Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 2
Bremen lag träge am Fluss, auf dem Lastkähne fuhren, keine Containerschiffe. Die Uni war errichtet aus meterdicken Betonquadern und hatte ihre besten Tage hinter sich. Die Menschen fuhren Fahrrad oder Straßenbahn wie in meiner Heimat. Ich fand ein günstiges, geräumiges Zimmer im Keller einer Jugendstilvilla nahe am Stadtpark, die Besitzer waren schweigsame, linke Normalbürger mit hippieesken Kindern und einem Neufundländer, der eigentlich Anja gehörte, der ältesten Tochter, die das andere Kellerzimmer bewohnte. In diese dürfe ich mich nicht verlieben, meinte die Vermieterin, denn deswegen sei schon mein Vormieter ausgezogen. Weiter gab es keine Bedingungen. Der Ehemann, der als Vater des Hauses das letzte Wort zu sprechen hatte, meinte nur: „Schlüssel hast du? ... Na, dann!“ und gab mir die Hand.
Das sollte es also sein. Merkwürdig. Die Uniflure waren so hässlich wie in Hamburg, hässlich durch den Teppichboden, das Kunstlicht, den Beton. Die überall angehefteten Zettel offizieller und inoffizieller Natur machten die Gänge auch nicht wohnlicher, genau wie in Hamburg. Und doch wirkte hier alles familiärer. Jedermann versicherte mir, in Bremen dauere es zwar mit den Freundschaften, dann aber würden sie ewig halten.
Ich kam bald ins Gespräch mit Jan, weil wir die beiden einzigen Lehramtsstudenten waren, die sich für das skurrile Projekt „Spätantike“ angemeldet hatten und darin also ein Schulpraktikum absolvieren mussten. Jan trug verbeulte Kordhosen und eine metallgefasste Brille. Er fand das Thema „Spätantike“ gar nicht so skurril, im Gegenteil. Als Lehrersohn wusste er, was die Kerndaten sind – und wie man sie einer siebten Klasse vermittelt. Was wir im Seminar lernten über byzantinische Fürstenspiegel und frühchristliche Heiligenlegenden, das fand er so spannend wie ich, aber er ließ sich davon nicht überraschen. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause anrief in dem Reihenhaus vor den Toren Bremens, wo er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte ich seinen Vater an der Strippe, den Schuldirektor. Mich befremdete, wie geläufig er meinen Vornamen in den Mund nahm, als gehöre ich schon zur Familie. Und doch schien das eine beschlossene Sache. Ich hatte nichts dagegen, dass ich schon wenige Tage später das Reihenhaus und den Schuldirektor kennen lernte, auch Jans Freundin, eine blonde, spröde Dorfschönheit.
Einmal, als ich mich lange nach der Sprechstundenzeit noch vor den Professorenzimmern herumtrieb und Aushänge las, kam ich ins Gespräch mit einem Professor, der gerade Feierabend machte und in Quassellaune war, das Thema die Zunahme sozialer Probleme bei den Studenten. Ich hatte wenig Erfahrung damit, konnte aber aus dem Bauch heraus zustimmen, und vor allem war ich beeindruckt, wie selbstverständlich so ein Professor mit einem wildfremden Studenten tratscht, das wäre in Hamburg nicht vorgekommen, von G. ganz zu schweigen.
So verging mein erstes Semester in Bremen. Ich fand also Leute, war auch fleißig, ließ mir Scheine anerkennen und holte das Latinum nach. An den Wochenenden fuhr ich manchmal nach G. Ich liebte die Tramptouren durch mecklenburgische Kleinstädte, die alle noch keine Ortsumgehung hatten – man fuhr direkt vorbei an den Backsteinkirchen und kleinen Marktplätzen, den leer stehenden Fachwerkhäusern. Am Ortsrand von Neubukow musste ich einmal länger warten, da kamen ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern extra heran, um mich anzustaunen.

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Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 1
Die Mauer war gefallen, es hatte keinen Sinn mehr, in G. zu bleiben. Im Januar verkündete unser Lieblings-Professor, dass er vorzeitig in den Ruhestand gehen und zum Monatsende zu seiner Tochter nach Westdeutschland umziehen werde. Viele meiner Kommilitonen bereiteten den Studienortwechsel nach Berlin vor. Hans, der Physik studierte, bewarb sich in die USA. Ich beschloss, meiner Freundin zu folgen, die vor wenigen Wochen nach Hamburg gezogen war.
