Dienstag, 28. Juni 2022
Umwidmung von Begriffen
Es ist Mode geworden, vermeintlich schöne, alte Begriffe, die der Otto-Normal-Kunde nicht mehr braucht oder nutzt, relativ beliebig für neue Marketing-Zwecke einzusetzen. Das funktioniert mal besser, mal schlechter. Hier ein schlechteres Beispiel:




Wahrscheinlich hatten die Vermarkter im Sinn, dass in dem Laden ja kleine Stücke von großen Portionen in die Taschen der Kunden wandern. Und sicher schwang bei der Namensgebung auch die Erinnerung mit, dass der Begriff "Stückgut" in seiner ursprünglichen Bedeutung irgendwas mit der Frage der Verpackung zu tun hatte. Was sie nicht erinnern: dass er ja gerade die einzeln verpackte Ware bezeichnet. Aber "Schüttgut" hätte als Namen für einen Einzelhändlertresen auch nicht so gut geklungen.

Zu unterscheiden ist solcherlei Gedankenlosigkeit vom bewusst falschen Einsatz zu Täuschungszwecken. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Angebot von Streamingdiensten, einen Film zu "leihen" oder zu "kaufen", wobei Letzteres keineswegs bedeutet, dass der Kunde die Filmdatei erwirbt und nach eigenem Gutdünken verwenden kann. Es ist kein Verkauf, es ist eine Dauerleihgabe. Der Begriff "kaufen" schmeichelt dem Kunden einen Besitzerstatus zu, den er nicht hat.

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Sonntag, 26. Juni 2022
Eine wichtige Geste
Es ist wirklich Zufall, dass das Buch mir dieser Tage in die Hände fiel. Meine Frau hat es nach dem Tod ihrer Mutter aus dem Wegschmeißstapel gezogen, weil eine Widmung an ihren längst verstorbenen Vater drinsteht, konnte sich aber nicht entschließen, die alte Schwarte zu lesen.


Und als ich jetzt mein "Dunkelblum" ausgelesen hatte und lesetechnisch auf dem Trocknen saß, da erbarmte ich mich halt.

Es ist eine blutrünstige Geschichte rings um die Schrecken der Bartholomäusnacht, erzählt von einem protestantischen Schweizer Ich-Erzähler, der nach Paris eilt, begierig, als Soldat mit den Seinen in die Niederlande einzumarschieren und diese mit militärischer Gewalt von den spanisch-katholischen Besatzern zu befreien. Stattdessen gerät er in Paris in die fürchterliche Mordnacht - und wird errettet durch seinen katholischen Freund und dessen Amulett mit der Jungfrau Maria.
Weil menschliche Zuneigung mehr zählt als religiös-ideologische Überzeugung und Maria, wenn sie wirklich die Mutter Gottes ist, ihre Zauberkraft auch für die Feinde ihrer Schützlinge einsetzt.

Ein Verwandter also hat das meinem Schwiegervater zu Weihnachten 1944 geschenkt, als dieser sechzehnjährig als Flakhelfer eingezogen wurde - eine eindeutige und wichtige Geste.


Erinnern wir uns daran, jetzt, wo das Kriegsgeschrei allerorten wieder zunimmt.

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Montag, 20. Juni 2022
Befindlichkeitsnotiz
Heute ein bisschen narzisstische Selbstbetrachtung, das muss ja auch sein beim Bloggen: Gestern sagte jemand ungewollt etwas Kränkendes, besser: etwas, das eine uralte Kränkung wieder aufrief, und schwupp, war der Schalter umgelegt (hängt sicher auch mit körperlicher Erschöpfung zusammen - normalerweise kann ich sowas ab), und ich versank in Selbstmitleid. Heute morgen nach unruhigen Träumen ist das immer noch nicht weg. Alles fühlt sich zäh an, wie Durch-Schlamm-Laufen. Ich weiß aber (ich kenn ja diese Zustände), dass ich in solchen Situationen einfach weiter vorwärts gehen muss, dem Sog ins Sich-Zusammenkrümmen und Aufgeben nicht nachgeben darf, schon bald wird sich der Schlamm dünner anfühlen, vermutlich ist er heute Nachmittag schon ganz weg - und dann kann ich auch gefahrlos die ersehnte Pause nachholen, ein bisschen nachgrübeln oder weinen.

