Donnerstag, 4. April 2013
Osterüberraschung


Damit der nörgelige Beitrag über das Fernsehen nicht ewig hier als Startbeitrag stehen bleibt, berichte ich schnell von einem Glücksmoment.
Wir waren Ostern bei der Schwiegerfamilie. Und da die Leute eine Buchhandlung betreiben, liegen auf dem Couchtisch immer diverse Neuerscheinungen umher, die meine Schwägerin an- oder durchliest, damit sie immer mal einen neuen Lesetipp ins Schaufenster hängen kann. Dieser Tisch zog mich wieder wie magisch an. Und als nach dem Ostereiersuchen im Schnee und dem langen Familienfrühstück die Truppe loszog, weil der Hund raus musste, die Erwachsenen eine Tante besuchen und die Kinder weitere Schneeballschlachten veranstalten wollten, da durfte ich mich ausklinken und bei einer Schale Erdnussflips ein paar Stunden lang schmökern.
Zuerst fiel mein Blick auf „Westschrippe“, wegen des markanten Titels. Thema: eine Kindheit im Zonenrandgebiet der siebziger-achtziger Jahre, autobiographisch. Da dachte ich nach einer Seite schon: Wie banal! Las dann aber doch weiter. Denn Lebensgeschichten sind immer interessant und informativ („Ich hab keine Zeit mehr für Romane, ich les nur noch Biografien.“, meinte der Schriftsteller-Archivar Walter Kempowski an seinem Lebensende), da können sie ruhig banal sein. Ich hab jedenfalls einiges gelernt über die westdeutsche Einfamilienhauskultur zwischen Stromkonzern und Friedensbewegung. Unreflektiert und authentisch - ich mag das (ein bisschen wie "Titos Brille", nur eben nicht jüdisch-jugoslawisch überdreht, sondern hessisch-provinziell trocken).
Richtig gepackt hat mich aber erst das nächste Buch: „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ von Tayie Selasi. Herrlich prätentiöser Titel (ganz im Gegensatz übrigens zum cool-knappen Originaltitel „Ghana must go“), und gleich die erste Szene präsentiert einen Todesfall unter gleißender ghanaischer Sonne und das psychologische Rätsel, das sich dahinter verbirgt. Und so geht es weiter: eindringlich, farbig, fast schon plakativ an der Oberfläche des Geschehens, sensibel, klug, oft jeanpaulhaft sich selbst korrigierend oder abschweifend auf der Ebene der eingestreuten Reflexionen: „Kwaku weiß – während er dasteht, in seinem Unterhemd und seiner MC Hammer-Hose, die Schulter an die halb offene Schiebetür gelehnt, während er tiefer in den Traum gleitet, in die Erinnerung und in andere Gefühle dieser Art (Bedauern, Reue, Ärger, Umwertung) - , dass er stirbt. Er weiß es. Aber er merkt es nicht.“
Ich bin begeistert und ich hoffe, meine Begeisterung hält sich. Ich werde berichten.

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Dienstag, 26. Februar 2013
Getäuscht
Bei uns in der Nähe, wo die ollste Gegend ist, da, wo früher der Schlecker drin war, tat sich plötzlich etwas. Junge Leute richteten die Räume her, dann kamen Möbel: Schreibtische, Bücherregale, ein altes Sofa, tags darauf eine Unmenge Bücher und Aktenordner und schöne Kissen für Sofa und Stühle. Die Szenerie wirkte hippieesk und lebendig und ich wurde sehr neugierig, was hier wohl passiert.
Zwei Tage später: Filmscheinwerfer! Ich war maßlos enttäuscht. Im Internet erfuhr ich, dass hier neue Folgen für "Der Dicke" gedreht werden, das übliche Vorabend-Gutmenschen-Fernsehen.
Inzwischen sieht es wieder trist aus. Das echte Leben ist wahrscheinlich nicht so schön.