Ich gab ein kleines Abschiedsfest in unserer WG. In dem großen Zimmer mit dem Jugendstilofen rückten wir zusammen, was an Tischen vorhanden war, und legten weiße Laken darüber aus. Stühle mussten wir uns aus dem Seminar borgen. Es war Freitagabend und es lief eine Gastvorlesung zur Kunst der Antike, deren Zuhörer überwiegend auch bei uns eingeladen waren. Wir baten sie, sich jeder ihren Stuhl zu greifen und gleich mitzukommen. Und so wanderte eine kleine Stuhlkarawane durch den verwilderten Garten des Instituts zu der im Gebüsch versteckten Pforte im hinteren Zaun, die seit je her unbenutzt und unverschlossen war und sich genau gegenüber von unserem Haus befand.
Die Party selbst wollte nicht so richtig gelingen. Es waren alle da, aber es kam keine rechte Stimmung auf. Hanna, die mich damals im 1. Semester nicht erhört hatte, so jedenfalls hatte ich das in Erinnerung, war traurig. Ich legte meinen Schwung in das Verschenken meiner wenigen Möbel. Nur das Radio wurde ich nicht los, mein geliebtes Röhrenradio, das ich seit der sechsten Klasse besaß und das schon diversen Kassetten- und Tonbandgeräten als Verstärker gedient hatte. Die Vorlesungsmitschriften warf ich weg.
Zwei Tage später fuhr mich Harald, der einen Trabant-Kombi besaß, nach Hamburg. Dort ging alles schief. Meine Freundin hatte kein Interesse daran, die Beziehung mit mir fortzuführen, nur hatte sie sich das bisher nicht eingestanden. Jetzt zog sie den Schlussstrich. Und auch mein Baföggesuch wurde abgelehnt, da ich schon in der DDR studiert hatte. Ich fand eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung nahe bei der St.-Pauli-Kirche – „Im Osten hätte man sie nicht besetzt.“, meinten G.er Freunde, die mich besuchten – und lebte von Wohngeld und ein paar Studentenjobs.
Eines Morgens auf dem Weg zur Uni fuhr eine Kolonne von Mannschaftswagen der Polizei an mir vorbei. Das weckte mein Interesse. Ich verzichtete auf meine Vorlesung und fuhr ihnen nach. Bei dem Spektakel, das ich erlebte, handelte es sich um die Räumung eines besetzten Hauses, eines Hauses, das nicht den Eindruck machte, als sei es dauerhaft bewohnt. Aber Menschen schienen doch drin zu sein in der verbarrikadierten und mit Spruchbändern behängten Ruine. Jedenfalls erscholl eine Lautsprecherwarnung, bevor die Wasserwerfer in die Fenster zu spritzen begannen. Dann machten sich Polizisten an das Wegräumen der barrikadenähnlichen Hindernisse. Ich glaube, am Ende wurden die Bewohner aus dem Haus getragen.
Was mich beeindruckte, war die Routine der Polizisten. Ich hatte wenige Wochen zuvor eine andere Staatsmacht erlebt, eine verzweifelte, wütende, eine Staatsmacht im Todeskampf. Hier ging alles seinen Gang. Ich fuhr weiter zur Uni. Die Bibliothek war in dieser Zeit mein eigentliches Zuhause.
Im Herbst – ich hatte gerade fünf Wochen bei der Post gejobbt, um die Winterkohlen für meinen Dauerbrandofen zu finanzieren – wurde mein Bafögantrag doch noch genehmigt. Der Tipp eines konservativen Geschichtsprofessors mit dem schönen Namen von der Nahmer hatte mir dazu verholfen. Plötzlich war ich reich.
Hinter mir lag ein Sommer voller Nietzsche-, E.T.A.-Hoffmann- und Foucault-Lektüre, einer Unmenge neuer Bekanntschaften, der Unterschrift unter den ersten Mietvertag meines Lebens – und jetzt konnte ich mir auch noch einen Videorekorder leisten. Ich hatte es geschafft, ich hatte die Wende gekonnt überstanden. Jetzt konnte wieder ein normales Leben beginnen. Meine Wahl fiel – eher zufällig – auf Bremen. Dorthin zog ich im Frühjahr 1991.