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Samstag, 18. Juni 2022
Ein Zitat
Die familiäre Situation erfordert es, dass ich wieder öfter übers Wochenende bei den Eltern bin. Ich übernachte dann im ehemaligen Kinderzimmer, das schon vor Jahrzehnten zum Gästezimmer mutierte und in das im Lauf der Jahre die Massen der jeweils weniger relevanten Bücher eingelagert wurden, die in der elterlichen Bibliothek von Wichtigerem verdrängt wurden. Überproportional vertreten: Schriften aus dem aufklärerischen Zeitalter. Vor dem Einschlafen greif ich mir dann oft einen Band heraus, neulich hab ich mir sogar ein Zitat rausfotografiert, das ich außerordentlich treffend fand, ich weiß leider nicht mehr, von wem es ist.



Nun, der Tag, von dem hier die Rede ist, der geht offensichtlich dem Ende entgegen, eigentlich sind sich alle einig, dass dunklere Zeiten anbrechen. Aber wenn dem so ist, dann sind die europäischen Intellektuellen (denen ich mich als akademisch Ausgebildeter auch zurechne) für die Zukunft eher schlecht ausgerüstet mit ihrer rationalen Faktenfinderei und Religionsverachtung.

Ein gutes Beispiel: der Roman "Dunkelblum" von Eva Menasse, den ich heute Morgen zuende las. Das Buch umkreist die Schrecken der nationalsozialistischen Vergangenheit mit prächtiger Sprachkunst, mit herrlichem Wortwitz und elegantem Spiel mit der Mundart sowie mit außerordentlich geschickt eingesetzten Andeutungen, aber letztlich wie die Katze den heißen Brei. Die Erzählstimme des Buchs reflektiert das sogar: Es ist die Rede von einem "tief eingewurzelten Misstrauen ... gegen Geschichten, die gut ausgehen" sowie auch davon, wie die Einheimischen den regionalen Jungnazi "verspotteten und in seinem Furor lächerlich machten", ihm "insgeheim jedoch recht" gaben. Aus dieser Tradition kann sich auch das Buch selbst nicht lösen: Die Starken sind in ihm mächtig und furchteinflößend, die Schwachen hilf- und orientierungslos und gern auch ein bisschen debil, und auf das Volk blickt der Text mit einer teils mitleidigen, teils gleichgültigen Arroganz, wie sie eben nicht nur den Nazis, sondern auch den gebildeten Aufgeklärten eigen ist. Und aus dieser Arroganz entspringt die Hilflosigkeit, mit der die Wahrheitssucher und Sympathieträger des Romans auf die Nazis starren.

Das Schönste an diesem ebenso klugen wie unsympathischen Roman: dass er das alles selber weiß. Er endet damit, dass die Figur des Grünen (aus der aufgeklärten Sicht des Buches natürlich nicht gerade ein Sympathieträger) in der örtlichen Kirche Schutz sucht und angesichts des Altarbildes zu der Überzeugung gelangt, dass die im Roman ausgebliebene Aufklärung der Verbrechen unausweichlich kommen wird, wenn es nur gelingt, sich nicht auf die Teufel zu fixieren und sie gerade dadurch teuflisch zu machen. Wie Recht er hat!

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Dienstag, 17. Mai 2022
Zweimal Kino
Mit den Lehrer-Kollegen war ich in "Eingeschlossene Gesellschaft", einem Film von Sönke Wortmann nach einem Drehbuch von Jan Weiler. Das lässt ja schon das Schlimmste befürchten, und so war es dann auch: die Klischees so verstaubt, dass sich niemand angegriffen fühlen muss, die Gags so platt, dass jeder mitlachen kann. Was sich Lehrer halt eben gern angucken: einen Film, in dem die Welt eine überschaubare, seit Jahrzehnten bekannte Struktur aufweist.

Das macht man halt mit, aus Kollegialität, sagte ich mir, hielt mich für etwas Besseres und ging privat in den Film, auf dessen Erscheinen man als Kinoliebhaber schon seit Wochen wartet: "Rabyie Kurnaz gegen gegen George W. Bush". Aber wieder Fehlanzeige. Zwar war die Hauptdarstellerin großartig, blieb aber eingesperrt in einem eher sentimentalen Film. Kaum zu glauben, dass dafür derselbe Regisseur (und dieselbe Drehbuchautorin) verantwortlich sein sollen wie für den außerordentlichen "Gundermann".

