Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 2
Bremen lag träge am Fluss, auf dem Lastkähne fuhren, keine Containerschiffe. Die Uni war errichtet aus meterdicken Betonquadern und hatte ihre besten Tage hinter sich. Die Menschen fuhren Fahrrad oder Straßenbahn wie in meiner Heimat. Ich fand ein günstiges, geräumiges Zimmer im Keller einer Jugendstilvilla nahe am Stadtpark, die Besitzer waren schweigsame, linke Normalbürger mit hippieesken Kindern und einem Neufundländer, der eigentlich Anja gehörte, der ältesten Tochter, die das andere Kellerzimmer bewohnte. In diese dürfe ich mich nicht verlieben, meinte die Vermieterin, denn deswegen sei schon mein Vormieter ausgezogen. Weiter gab es keine Bedingungen. Der Ehemann, der als Vater des Hauses das letzte Wort zu sprechen hatte, meinte nur: „Schlüssel hast du? ... Na, dann!“ und gab mir die Hand.
Das sollte es also sein. Merkwürdig. Die Uniflure waren so hässlich wie in Hamburg, hässlich durch den Teppichboden, das Kunstlicht, den Beton. Die überall angehefteten Zettel offizieller und inoffizieller Natur machten die Gänge auch nicht wohnlicher, genau wie in Hamburg. Und doch wirkte hier alles familiärer. Jedermann versicherte mir, in Bremen dauere es zwar mit den Freundschaften, dann aber würden sie ewig halten.
Ich kam bald ins Gespräch mit Jan, weil wir die beiden einzigen Lehramtsstudenten waren, die sich für das skurrile Projekt „Spätantike“ angemeldet hatten und darin also ein Schulpraktikum absolvieren mussten. Jan trug verbeulte Kordhosen und eine metallgefasste Brille. Er fand das Thema „Spätantike“ gar nicht so skurril, im Gegenteil. Als Lehrersohn wusste er, was die Kerndaten sind – und wie man sie einer siebten Klasse vermittelt. Was wir im Seminar lernten über byzantinische Fürstenspiegel und frühchristliche Heiligenlegenden, das fand er so spannend wie ich, aber er ließ sich davon nicht überraschen. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause anrief in dem Reihenhaus vor den Toren Bremens, wo er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte ich seinen Vater an der Strippe, den Schuldirektor. Mich befremdete, wie geläufig er meinen Vornamen in den Mund nahm, als gehöre ich schon zur Familie. Und doch schien das eine beschlossene Sache. Ich hatte nichts dagegen, dass ich schon wenige Tage später das Reihenhaus und den Schuldirektor kennen lernte, auch Jans Freundin, eine blonde, spröde Dorfschönheit.
Einmal, als ich mich lange nach der Sprechstundenzeit noch vor den Professorenzimmern herumtrieb und Aushänge las, kam ich ins Gespräch mit einem Professor, der gerade Feierabend machte und in Quassellaune war, das Thema die Zunahme sozialer Probleme bei den Studenten. Ich hatte wenig Erfahrung damit, konnte aber aus dem Bauch heraus zustimmen, und vor allem war ich beeindruckt, wie selbstverständlich so ein Professor mit einem wildfremden Studenten tratscht, das wäre in Hamburg nicht vorgekommen, von G. ganz zu schweigen.
So verging mein erstes Semester in Bremen. Ich fand also Leute, war auch fleißig, ließ mir Scheine anerkennen und holte das Latinum nach. An den Wochenenden fuhr ich manchmal nach G. Ich liebte die Tramptouren durch mecklenburgische Kleinstädte, die alle noch keine Ortsumgehung hatten – man fuhr direkt vorbei an den Backsteinkirchen und kleinen Marktplätzen, den leer stehenden Fachwerkhäusern. Am Ortsrand von Neubukow musste ich einmal länger warten, da kamen ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern extra heran, um mich anzustaunen.

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Sie schreiben schön Geschichte! Freue mich auf Teil 3 etc.
(Auch schön: Kinder herbeierstaunen können.)

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