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Neue Serie
Endlich gibt es mal wieder ein bisschen mehr Text, schön sentimental über früher. Die Anregung dazu gab Sabine Rennefanz. Wie offenbar viele Ostdeutsche bin auch ich abgedriftet in den 90er Jahren. Das nahm ich mir vor zu beschreiben und wollte schön das Politische dieses Abdriftens beschreiben. Dann ist es doch persönlicher geworden. Und das in Zeiten des NSA-Skandals! Aber was solls?! Wenn 10 Prozent Fiktion und 90 Prozent Erinnerung eine runde Geschichte ergeben, warum soll man sie nicht erzählen? Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

(P.S. Die Namen - außer dem schönen von Herrn von der Nahmer - hab ich natürlich anonymisiert, so viel Fainess muss muss sein, und was ich sonst noch so alles geschönt habe, das müssen Sie selbst rauskriegen.)

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Samstag, 21. September 2013
Was macht Miss Juni im Dezember?
Auf diese Frage von Bernd Begemann erhielt ich kürzlich eine Antwort, und zwar von einem deutschen Soldaten: „Wir haben einfach verschiedene Zeitschriftenvertriebe angeschrieben und behauptet, dass wir hier in Afghanistan den „Playboy“ nicht bekommen würden. Binnen Kurzem kamen mehrere Pakete mit großen Stapeln übrig gebliebener Magazine. Wir haben sie an die Amerikaner verkauft und den Erlös der Familie eines gefallenen Kameraden übergeben.“

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Samstag, 31. August 2013
Unbedingt angucken: "Du bist dran"!
Wer Eins-Festival empfangen kann, sollte heute Abend unbedingt einschalten: "Du bist dran" ist absolut sehenswert. Ein Fehsehfilm mit Fernsehfilmästhetik und -thematik (familiäre Verwicklungen in der Mittelschicht), aber fern jeder Banalität.
Ich hab den Film am Mittwoch im Ersten aufgenommen und gestern mit meinem Freund T. geguckt. Er, der keine Vorinformationen hatte, meinte gleich hinterher: Darf ich raten? Den Film hat eine eine Frau gedreht, und zwar keine mit normalem deutschen Hintergund." - "Richtig", sag ich, "eine Frau und Ostdeutsche."
Der Filmstil erinnert sehr an Maren Ade, waren wir uns einig, nur irgendwie nicht ganz so genial. Vielleicht liegts daran: Während es bei Maren Ade, der Westdeutschen, trotz sehr wachem Blick für gesellschaftliche Strukturen letztendlich um die Indivdualität der Figuren geht, interessiert sich Sylke Enders offenbar, trotz sehr wachen Blicks für die Individualität der Figuren, doch für die gesellschaftliche Struktur.
In ihrem Film sieht das Happy End so aus, dass am Ende das für alle Beteiligten Vernünftigste passiert: nicht das Glück des Einzelnen, sondern das gute Zusammenleben. Eine schöne Haltung. Wenn auch nicht meine.

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Mittwoch, 14. August 2013
Wahlverdruss
Treibt mich nun froschfilms Mahnung zu handeln noch um oder bin ich schon vom Wahlkampffieber der Medien erfasst? Jedenfalls träumte ich heute Nacht, dass ich die Bundestagswahl verpasse, weil es in dem Wahllokal so rummelig und voll war (überall Cafeteria und Verkaufsstände, aber nirgends ein Wahlhelfer, der mir erläutern könnte ...) und ich mich lieber noch ein bisschen abseits setzte und gelangweilt ein paar Schülern bei der Gruppenarbeit zusah. Plötzlich war es um sieben und ich hatte den Wahlzettel noch in der Hand.
In der Wirklichkeit soll mir das nicht passieren - und Ihnen auch nicht! Machen Sie es doch wie ich und markieren Sie Ihre Parteienstimme deutlich als teilgenommen, aber ungültig. Einen vertrauenswürdigen Direktkandidaten kann man dagegen, glaube ich, ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit ruhig wählen. Auf dass keine der denkbaren dämlichen Machtkonstellationen zu überhöhten Prozentzahlen kommt, aber möglichst viele vernünftige Leute in den Bundestag.