Na ja, sagte ich mir, vielleicht liegts daran, dass der dem damaligen Film zugrundeliegende reale Gerhard Gundermann eine ziemlich widersprüchliche Figur gewesen ist - da ist Potential für eine differenzierte Ausgestaltung - während der Stoff des neuen Films, der Fall Kurnaz, so eine eindeutige und himmelschreiende Ungerechtigkeit darstellt, dass ein Filmemacher schon verlockt sein kann, seiner berechtigten Empörung nachzugeben und simpel, geradeaus und undifferenziert zu erzählen. Der Ton macht eben die Musik: Wenn die Bremer Kurnazfamilie ohne weitere Ausdifferenzierung einfach eben mal so hinskizziert wird mit ein bisschen Türkenfolkore, wenn die Anwalts- und Prozessgeschichte so langatmig dargestellt wird, wie sie in der Realität vermutlich auch gewesen ist, dann wird das nichts.

Ein kleines Detail fiel mir auf: Der Regisseur hat einen Cameo-Auftritt als Mitglied des Supreme Courts, der Geoge W. Bush wegen Guantanamo zurechtweist. Aber ein Filmregisseur soll nicht richten. Das steht ihm nicht zu und das kann er vermutlich auch nicht so gut. Er soll erzählen, differenziert und genau. Denn das kann Andreas Dresen.

(... solange ihm nicht nicht die leidige Politik dazwischenfunkt. Wie z.B. auch in "Willenbrock", einem seiner wenigen nicht so guten Filme, in dem er die Teufelsfigur eines russischen Mafioso aus der literarischen Vorlage von Christoph Hein flugs in die eines väterlichen Freunds umdeutet. Und ja, ich weiß, dass Dresen auch Laienrichter am brandenburgischen Verfassungsgericht ist. Das ist Politik, soll er machen, warum nicht? Aber er möge das bitte nicht in seine Filme reintragen.)

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Freitag, 22. April 2022
An ihrer Rechtschreibprüfung sollt ihr sie erkennen
Mein IPad (eine Leihgabe der Schulbehörde, drunter machen sie's nicht, was die Geräte betrifft - aber für einen IT-Techniker ist kein Geld da) verbessert mein Adjektiv "weltfernen" ungefragt in "Weltfirmen".

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Montag, 4. April 2022
Frage zum Tage
Hat eigentlich Frank-Walter Steinmeier das Minsker Abkommen ausgehandelt oder hat er es gebrochen?

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Freitag, 11. März 2022
Enttäuscht von Gert Loschütz ...
... nachdem ich im Buchladen flink sein neuestes Buch kaufte - und es sich als ein altes herausstellte: den Roman "Flucht" von 1990, nun neu aufgelegt unter einem neuen Titel, da "Flucht?" inzwischen ganz andere Assoziationen wecke (als die aus der DDR in die BRD) und daher nicht mehr passe, wie der Autor in einer Nachbemerkung schreibt. Richtig. Aber der ganze Roman passt irgendwie nicht mehr. Allein die Tatsache, dass die beschriebene Flucht in den 50er Jahren mit einer normalen Eisenbahnfahrt zu bewältigen war ("Das ist ja lächerlich, das ist keine Flucht!" rief eine eritreische Schülerin sinngemäß, als Klassenkameraden von ihrer Flucht nach Deutschland per Flugzeug berichteten) und ihre eigentliche Härte nur im Ausgestoßensein als Ossi in der westdeutschen Provinz bestand (was übrigens beweist, dass Fremdenhass nichts mit Rassismus zu tun haben muss - er geht auch zwischen Deutschen verschiedener Regionen - und verschiedener sozialer Schichten).

Wie dem auch sei (jetzt hab ich mich schon in der Einleitung verzettelt): Mit Gert Loschütz geht es mir wie mit Wilhelm Raabe. Dessen realistisches Frühwerk interessiert mich nicht - den "Hungerpastor" zu lesen würde vermutlich nur meine Liebe für den Autor von "Stopfkuchen", von "Hastenbeck" und "Altershausen" trüben, und das muss ja nicht sein. Genau so fehlt mir das Interesse für den Alt68er Loschütz, den Herumreisenden und Tausendsassa, ich liebe den Romancier Loschütz, den älter und ruhig gewordenen und klug gebliebenen epischen Erzähler, und der beginnt mit "Flucht" von 1990.