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Dienstag, 12. Februar 2013
Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden
Also, wenn dieser Satz gilt, das muss er doch zu aller erst für den Papst gelten.
Allerorten hört man von Respekt vor Papst Benedikts Entscheidung, dass er Verantwortung wahrgenommen hätte, indem er jetzt zurücktritt, da er seine Organisation nach menschlichem Ermessen nicht mehr kontrolliert führen kann. Ganz als wäre er halt der Vorstandsvorsitzende der Katholizismus AG und seine vordringlichste Aufgabe wäre es, seine Firma erfolgreich durch die Zeiten zu bringen.
Aber ist nicht der Papst der Stellvertreter Gottes auf Erden?! Darf er denn überhaupt zurücktreten, ohne ausdrückliche Erlaubnis seines Chefs, dem er verpflichtet ist? Ist nicht die Verpflichtung, als ganzer Mensch und bedingungslos den christlichen Glauben vorzuleben wichtiger als der Bestand der Kirche?
Ich meine, all die kleinen Würmchen von Katholiken, die sollen das Sakrament der Ehe einhalten, da sie es vor Gott versprochen haben. Und der Papst oben muss solche Verpflichtungen nicht einhalten. Das ist doch ungerecht.
Ja – man kann die Ehe natürlich auch anders auffassen, als lösbaren Vertrag (ich als heimlicher Konservativer finde diese Haltung nicht so schön, wenn auch natürlich legitim). Und genau so hätte es Papst Benedikt selbstverständlich freigestanden, das Papsttum – dem er ja nun einige Jahre vorgestanden hat – zu reformieren: sich zurückzunehmen, zum fehlbaren Verwaltungschef der katholischen Kirche zu machen. Warum nicht? Aber dass ihm die alten Dogmen nicht lästig waren, solange nur andere darunter litten, sondern erst jetzt, wo es ihm selber dreckig geht, das finde ich nicht richtig.

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Mittwoch, 23. Januar 2013
Zwischendurch bemerkt
Heute habe ich mir was ganz richtig Schönes gegönnt: Das Hamburger Literaturfaltblatt vermerkte, dass eine Lesung mit Hans-Ulrich Klose stattfindet. Nun, diesen Politiker fand ich damals als Jugendlicher ganz toll, als ich die Welt per Westfernsehen wahrzunehmen begann. Meine beiden anderen Stars aus dieser Lebensperiode, Neil Young und Rickie Lee Jones, habe ich inzwischen ja auch bei Auftritten in Hamburg live begutachtet, warum sollte ich dies nicht auch mit Klose tun?
Und es war wunderbar: Da saß also dieser stilvoll ergraute, hochseriöse alte Mann in einer St.-Pauli-Kellerkneipe vor 30 Altlinken und las Gedichte. Eine Szenerie aus lauter nicht zueinander passenden, aber jeweils sehr sympathischen Elementen. Natürlich konnte der Mann - als Berufspolitker - seine Texte professionell sprechen, es waren leichte, teils melancholische, teils mehr verträumte Gedichte über den westdeutschen Lebensalltag, manchmal mit einem kleinen Hang zum Kitsch, nicht sehr tiefgehend, aber nirgends platt, mit einem Grundton von postmoderner Heimatlosigkeit und voller dezentem Lebensgenuss. Und nach einer Stunde und bevor das Publikum ihn in weitergehende politische Diskussionen verwickeln konnte, zog Klose seinen Mantel an und verließ den Raum.
Und ich dachte staunend und neidisch: Die siebziger Jahre in Westdeutschland, für die dieser Mann steht, die müssen doch das Paradies gewesen sein.