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Mittwoch, 24. Juli 2013
Die Reue der Unmündigen: „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
Vor über 20 Jahren sah ich „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner und war begeistert. Später las ich, der Film sei sentimental und verharmlose die Nazi-Vergangenheit, mit der er sich beschäftigt. Ich war irritiert. Erst jetzt sah ich den Film wieder und stellte fest, dass die Wahrheit (meine Wahrheit von heute) irgendwo dazwischen liegt.
Der Film zeigt uns als Rahmenhandlung zwei Männer in der typischen Trümmerfilmlandschaft, die ein Auto ausschlachten. Einer von beiden, der als intellektuell Gekennzeichnete, kann kaum arbeiten, da er depressiv über die Bosheit der Menschen nachsinnt, angesichts der ihn umgebenden Landschaft kein ganz unsinniger Gedanke. Jetzt widerspricht ihm das Auto und erzählt in Episoden von guten Menschen, die ihm in den zwölf dunklen Jahren seit seiner Herstellung im Januar 1933 doch begegnet sind: eine schöne, in ihrer Naivität berührende und durch die neorealistische Einfachheit und Klarheit der filmischen Umsetzung äußerst wirksame Idee. Ich mag sie einfach, diese karge, herbe Kunst der späten vierziger Jahre: Wolfgang Borchert, den frühen Böll, die Trümmerfilme, diese kurze Zeitspanne des Minimalismus, bevor die Kunst wieder anspruchsvoll und arrogant wurde. Mir gefiel auch der Blickwinkel der Episoden: immer aus der Sicht argloser Untertanen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, die sich wundern und gar nicht wahrhaben wollen, in was für einen Schlamassel sie da geraten sind. Halte ich für ziemlich realistisch.
Merkwürdig nur, dass gleich in drei der sieben Episoden Nazigegner als konkurrierende Liebhaber auftreten, denen die Kamera halb eifersüchtig, halb bewundernd folgt. Gleich in der ersten Episode wird der neue Wagen einer reichen Frau geschenkt, und die lässt sich damit auch kaufen von dem banal-fröhlichen Biedermann, der sie umgarnt. Doch dann tritt der Konkurrent auf, ein schroffer, unnahbarer Grübler, der schon auf der Flucht vor den Nazis ist, und die Frau entscheidet sich spontan, diesem doch zu folgen. Der nächste ist ein moderner Komponist, der eine Affäre mit der Frau seines Freundes hat, und als gleichzeitig rauskommt, dass er als „entartet“ verfolgt wird, verzeiht frau (nämlich die Tochter des Hauses) ihm die Eskapade. Endlich der Widerstandskämpfer, der verhaftet und „auf der Flucht erschossen" wird, wobei sich herausstellt, dass er im Begriff war, mit der Schwester seiner Frau, die seine Geliebte war, in die Schweiz zu fliehen. Auch ihm wird verziehen.
Täter treten in dem Film nicht auf, alle sind irgendwie gut, und Nazigegner zudem auch sexy (und natürlich männlich). Die Nazis sind unsichtbar, aber allgegenwärtig, eine anonyme, diffuse Bedrohung, und wir, aus deren Blickwinkel erzählt wird und die alles eigentlich nicht kapieren, wir ertragen das Leid als gerechte Strafe für unsere Doof- und Biederkeit. Dieser filmische Ansatz ist jetzt sicher nicht besonders mutig und aufklärerisch schon gar nicht. Aber er ist wahr und ehrlich: die Reue der Unmündigen.

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Samstag, 8. Juni 2013
Männer-Jammern, die hundertste: „You can leave your hat on“
Ich hatte heute eine Wartezeit zu absolvieren, unter Musikbeschallung, und musste Joe Cocker Randy Newmans Lied „You can leave your hat on“ singen hören. Meine Güte! Joe Cocker fand ich mal toll, Randy Newman auch. Aber das – war einfach nur ätzend.
Wenn ich mich rückblickend besinne, fällt mir auf, dass ich die beiden aus demselben Grund toll fand: wegen ihres gebrochenen Machotums. An Joe Cocker mochte ich die unbeholfene, beinah dysfunktional wirkende Vulgarität (seine berühmten krampfhaften Verrenkungen beim Singen), die am Beginn seiner poppigen Phase in den achtziger Jahren eigentlich noch besser (weil kühler begleitet) wirkte. Und an Randy Newman liebte ich das Gebrochene seiner fetten Südstaaten-Mentalität, den Witz, mit dem er seine Verwunderung über die eigene Haltung zum Ausdruck brachte. Auch ich fühlte mich so als Jugendlicher: als verhinderter Macho.