Sicher ist das kein gutes, kein gelungenes Buch (ich ahnte das ganz richtig, als ich es mir nicht besorgte, bevor er es mir nun unterjubelte): schön und farbig, abwechslungsreich erzählt zwar, aber noch viel zu dicht an der biografischen Wirklichkeit, die wie jede Wirklichkeit trivial ist. Dadurch wirkt vieles ein bisschen weinerlich, und die dazugemixten seltsam-mystischen Episoden machen es nicht besser: Sie sind unterhaltsam zu lesen, wirken aber auch ein bisschen aufgesetzt. Das Gute an dem Buch: Es es ist die offenbar notwendige Vorarbeit für die beiden wirklich großen Romane Loschütz'.

In "Dunkle Gesellschaft" baut der Autor den surrealen Strang aus "Flucht" zu einem richtigen Privat-Mythos aus, der ergreifend und mitreißend, da in sich völlig stimmig ist, wobei der gesellschaftlich-politische Aspekt, die reale Existenz von Ungerechtigkeit und gesellschaftlichen Machtverhältnissen, immer auf kluge Weise mitschwingt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Umgekehrt in "Ein schönes Paar" (Was für ein schöner Titel! Wie er das Verhängnis, schön zu sein, für das Schöne zu sein, schon ironisch ankündigt!): Hier wird die harte Geschichte eines persönlichen Schicksals, eben der besagten Flucht, unter den Zwängen gesellschaftlicher Umstände erzählt (die weder im Osten noch im Westen sonderlich menschenfreundlich waren) und mit einer liebevoll ersonnenen Geschichte zart mystisch überhöht.

Und damit hats ein Ende. Schon der nächste Roman, "Besichtigung eines Unglücks", ist kein so großer Wurf mehr, nämlich ein bisschen gekünstelt konstruiert, wenn auch die einzelnen Episoden an sich wiederum sprachlich wunderbar, mitfühlend und politisch klug erzählt werden.

Und nun hat wohl der Verlag gedrängelt angesichts der vorherigen Erfolge oder Loschütz musste was für den Lebensunterhalt tun oder was weiß ich, jedenfalls diese Neuauflage von "Flucht" unter falscher Flagge - literarisch ist sie überflüssig, unpassend.

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Donnerstag, 17. Februar 2022
Zwei Bücher
die ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte: Zunächst mal "Die Rache ist mein" von Marie Ndiaye. Den Namen der Autorin hatte ich schon länger auf dem Schirm, und als jetzt die Feuilletons berichteten, dass sie einen richtigen Thriller mit Kriminalfall geschrieben hat, dachte ich, das könnte es doch sein, endlich auch mal Ndiyae zu lesen.

Das Buch war sehr spannend, es war brilliant geschrieben und es störte auch gar nicht, dass der Kriminalfall (es geht um eine Frau, die ihre Kinder tötete, um sich aus ihrer Ehe zu befreien) sich bald nur als ein beinahe nebensächlicher Anlass, in diesem Fall kann man sogar sagen: Trigger, herausstellte, um in die inneren Abgründe der Protagonistin, einer Anwältin, einzutauchen. Ein Buch, das einen fesselt: aufregend, überraschend, geradezu irre. Letzteres war allerdings auch der Punkt, der mich nach anfänglicher Faszination dann allmählich immer weiter auf Distanz gehen ließ: Die ganze Geschichte wird aus der Sicht der Protagonistin erzählt, die ständig lügt, und zwar nicht aus strategischen, sondern aus neurotischen Gründen - auch sich selbst belügt sie in einem fort. Das nervt. Natürlich kennen wir das alle: Verdrängungen, Lebenslügen, innere Abgründe - wer hat das nicht in sich? Aber in dieser Dichte, dieses Ausreden- und Lügengespinst, das war schon schwer auszuhalten.