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Sonntag, 6. Januar 2013
Zu Weihnachten geschenkt bekommen: Weidermann "Lichtjahre" - unterhaltsam, kenntnisreich, mysogyn und rechts
Zu Weihnachten habe ich „Lichtjahre“ geschenkt bekommen, eine deutsche Literaturgeschichte der Nachkriegszeit, geschrieben vom Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidermann, und möchte sie hier rezensieren.
Das Buch ist wie unsere Zeit, finde ich, eine Zeit, der ich mich mental sehr verbunden fühle, in der ich zu Hause bin, auch wenn ich ihre politischen Vorlieben nicht teile: „Lichtjahre“ ist sehr persönlich geschrieben, oft sogar flapsig und bewusst ungerecht, dabei aber sehr kenntnisreich und oft ziemlich treffsicher, gerade in den wie nebenher hingeworfenen Bemerkungen. Leider hat es eine Schlagseite nach rechts: Es zieht in der Regel Arschlöcher den netten Schriftstellern vor, reiche den armen, Egomanen den Romantikern und natürlich fast immer Männer den Frauen.
Der grundsätzliche Trick seiner Herangehensweise ist (literaturwissenschaftlich gesehen) sehr konservativ, aber auch sehr effektiv (auch ich hab ihn in meiner Examensarbeit einst angewendet): Er erschließt die Literatur über die Biografien der Autoren. Meisten funktioniert das ziemlich gut.
Manchmal geht es aber auch daneben, bei Doderer z. B.: Weidermann schildert kurz und eindringlich, welch verqueren Weg der „Herr aus Wien“ gegangen ist, nämlich in die Partei der Nazis, vor denen sonst (fast) alle Schriftsteller flohen, und die ihn auch gar nicht haben wollten, erwähnt auch dessen moralische Schattenseiten, um daraufhin auch Doderers schriftstellerisches Werk als merkwürdig, fast unsinnig und etwas anrüchig zu charakterisieren. Das ist natürlich nicht ganz falsch – ich wusste bisher nichts über Doderers Leben, habe nicht viel mehr als einen Roman von ihm gelesen, aber das da etwas sexuell-beziehungstechnisch Fragwürdiges und auch eine gewisse altmodische Spießigkeit mitschwingen, das hab ich auch als störend wahrgenommen – aber das ändert doch nichts am Witz, an der Sprachgenauigkeit, halt dem großen schriftstellerischen Können dieses Autors!
Trick Nr. 2 von Weidermann: subjektive, bewusst ungerechte Urteile. Und natürlich funktioniert das natürlich am besten bei den Autoren, die er liebt, Max Frisch z. B. Was mich betrifft, ich kann ja Max Frisch nicht ausstehen. Aber durch Weidermanns Liebeserklärung, da habe ich zum ersten Mal verstanden, weshalb viele Menschen Frischs Bücher so hoch schätzen: Frisch ist der Schriftsteller des Egozentrismus: geschichtslos, selbstverliebt, an sich selbst zweifelnd. Und immer auf der Suche nach dem individuellen Kern des eigenen Selbst, den man natürlich nie erblicken wird, solange man ihn krampfhaft fixiert. Diese tragische Ich-Suche hat Frisch in der Tat gedanklich tief und sprachlich überzeugend inszeniert. Und offenbar hat er damit ein Thema angesprochen, das die deutsche Gesellschaft seit Jahrzehnten umtreibt.
Wenn Weidermann die Leute nicht mag, also tendenziell eher die Gefühligen, die Hippies, Frauen usw., dann geht dagegen meistens was schief. Bei Plenzdorf mags noch angehen, der kriegt den Erfolgreichen-Bonus. Weidermann mag ihn zwar nicht, er erkennt aber neidlos an, dass „Die neuen Leiden ...“ und „Paul und Paula“ den Nerv der Zeit trafen. Die eventuellen schriftstellerischen Qualitäten Plenzdorfs sind ihm dann kein Thema mehr.
Bei Christa Wolf umgekehrt: Er beweist, dass er ihre Qualitäten sehr wohl erkennt: „Nachdenken über Christa T. ist am unsichersten im Ton, am suchendsten, am tastendsten, am zweifelndsten und deshalb ihr bestes Buch.“ (S. 141) Und dann macht er sie wider besseren Wissens als klischeehaft und kitschig nieder. Kein Wort über das Emanzipative, das ihrem Tasten, ihrem Suchen innewohnt. Dass man jenseits des Rationalismus freiheitlich denken kann, geht ihm wohl nicht ein. Selbst bei Ingeborg Bachmann vermag er keinen Freiheitsimpuls zu erkennen – er unterstellt ihr sogar, sie würde auf den Märchenprinzen warten, auf einen Märchenprinzen in Gestalt eines großen Dichters. Was für ein Blödsinn.
Das Attribut „kitschig“ ist bei ihm sowieso eher weiblich konnotiert. Christa Wolf und Nelly Sachs sind kitschig. Ingo Schulze bleibt von diesem Vorwurf verschont. (Immerhin, das muss man Weidermann anerkennen, macht er einmal eine Ausnahme: Bernhard Schlink bekommt, obwohl männlich, auch das Attribut "kitschig" – und sicher nicht zu Unrecht.)
Mehr Verständnis hat Wiedermann allerdings für die Meckerer. Dem Berühmtesten ihnen, Thomas Bernhard, widmet er viele Seiten. Den großen Meckerer Wolf Biermann wagt er entgegen dem Zeitgeist zu loben. Und die Oberzicke Monika Maron hält er für eine große Schriftstellerin (und Flugasche, diesen verlogenen Roman des abtrünnigen soz.Realismus für große Kunst) - er steht halt auf Motzen und Weltekel.
Und zum Schluss der Gipfel: Er lässt sein Buch mit Christian Kracht enden! Aber das ist vielleicht auch einfach eine Sache seiner Weltsicht. Wenn sich Frank Schulz mühsam mit journalistischen Jobs über Wasser hält (ich hab mal im Intercity in "DB mobil“ oder wie das heißt einen Artikel von Schulz gelesen), nennt er ihn „den seit zehn Jahren arbeitslosen ehemaligen Redakteur eines kleinen Anzeigenblättchens“ (S. 270f.), wenn sich Christian Kracht vom Geld seines Vaters besäuft und dabei ein bisschen schreibt: „Er war als Reporter des Magazins Tempo unterwegs.“
Weidermann mag halt Tempo. Und ich muss zugeben, das liest sich gut. Glauben muss man ihm nicht.