Inzwischen sind wir alle in die Lebensphase eingetreten, die man „erwachsen“ nennt. Joe Cocker hat seine Verkorkstheit so weit kommerziell repariert, dass er als bürgerlich angesehener Voll-Macho durchgehen kann. Randy Newman schreibt, soweit ich höre, Filmmusik, und hat sich also auf die angestammte Branche seiner Familie besonnen. Und ich höre keine Musik mehr. So pflegt jeder seine Minimallösungen.

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Mittwoch, 29. Mai 2013
Kleiner Verriss zwischendurch: Ich fordere mehr Gerechtigkeit bei der Buchpreisvergabe!
Zum dritten Mal erscheint nun dieses Buch ungefragt in unserem Haushalt, und deshalb will ich nun doch kurz erklären, weshalb ich „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge beim ersten Mal interessiert zur Hand genommen, nach 50 Seiten aber als unbrauchbar weggelegt habe.
Es ist sprachlich unspektakulär, zurückhaltend im Stil und doch locker geschrieben, leicht lesbar – und dennoch kein Lesegenuss, eher ein bisschen nörgelig, leicht pauschalisierend, ironisierend, von der Handlung her zwar im Wesentlichen glaubhaft, aber nirgends wahr, direkt, authentisch (jedenfalls so weit ich gelesen habe) – da ist immer ein Abstand, eine dünne Schicht Klischeehaftigkeit über den Figuren, so dass die Charaktere zwar noch erkennbar bleiben, aber nirgends geht es wirklich zur Sache, das tut keinem weh, stimmt irgendwie ungefähr und regt keinen auf, so mein Eindruck. Kurzum: unbedeutend.
Vor Jahren hab ich mal ein Buch geschenkt bekommen: „Solsbüll“ von Jochen Missfeldt, das ich ähnlich empfunden habe: sprachkünstlerisch bescheiden, aber solide erzählt, manchmal etwas holzschnittartig, aber doch sinnvoll im Ganzen. Dieses Buch schätze ich, ohne es sehr zu mögen, es braucht halt diese poetae minores, sie machen die Literaturlandschaft reicher. Hier hätte auch der betuliche Familienroman von Ruge einen guten Platz und ich würde Ruge vielleicht mehr schätzen, wäre er nicht schon so überschätzt.
Dass ich „Solsbüll“ im Gegensatz zu Ruges Buch zuende gelesen habe, mag daran liegen, dass ich Missfeldts etwas anstrengende Ernsthaftigkeit letztendlich höher achte als Ruges distanziert plaudernden Ton. Aber vielleicht ist es auch einfach nur das Thema: Missfeldt schrieb über norddeutsche Hebammen auf dem platten Lande – und das ist allemal spannender als zum hundertsten Mal die DDR-Oberschicht.
Alles eine Frage der Balance und gerechten Verteilung!

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Dienstag, 14. Mai 2013
Ein traditioneller Familienroman, brillant erzählt (Meine Rezension zu Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so)
Der Roman beginnt damit, dass die Person stirbt, um die sich im Folgenden fast alles dreht: der Vater einer westafrikanischen Einwandererfamilie in den USA. Dieser Vater, ein talentierter Chirurg, hat die Familie vor Jahren verlassen, ist zurückgegangen nach Ghana. Er ignoriert in dieser ersten Szene die deutlichen Vorzeichen eines Herzinfarkts und stirbt morgens im Garten seines selbstentworfenen Hauses, während seine neue, junge Frau noch schläft.
Auf der Suche nach dem Warum entfaltet die Autorin dann in Rückblenden, Reflexionen und Abschweifungen ein atmosphärisch dichtes und psychologisch äußerst stimmiges Portrait der ganzen Familie: des jungen Immigrantenpaares aus Ghana/Nigeria, das die eigenen Wurzeln abschneidet, um den amerikanischen Traum zu leben – er als fleißiger, immer beherzt und engagiert handelnder und daher erfolgreicher Arzt, sie als seine kluge Partnerin, die sich beruflich zurücknimmt, um sich um die Kinder der Vorzeigefamilie zu kümmern: Olu, der als erster Sohn ganz nach dem Vater kommt, die eher kreativ-künstlerischen Zwillinge Kehinde und Taiwo sowie das Nesthäkchen Sadie.
