folgenden geheiligt wurde – die Südstaatler dagegen aussortiert und zur Beerdigung an ihre Heimatorte verbracht. Boehm fand das richtig, denn „die Wahrheit, dass alle Menschen zum Volk gehören müssen, wird durch den Ausschluss der konföderierten Soldaten hochgehalten“. Da fehlte mir dann ein bisschen die christliche Nächstenliebe, die Ungerechtigkeit hinnimmt, wenn sie dem armseligen Nächsten gegenüber Gnade walten lässt.

Ich schwenkte um zu Smith, und auch die verwirrte mich: ein historischer Roman, sehr englisch, sehr bodenständig, historisch präzise und voll bissigem Spott. Messerscharf im Sezieren familiärer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, ohne ein gelassenes Lächeln angesichts der Lächerlichkeit der Protagonisten, bitter in seiner Wahrhaftigkeit.

Also letztendlich so gnadenlos wie Boehm. Nur auf einer anderen Ebene, nicht in den Höhen philosophischer Ideen, sondern in den Niederungen historisch konkreter Alltäglichkeit. Dabei – ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch - gefallen mir beide Bücher ganz außerordentlich. Sie sind halt heftig, gehen zur Sache. Und wo mir das englische 19. Jahrhundert doch zu beklemmend wird, schalte ich um zu Boehms menschheitsumarmenden Ideen – und wo mir der zu sehr abschwebt, zurück zur Bissgkeit von Zadie Smith. Ich freue mich auf schöne Leseabende.

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Freitag, 17. November 2023
Afghanische Jungs und slawische Ortsnamen


Eben gekriegt. Ich kann sie so gut verstehen. Mir tut auch alles weh. Die märkischen Dörfer meiner Jugend jetzt zwar nicht mehr so sehr, das ist versunken. An die Stelle der damaligen Orientierungslosigkeit ist Überdruss getreten, an dieser ganzen Welt. Aber ich schalte dann schon immer noch rechtzeitig auf "funktionieren", und es geht weiter ...

... und das wird dieser Junge auch noch lernen, demnächst, wenn der Schmerz nachlässt, der sicher schlimmer ist als meiner.

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Mittwoch, 8. November 2023
Berlin Prepper
Durch Zufall begegnete mir der Thriller „Berlin Prepper“ von Johannes Groschupf, ein wunderbares Buch: klug, spannend, nah an der Realität. Es geht um prekäres Leben in Berlin, um Hasskommentare im Netz und natürlich um Prepper. Erschienen 2019, tagespolitisch natürlich nicht mehr ganz aktuell, umso mehr aber, was die Verhältnisse betrifft. Ich frage mich, wieso so ein Buch nicht rauf und runter durch die Feuilletons besprochen wurde - es ist jetzt vermutlich kein besonders herausragendes sprachliches Meisterwerk, aber welche von den in aller Munde seienden Büchern sind das schon? Und dieses hier - es ist nicht nur solide und ordentlich erzählt, es ist auch gesellschaftlich relevant. Unbedingte Leseempfehlung!

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Sonntag, 29. Oktober 2023
Mal was Positives
Letzte Woche musste mein Sohn unbedingt in ein Konzert in der Großen Freiheit. Wir Eltern fragten, zu wem, und googelten dann nach: Omah Lay, ein nigerianischer Sänger. Gefiel mir richtig gut. Also: ein nigerianischer Sänger, das gabs zu meiner Zeit nicht – oder nur als Weltmusik, und das musste dann Afrika-Folklore sein oder wurde zumindest so aufgefasst und nur von entsprechenden Fans konsumiert. Während das hier, das schien mir ganz normaler Pop, auch wenn natürlich afrikanische Einflüsse hörbar sind, so wie man ja auch hört, wenn Pop eher englisch, amerikanisch oder skandinavisch klingt. Schön, dass jetzt auch Nigerianer so selbstverständlich in der Großen Freiheit auftreten wie Engländer, Amerikaner oder Schweden. Und ohne dass vorher eine Protektion durch Harry Belafonte oder Paul Simon stattfinden muss.
(… und demnächst bitte auch Pop aus Malawi, Mongolei oder Moldawien …)

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Donnerstag, 19. Oktober 2023
Naiver Vorschlag
Von außen und weit weg stellt sich mir die Sache so dar: Es kann eigentlich niemand ein Interesse am Verbleib der palästinensichen Bevölkerung im Gaza-Streifen haben.