Vielleicht ist das für kriminalistisch geschulte Leser, die Lügen schneller und mit mehr Spaß auf die Spur kommen, ein Vergnügen - mich hat es gequält. Ich bin solchen Personen zwar auch im echten Leben schon begegnet, mit einer war ich sogar einige Zeit lang befreundet, aber im echten Leben ist es irgendwie einfacher, da kann man sich darauf einstellen, indem man Tatsachenaussagen der betreffenden Person immer erstmal dahingestellt sein lässt und nur von Herz zu Herz kommuniziert. Aber in dem Roman, da musste ich ja jede freche, abstruse Lüge von vorn bis hinten durchlesen, sonst hätte ich den Handlungsfaden verloren, und ich wollte schon wissen, wie es ausgeht. Doch am Ende gabs realistischerweise keine Auflösung und nur so ein halbes Happyend, sodass ich das Buch mit einem blöden Gefühl der Antipathie verließ. Schade um so viel vergeudete Sprachkunst und erzählerische Rafinesse.

Was für ein Labsal war dagegen mein nächstes Wunschbuch, "Sie kam aus Mariupol" von Natascha Wodin! Wodin ist Romanschriftstellerin, das Buch wirkt auch wie ein Roman - es ist aber ein Sachbuch: Wodin forscht darin nach ihren familiären Wurzeln, nach der Biografie ihrer Mutter, von der sie fast nichts wusste. Denn diese Mutter hat sich mit nicht einmal 40 Jahren umgebracht, als Wodin noch ein Kind war, nachdem sie etliche Katastrophen des Jahrhunderts - Bürgerkrieg, Stalinzeit und deutsche Besatzung in der Ukraine, Zwangsarbeit und Nachkriegselend als Displaced Person in Deutschland - erlitten hatte. Wodin schreibt darüber in einer schönen, aber einfachen Sprache, deren Wucht sich aus den Inhalten, aus der Authentizität des Gesagten, speist.

Diese Authentizität geht so weit, dass das Buch je nach den zugrunde liegenden Quellen unterschiedliche stilistische Färbungen annimmt. Da ist zunächst das Hirn der Autorin selbst: ihr Bericht von der Suche, ihre Erinnerungen an die Kindheit, an ihre Mutter. Diese Passagen berühren natürlich am meisten, sie sind am persönlichsten.

Ein großer Teil des Buches fußt auf dem Lebensbericht von Wodins Tante, der älteren Schwester ihrer Mutter, die als alte Frau Erinnerungen an ihre Jugend, insbesondere die Jahre als Gulag-Häftling am berüchtigten Belomor-Kanal, verfasste, Jahre, in denen ihr ihre erzählerische Phantasie mitunter das Leben rettete. Diese Passagen wirken in Wodins Buch ein bisschen opernhaft, und ganz sicher ist das der Mentalität ihrer Tante zu verdanken.

Über die Mutter als Zwangsarbeiterin hat Wodin keinerlei biografische Angaben, sie muss sich auf entsprechende deutsche Forschungsliteratur stützen, entsprechend wird es hier ein bisschen spröde, manchmal moralisierend.

Und damit will ich gar nichts gegen die Quellen sagen, die außerordentlich glaubhaft und aufschlussreich sind. Es sind einfach unterschiedliche Techniken, die passierten monströsen Verbrechen überhaupt erzählbar, aussprechbar zu machen: indem man einen tragischen Lebensroman daraus macht wie die russische Tante - oder indem man sie als trockenen Faktenbericht mit moralischen Dekorationen darbietet wie die deutschen Forscher. Und als dritte Lesart kommt noch das Zeugnis der Autorin selbst dazu: das Leid ihres Lebens mit den riesigen biografischen Leerstellen, auch das eine Folge der Verbrechen.

Diese Vielfalt im Umgang mit dem Geschehenen macht die Größe des Buches aus. Ganz das Gegenstück zum irrwitzig in sich selbst Gefangenen von "Die Rache ist mein": wahrhaftig, differenziert, direkt - eine seltene, wohltuende Mischung.

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Donnerstag, 10. Februar 2022
Gehässige Zwischenfrage
Woher kommt eigentlich die dämliche Mode, in Referaten und Präsentationen "genau" zu sagen, wenn man den Faden verloren oder sich in einem unnötigen Exkurs verrannt hat, also gerade in dem Moment, in dem die Genauigkeit nicht mehr vorhanden ist? (Man kann ja derzeit an der Menge der Genaus geradezu nachzählen, wie unpräzise ein Vortrag ist.)

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