Als der Vater aufgrund einer Intrige mit rassistischem Unterton (das wirtschaftliche Überleben des Krankenhauses erforderte ein Bauernopfer, da fiel die Wahl schnell auf ihn, den Schwarzen) entlassen wird, bricht sein amerikanischer Traum zusammen, er verlässt die Familie, bald auch die USA und beginnt in seiner alten Heimat ein neues Leben.
Im zweiten Teil des Romans finden die inzwischen erwachsenen, in alle Winder verstreuten Kinder und die Mutter anlässlich des Begräbnisses wieder zusammen – und vor allem finden sie Erlösung im Angesicht ihrer Wurzeln, ihrer Heimat, der vom Urgroßvater erbauten Hütte der Großeltern. Das ist weder originell noch gänzlich kitschfrei, aber solide und glaubhaft zuende geführt.
Natürlich – der letzte Satz deutet es an – fand ich im zweiten Teil des Romans manches etwas künstlich, etwas zu perfekt arrangiert, und trotzdem: Auch hier gibt es immer wieder Szenen, die mich begeistern: kluge, eindringliche, immer empathische Schilderungen von Menschen und dem, was ihnen zustößt. Manchmal ist das nur interessant, da einfach zuzuhören (z. B. wenn die ostasiatischen Immigranten mit den afrikanischen konkurrieren), öfter anrührend (z. B. wenn die junge Geliebte eines Professors sich geist- und wortreich darüber selbst belügt, warum sie das tut), manchmal treibt es einem (mir jedenfalls) die Tränen in die Augen (z. B. wenn die kluge, alte Ghanaerin, die so gut wie nie zur Schule gehen durfte, ihren Sohn zum Studium in die USA abreisen sieht – voll Stolz, dass sich nun ihr Lebenstraum erfüllt, und gleichzeitig verzweifelt, weil sie weiß, sie sieht ihn nie wieder).
Insgesamt ein unbedingt empfehlenswertes Buch: etwas konventionell in der Konzeption, aber wunderbar reich in der erzählerischen Ausführung.
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So, und damit solls gut sein: Denn das, was ich hier mit meiner zarten Kritik angedeutet habe, das ist mehr eine Ahnung: Irgendwas passt mir da nicht an der Konstruktion der Handlung – aber so ganz hab ich’s noch nicht kapiert. Denn auch da, wo es mir nicht gefällt, ist das Buch außerordentlich klug – so ganz geknackt hab ich das noch nicht. Vielleicht komme ich darauf zurück.

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Freitag, 19. April 2013
"Mobbing" - Fernsehfilm nach einem Roman von Annette Pehnt
Sowas gibt’s also auch, dass ein ganz normaler Fernsehfilm mich mehr in seinen Bann zieht als der zugrunde liegende Roman. So jedenfalls ging es mir mit dem Film „Mobbing“ nach dem gleichnamigen Roman.
Natürlich war auch dieser ein Fernsehfilm nur ein Fernsehfilm: nicht ganz kitschfrei, und die weibliche Hauptfigur musste ihr Gesicht ein paar Mal zu oft mit Leidensmiene in die Kameratotale halten, die Nebenfiguren der Eltern/ Schwiegereltern waren küchenpsychologisch einfach geschnitzt, und dass es um den Machtverlust eines patriarchal empfindenden Mannes geht, das hätten wir auch ohne die hässliche und unglaubhafte Vergewaltigungsszene verstanden.
Trotz dieser etwas groben Oberfläche aber zeigt der Film ein tieferes Verständnis der geschilderten Vorgänge als die gepflegte, genau erzählte, aber spröde und reflexionsarme Romanvorlage.