Die israelische Bevölkerung hat seit Jahren Angriffe aus den Reihen dieser Bevölkerung erdulden müssen, die jetzt völlig ins Barbarische eskaliert sind. Und es hat sich als unmöglich herausgestellt auseinanderzudividieren, wer da jetzt als aktiver Kämpfer, wer nur als menschliches Schutzschild und wer vielleicht als beides fungiert. Kurz: Die Anwesenheit dieser Bevölkerungsgruppe stellt eine ziemliche Bedrohung für Menschen in Israel dar.

Ein ganz ähnliches Interesse besteht auf Seiten ebendieser Palästinenser: Kein Mensch, der bei Verstand ist, kann in Gaza bleiben wollen, von Hilfslieferungen am Leben gehalten, ohne Zukunft für sich und seine Kinder, manchmal auch ohne Strom und Wasser, dafür immer mal wieder mit Bombardements. Und tatsächlich warten sie ja zu Tausenden an den Grenzübergängen, in der Hoffnung, einfach irgendwie nur rauszukommen.

In einer Welt, die mitfühlend wäre, und zwar für alle, die in der Region leben, in dieser Welt müsste Ägypten die Grenzen öffnen, Israel würde dann ein neues Gaza in Ägypten errichten, wo sie alle hin könnten, und würde im Gegenzug den Gaza-Streifen zur Besiedlung überlassen bekommen. (Dann müssten ihre Neuzuwanderer auch nicht mehr unter Militärschutz im Westjordanland siedeln, wo es ständig Ärger gibt, sondern könnten es unbehelligt am schönen Mittelmeerstrand tun).

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Mittwoch, 18. Oktober 2023
Gedanken bei Nachlass-Sortieren
Meine Mutter hat gern geredet, gern erzählt und konnte das auch gut – Gespräche mit ihr waren eine Freude – nur hat sie es zu wenig getan, da ihr das Selbstbewusstsein fehlte. Am besten gingen Fachgespräche, da sie ein solides Fachwissen zu Literatur, Kunst, Film besaß und in ihrer Generation ja Fachwissen Selbstbewusstsein ersetzen konnte. War ein kompetenter, zugeneigter Gesprächspartner zugegen, lief sie schnell zu Hochform auf, besonders bewundernswert fand ich immer ihre Kühn- und Treffsicherheit beim spontanen Knüpfen synästhetischer Zusammenhänge.

Privates fiel ihr schwerer; über ihr besonderes Steckenpferd, die Familiengeschichte, redete sie eigentlich nur zu ihren Kindern. Wir verdanken ihr eine umfangreiche und genaue Datensammlung zu dem Thema. Die zugehörigen erzählenden Texte sind aber nicht richtig gut, da sie sich dort – anders als in ihren klugen und oft souverän eigensinnigen Wissenschaftstexten – kaum zu ihrem subjektiven Blick auf die Dinge bekennt, sondern oft nur dunkle Andeutungen macht oder in ideologischen Klischees Halt sucht.

Am Ende ihres Lebens hat ihr die Demenz einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte noch ein Buch schreiben, aber nur ein Drittel des geplanten Textes ist tatsächlich entstanden, dann gerieten ihr die Textfassungen immer mehr durcheinander, schrieb sie Detailideen versehentlich mehrfach an verschiedenen Stellen des Textes auf usw. Ich war damit heute wieder konfrontiert, als mich daran machte, ihren hinterlassenen Papierwust zu sortieren.



Hier schreibt sie: „Neuer Anfang - Datei:Korrekturfass. 2 – genau kontrollieren! Kommen hier die … vor? - In welcher Datei sind die ‚Manipulationen?‘ - Korrekturfass.2 oder Vorschlagsfassung?“ Und ihr Fazit ist: „gesamt: ?“ Treffender kann man das nicht sagen. Und schade, dass der Text nicht zustande gekommen ist, sie hat es mir ja erzählt, ich weiß ja, was vorkommen sollte.

Schade auch, dass aus ihren privaten Erzählungen nichts geworden ist. Denn sie wusste schon, worum es geht im Leben. Unter den vielen angefangenen und nicht weitergeführten Heften und Schreibblöcken fand ich heute einen Block, auf dem nur die erste Seite zur Hälfte beschriftet ist. Und zwar mit folgenden Worten:

wie sahen sie sich selbst
welche Sternstunden hatte jeder
was rieten die Mütter ihren Töchtern
Wie berichtete man?
Wie starb man?
Wie wurden Geburten (oder kommende Kinder) kommentiert?
Wie sah man die Zeitereignisse?
Nahm man teil?
Aussprüche überliefern!
Wie die unmittelbar vorhergehende Geschichte?