P.S. Wer Gehaltvolles übr Kracht lesen will, sehe lieber hier nach.

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Dienstag, 4. Dezember 2012
Stalking – drei Beispiele und ein Ergebnis
Ich nenne zu meinem heutigen Thema einige Beispiele, aus meiner weiteren Bekanntschaft. Man hört ja gerne einfach zu, wenn getratscht wird, und bildet sich dann sein Urteil.

Beispiel 1: der Stalker
Eine junge Frau in der Findungsphase, leidenschaftlich, kreativ, planlos. Es klappt weder mit den Männern noch im Beruf so richtig. Sie ist das Gehetze und die Ratlosigkeit leid. Da gibt es einen Verehrer noch aus ihrer Schulzeit, er lebt noch in der alten Heimat, im Haus der Eltern. Bieder, aber zuverlässig, inzwischen verdient er auch gut. Sie geht auf sein Angebot ein, den Sommer bei ihm, im idyllisch gelegenen Elternhaus, zu verbringen. Am Ende des Sommers sind sie ein Paar. Sie ist alles andere als glücklich über diese Entwicklung, aber auch nicht unglücklich. Sie fühlt sich sicher, auch noch, als es ihm gelingt, einen Job in ihrer Stadt zu ergattern, und bei ihr einzieht. Aber dann ist da der charmante Obsthändler, der ihr auf dem Wochenmarkt immer was schenkt. Als der Freund unterwegs ist, lässt sie sich auf ein Date ein und sofort ist klar, sie hat einen neuen Freund. Endlich einen, der ihr gefällt. Der andere muss ausziehen. Tut er aber nicht – schließlich hat er ja schon einmal durch sture Hartnäckigkeit ein eigentlich unmögliches Ziel erreicht. Es endet damit, dass sie die Polizei holt, um ihn zum Auszug zu zwingen. Danach ist zwei Wochen Ruhe. Dann steht er jeden Abend mit dem Auto vor ihrer Arbeitsstelle. Sie muss sich täglich von ihrem neuen Freund abholen lassen. Einmal, die Autos der Nebenbuhler parken direkt nebeneinander, sagt sie, noch aufgewühlt von der täglichen Konfrontation, nach dem Einsteigen zu ihrem Freund: „Tritt einfach aufs Gas!“ Der tut es. Die Karosserien knallen aufeinander, es gibt ein Gerichtsverfahren, zwei Zeugen (Kolleginnen) bezeugen, was nicht gewesen ist, dass nämlich der Stalker mutwillig den Unfall verursacht hätte. Es wird ein entsprechendes Annäherungsverbot ausgesprochen, der Stalker trollt sich und wird nie wieder gesehen.