Annette Pehnt, die Romanautorin, hat mit „Mobbing“ eine – rein vom Stoff her - tolle Geschichte präsentiert, einen geradezu prototypischen Fall: Da ist ein Mann mit einem gut bezahlten Job bei der Stadtverwaltung, er kann sich ein Reihenhaus für die Familie und für seine Frau eine wenig lukrative kreativ-freiberufliche Tätigkeit leisten. Im Dienst ist er ein Macher: Da die Chef-Position wohl aus Kostengründen seit längerem vakant ist, organisiert er – gemeinsam mit einem befreundeten Kollegen – äußerst erfolgreich die ganze Abteilung. Endlich wird die Abteilungsleiterstelle doch wieder besetzt, mit einer Frau, die von außen kommt, ehrgeizig und ahnungslos ist. Der Machtkonflikt ist vorprogrammiert, binnen kurzem geht die neue Chefin in die Offensive, bringt mit Zuckerbrot und Peitsche die subalternen Mitarbeiter auf ihre Seite und drängt die beiden informellen Führungspersönlichkeiten per Mobbing in die Ecke. Nicht lange, und der befreundete Kollege gibt auf, als Single kann er es sich erlauben, einen befristeten Job in einem anderen Bundesland anzunehmen. Der Hauptheld aber sitzt fest in seinem Reihenhaus, verbeißt sich in einen einsamen, kohlhaasartigen Kampf mit seiner überlegenen Gegnerin, zunehmend beargwöhnt von seiner eigenen Frau, die er an seinen Nöten aus Scham nicht teilhaben lässt und die – schwankend zwischen Existenzangst und Verständnislosigkeit gegenüber der (gelinde gesagt) Verhaltensänderung des einst geliebten Mannes - sich immer mehr aus der Beziehung zurückzieht.
Was mich an dieser an sich sehr stimmigen Geschichte beim Lesen störte, das war die subjektive Erzählhaltung aus der Sicht der Frau - einer Frau, die sich zusammen mit ihrem Mann für ein sehr traditionelles Familienmodell entschied, das nun vor der Katastrophe steht, und die nicht mal ansatzweise ihr eigene Rolle in dem Spiel begreift, die nur immer verzweifelter überlegt, ob ihrem Mann, dem Ernährer, nur so übel mitgespielt wird oder ob er selber es ist, der da durchdreht. Als ob das irgendeine Rolle spielen würde.
Der Film variiert diese ahnungslose Ehefrauensicht in einigen kleinen, aber entscheidenden Details. Im Film haben die beiden das Haus noch nicht gekauft, sie könnten noch raus aus der Nummer. Und die Frau denkt sogar daran. Außerdem wird die neue Chefin durch einen kurzen Satz über ihren Ehrgeiz („die geborene Chefin“) und durch ihren Namen („Dr. Elke Schulz““) als Luftnummer und Karrieristin gezeichnet. Von ihrem Gegenspieler, Hauptfigur und Ehemann Jo, können wir vermuten, dass er, obwohl selbst solide und vernünftig, im Hass auf solche Personen fixiert ist, da er eine penetrante, karriereorientierte Mutter hat, während die Eltern von Ehefrau Anja konservativ bodenständig daherkommen, was Anjas Rolle als Heldin verstärkt.
Diese Dramaturgie ist sicherlich kitschig und kulturpessimistisch, aber sie öffnet zumindest den Blick auf die politische Dimension des Konflikts, weist über die scheinbar unerklärliche Bosheit der Mobbenden (in der Romanfassung) hinaus. Auch Anja hat sich im Film (anders als im Buch) beruflich nicht durchsetzen können, ihre Freiberuflichkeit ist als bürgerlicher Luxus getarntes Scheitern. Dadurch rückt sein Problem in einen größeren Zusammenhang, einen, den sie auch kennt, den wir alle kennen: Dieses Mobbing ist kein individuelles Problem, es ist Ausdruck der sich verschlechternden Zustände im Arbeitsleben: Die fetten Jahre sind vorbei. Wenn die Futternäpfe weniger werden, dann wird brutaler um sie gekämpft.
Das Schöne an dem Film war, das es einen Ausweg zeigt: Es lohnt sich nicht, seine Würde dranzugeben, nur um ein Reihenhaus zu finanzieren. Wenn wir es schaffen, von dem Wohlstandsdenken der westdeutschen siebziger/achtziger Jahre runterzukommen (all meine Studienfreunde hatten Elternhäuser in den Vorstädten mit den dazugehörigen dicken Bankkonten, Zeitung lesenden Vätern und sich langweilenden Müttern), dann reicht es allemal noch locker, unsere Kinder vernünftig großzuziehen.
Frau von der Leyen hat das übrigens längst erkannt.

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