Was für tolle Fragen! Ich habe keine Ahnung, wen oder was meine Mutter damals im Sinn hatte. Aber die Antworten wären definitiv spannend gewesen.

Meine Mutter war keine erfolglose Frau, keineswegs so erfolglos jedenfalls, wie sich sich oft fühlte. Und doch ist es schade, dass ein Mensch sein Potential nie voll ausschöpft – und dass meine Mutter gerade in dem, was ihre innerste Berufung war (ja, sie war auch gut als Wissenschaftlerin, auch gut als Pflanzen- und Tierliebhaberin, aber das hätten andere auch gekonnt), dass sie in dem nicht wagte, so klar und souverän zu sein wie in den genannten anderen, ihr nicht so wichtigen Lebensbereichen.

Jetzt ist es zu spät.

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Dienstag, 3. Oktober 2023
Der SPIEGEL bringt …
… die Blödheiten des jeweiligen Zeitgeists auf den Punkt: Vorhin beim Bäcker sehe ich die aktuelle Titel-Zeile: „Die Risiken von Meditation und Yoga“

Wahrscheinlich kommt nächste Woche „Physiotherapie – die überschätzte Therapieform“ und übernächste Woche „Das persönliche Arztgespräch – Einfallstor der Esoterik“.

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Montag, 2. Oktober 2023
Ehrenamt
Vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk, Bericht über Lernferien in einem armen Duisburger Stadtteil. Die Reporterin fragt die Studentin, die sich dort betätigt, warum sie, die „doch das Abitur in der Tasche“ hat, sich hier ehrenamtlich engagiert. Und diese geht voll drauf ein und erklärt, dass man den Armen helfen muss. Wie jetzt? Woher wissen die beiden, dass diese Kinder die Hilfe in den Ferien brauchen? (Schließlich kriegen die Kinder, die in dieser Zeit mit den Eltern in den Urlaub fahren, auch keine Lernferien-Hilfe, das scheint aber nicht so schlimm zu sein.)

Aber vor allem: Was hat das mit dem Abitur zu tun - wenn jemand anderen helfen will, spielt es da eine Rolle, ob er das Abitur hat oder nicht? Bedeutet, das Abitur in der Tasche zu haben, dass man es fürs erste geschafft hat, auf die sichere Seite, und sich nicht mehr für die anderen interessieren muss? Oder bedeutet es sogar, das schien ja die Frage der Reporterin anzudeuten, dass man nie Lernferien nötig hatte?

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Dienstag, 26. September 2023
Ich probiere einen gewagten Vergleich
Ich lese gerade „Über den Kolonialismus“ von Aimé Césaire. Das ist schon in den 1950er Jahren erschienen, ich hätte den Text kennen sollen. Aber auch meine Aufmerksamkeit folgt oft nur aktuellen Trends, leider. Nun gut, besser spät als nie.

Cèsaire hat den sehr interessanten Gedanken, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus uns so sehr schockieren, weil die Brutalität und Menschenverachtung der Moderne, die bisher nur die Kolonisierten in der Dritten Welt zu spüren bekamen, nun erstmals auch Vertreter der weißen Rasse erreicht. Wie wahr.

Das zeigt sich auch an anderen, aktuelleren Phänomenen. FIAN, bei denen ich Fördermitglied bin, unterstützt seit Jahren vertriebene Kleinbauern in Sambia, vertrieben durch den größten Agrarinvestor in Afrika, eine Berliner Firma (die ihre Steuern in Luxemburg zahlt und ihr Konto auf den Caimon-Inseln angelegt hat). Damit sage ich Ihnen sicher nichts Neues: Auch wenn mensch den konkreten Fall nicht kennt – wir wissen doch alle, dass es so läuft, und schauen weg.

Und da das mit dem Wegschauen bisher so gut geklappt hat, versuchen sie es nun auch hier in Deutschland: Die Aldi-Erben und die Besitzer von KiK investieren jetzt in deutsches Ackerland, verdrängen die Einzelbauern (jedenfalls die von ihnen, die ihr Land noch selbst besitzen). Na ja, zur Not können wir auch hier schauen, wir leben ja in der Stadt und sehen nicht, auf wessen Acker das Gemüse gewachsen ist, das wir essen.

Wegzuschauen gelingt es uns nur dann nicht, wenn die dunkelhäutigen Menschen in unseren Städten auftauchen. Lang genug profitierten wir von den Gewinnen, die skrupellose Unternehmen (in der Phase der Moderne dann auch staatlich gestützt) in der Dritten Welt machten – wir waren ja nicht schuld daran, wir sahen es nicht. Jetzt sind die dortigen Wirtschaftsverhältnisse immer noch nicht intakt, das Klima ist es zunehmend weniger, aber die Mobilität hat zugenommen, die Möglichkeit, sich von dort wegzubewegen, wo man für sich und seine Kinder keine Zukunft sieht. Also kommen sie.