Beispiel 2: die Stalkerin
Der befristet Angestellte und die Auszubildende kommen sich im Trubel einer Geschäftsauflösung näher, beiden winkt die Arbeitslosigkeit. Sie werden ein Paar, verlassen gemeinsam die Stadt, finden anderswo ein gutes berufliches Auskommen. Sehr bald ist auch ein Kind da, nicht viel später auch Wohneigentum. Die Probleme beginnen, als langsam Ruhe einkehrt. Er beginnt sich beruflich und sozial zu etablieren, sie spielt immer nur die zweite Geige, sicher auch bedingt durch Babypause und persönliche Ungeschicklichkeit, vor allem da sie es trotz beider Berufstätigkeit nicht schaffen, das konservative Rollenbild „er Leitwolf – sie Weibchen“ zu durchbrechen. Ihre depressiven Schübe bekämpfen sie mit Medikamenten, dann verbessert die Ankunft des zweiten Kindes vorübergehend die weibliche Position und die Balance des Ehelebens. Natürlich wird es danach noch schlimmer. Als sie das dritte Kind ohne sein Wissen abtreibt, gibt er auf und erliegt den Avancen einer Kollegin. Träumt von einer neuen Beziehung und ahnt nicht, dass die gar nicht daran denkt, nur sexuelle Abwechslung sucht. Aber er trennt sich auch nicht von seiner Frau, neben der er weiter herlebt, weil er Angst hat, die geliebten Kinder zu verlieren. So staut sich bei seiner Frau, die nichts Genaues weiß, aber die Zurücksetzung natürlich spürt, nur noch mehr Wut auf, bis sie endlich die Initiative ergreift und auszieht. Endlich ist sie aus der Lethargie heraus. Den aufgestauten Frust investiert sie nun in anwaltliche Aktivitäten. Die Scheidung ist ihr nicht genug, auch nicht der übliche Rosenkrieg um Sorgerecht und Gütertrennung: Sie überzieht ihren Exmann jahrelang mit weiteren Klagen und Forderungen: erfindet den Vorwurf, er schlage die Kinder, berechnet den Gegenwert einst bei ihm verbliebener Harken und Spaten, beauftragt ein Kind, seinen Haustürschlüssel zu entwenden, damit sie heimliche Kontrollgänge durch die alte Wohnung machen kann usw. Das ist ihr neuer Lebensinhalt, ein Ende nicht in Sicht.

Beispiel 3: Stalking als phantasierte Bedrohung
Sie ist nicht mehr ganz jung und immer noch mit ihrem Jugendfreund zusammen, ohne dass es jetzt die große Liebe wäre. Nur eine beruhigende Kontinuität. Ohnehin haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Arbeitsorte ergeben, so richtig sieht man sich nur am Wochenende. In den gemeinsamen Urlaub geht es im Auto mit dem Wackeldackel auf der Hutablage. „So spießig bin ich gar nicht.“, ist ihr liebster Spruch, auch gegenüber dem neuen Kollegen, einem skurrilen, geistreichen Menschen, mit dem sich ein harmloser Flirt ergibt. Dass dieser, als langjähriger Single beziehungstollpatschig und sexuell ausgehungert, sich natürlich gleich in sie verliebt hat, übersieht sie geflissentlich. Sie wäre ja auch blöd, würde sie die Zuneigung und lang entbehrte Herzenswärme nicht nehmen, solange sie zu nichts verpflichtet ist. Aber dann kommt es, wie es kommen muss: ein Abend in seinem Hause, bei Rotwein, er gesteht ihr alles. Jetzt kann sie die Augen nicht mehr verschließen vor dem Begehren des anderen. Sie kriegt die Panik, plötzlich fällt ihr auf, dass der Flirt gar nicht harmlos war, sie fühlt sich verfolgt und unsittlich umlungert, heult erstmal, dann geht sie zur Chefin, verlangt den Kollegen aus dem gemeinsamen Arbeitsumfeld zu entfernen wegen „Stalking“ und bringt die ganze, überwiegend weibliche Kollegenschaft in Aufruhr. Auch hier endet es mit Anwaltsbriefen.