Das System, von dem wir uns ernähren, ist krank. Was uns ernährt, unsere Wirtschaft, macht uns satt, aber auch krank. Wir schütten das Gift in uns rein, jetzt erscheinen die Wunden auf unser schönen weißen Hautoberfläche. Die Rechten empfehlen: absperren. Pflaster drauf, Verband drumwickeln, eine Mauer errichten. Was drunter schwärt, ist uns egal. Die Linken sind netter, sie reinigen die Wunde, machen Salbe drauf, damit es nicht so wehtut. Sie kümmern sich um die Leute, sofern sie schon hier sind, bei uns auf der weißen Hautoberfläche. Darunter brennt die Entzündung weiter.

Solange wir das Gift nicht stoppen, wird es schlimmer werden. Welche Regierung verbietet Finanzinvestoren, Bauern zu verdrängen, sei es in Sambia oder in Schleswig-Holstein?

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Schein-Debatte
Wahrscheinlich haben Sie es gar nicht gehört, da es so nebensächlich ist und blieb – ich schon, denn ich interessiere mich für DDR und für Literatur, und so erfuhr ich auch, dass die in Westdeutschland geborene Autorin Charlotte Gneuß einen Roman geschrieben hat, der in der DDR der siebziger Jahre spielt.

Sandra Kegel nahm das zum Anlass, in der FAZ zu fragen „Darf sie das?“ - und sogleich laut „ja“ zu rufen, wohl wissend, dass auch niemand etwas anderes behauptet oder gefordert hat. Wie kam sie also auf die abwegige Frage? Nun, der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze hatte ihm Vorwege der Veröffentlichung und offenbar in bestem Einvernehmen mit der Autorin das Manuskript des Romans gelesen und als Zeitzeuge einige Anmerkungen gemacht. Diese Anmerkungen gelangten auf merkwürdigen Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises, wo Gneuß‘ Roman auf den vorderen Plätzen mitspielt. Jury-Mitglied Katharina Teutsch (FAZ) machte den Vorgang öffentlich, sodass Kegel das zum Anlass nehmen konnte, Schulzes Anmerkungen zu einer philiströsen Meckerei an einem Kunstwerk aufzublasen.

Alle Feuilletons berichteten natürlich, aber niemand wollte sich so recht auf eine Debatte einlassen. Gerrit Bartels fragte im Tagesspiegel zu Recht, was das ganze Spiel nun sollte. Das frage ich mich auch. Ging es darum, wie es Bartels für möglich hielt, Gneuß‘ Buch von der Shortlist zu verdrängen (um Platz für den anderen zur Verfügung stehenden DDR-Roman zu schaffen, den mit der, so scheint es, konsequenteren Anti-DDR-Ideologie) oder doch umgekehrt darum, Gneuß‘ Roman die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen? Oder sollte nur der Ruf von Ingo Schulze ein bisschen beschädigt werden? Oder Dirk Oschmanns bitter wahres Diktum von Ostdeutschland als westdeutscher Erfindung?

Vielleicht ja gar nichts von alldem und es sollten nur die Seiten im Feuilleton gefüllt werden. Wenn dieses Letztere der Fall wäre, wäre das sehr schade, denn Sie sehen an meinem Text, wie viele hässliche Gedanken das unten in der Bevölkerung erzeugt, wenn oben nur ein ganz kleines bisschen gemogelt wird, um eine Debatte zu erfinden.

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Mittwoch, 13. September 2023
Deutsche Gründlichkeit
Mein Vater kriegt eine sehr gute Rente, meine Mutter, die lange Hausfrau war, bekam eine sehr geringe. Nach ihrem Tod beantragte mein Vater die "Große Witwenrente". (Das ca. 60-seitige Formular musste ich dann ausfüllen. Gefragt war unter anderem, an welchen Tag meine Mutter ihr Hochschuldiplom bekommen hat.)

Jetzt hat er einen Bescheid bekommen, 25 Seiten lang lang. Ergebnis: Mein Vater bekommt eine Große Witwenrente von monatlich 78 Cent, die ihm der Geringfügikeit wegen vierteljährlich als 2,34 Euro ausgezahlt werden.

Wie gesagt: Der Rechenweg wird auf 25 Seiten haarklein begründet.

Haben die denn sonst nichts zu tun?

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