Fazit:
Ein empörungsgieriges, frauenfreundliches Umfeld der Betroffenen nimmt in Fall 1 und 3 einen männlichen Stalker wahr, im Fall 2 einen ganz normalen Scheidungskrieg. Von der gänzlichen Unschuld der betroffenen Frauen ist man (ja, auch die Männer) in jedem der drei Fälle überzeugt. Wie ich finde, liegen die Sachen meistens etwas komplizierter, da Beziehungstaten ja in der Regel aus Beziehungen entstehen.
Und noch eins: Die einzigen Gewinner sind in jedem Fall die Anwälte.

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Donnerstag, 29. November 2012
Diesen Herbst ...
... liest meine Mutter zum ersten Mal nicht mehr an einem dicken Buch, weil die Augen nicht mehr so recht mitmachen und nur noch lesen, was wirklich sein muss. Und mein Sohn liest zum ersten Mal ein dickes Buch, weil es jetzt so flüssig geht, dass es kein Stress ist, sondern ihm Spaß macht. Ich stecke in der kurzen Zeit dazwischen, wo es ein Vergnügen ist zu lesen, einfach von der Hand geht zu schreiben. Ich sollte diese Zeit mehr nutzen.

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Freitag, 16. November 2012
Internet-Lektüre-Bericht: Wie wird eine Theorie über den Reichstagsbrand zur „Verschwörungstheorie“?
Als ich 1990 im Westen ein Geschichtsstudium begann, erfuhr ich zu meiner Verblüffung, dass die Täterschaft der Nazis in Bezug auf den Reichstagsbrand wohl doch nicht selbstverständlich sei, ja, dass es sogar möglich sei, der damals am Tatort gefasste von der Lubbe habe den Reichstag mtihilfe seines kommunistischen Parteibuchs und einiger Kohlenanzünder ganz allein in Flammen aufgehen lassen. Nun, ich nahm das erstmal hin – es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich etwas ziemlich Unwahrscheinliches später dennoch als wahr erweist. Und wenn der mainstream einer Wissenschaft das für nicht unwahrscheinlich hält, dann muss es ja zumindest einige gewichtige Aspekte geben, die dafür sprechen.
Diese Aspekte gibt es tatsächlich, ich hab sie gestern nachgelesen, als ich (aus ganz anderen Gründen) mal zu diesem Thema nachgoogelte. Allerdings liegt das Gewicht der betreffenden Argumente, wie ich z. B. hier nachlesen konnte, weniger in deren Logik und Überzeugungskraft als in der Autorität der Instanzen, die sie vorgetragen haben: ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin und ein führender deutscher Geschichtsprofessor.
Es war nämlich so: 1946 benannte ein ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter die Täter, den SA-Funktionär Hans-Georg Gewehr und seine Truppe, und beschrieb den Tathergang. Da Gewehr inzwischen einen falschen Namen angenommen hatte und untergetaucht war, auch keine Akten greifbar und die entscheidenden Zeugen tot waren, ließ sich natürlich nichts davon beweisen. Bewegung in die Geschichte kam erst ein paar Jahre später, als der Wind sich gedreht hatte: Hans-Georg Gewehr lebte wieder unter seinem bürgerlichen Namen – als Bauunternehmer und Leiter eines Ingenieursbüros, ohne je Ingenieur gewesen zu sein (diese Sorte Firmengründer kenne ich auch aus der EX-DDR, wo jeder nennenswerte Funktionär von seiner Seilschaft eine GmbH bekam, kürzlich ist wenigstens mal einer der dreistesten davon vor Gericht gelandet, nachdem er diese Scheußlichkeit jahrelang an den neuen Staat vermieten konnte). Nun bekräftigte also ein niedersächsischer Verfassungsschützer als Hobby-Historiker die schon von den Nazis vertretene These von der Täterschaft van der Lubbes. Ein ehemaliger SS-Mann und in der Bundesrepublik hoch angesehener Wirtschaftskriminologe vermittelte seinen Text an den SPIEGEL, wo er 1959/60 als Serie erschien. Kurze Zeit darauf bestätigte der berühmte Historiker Hans Mommsen diese Einzeltäterthese und verhinderte die Veröffentlichung eines Gutachtens, das die Fehler in dem Text nachwies. So erlangte die seltsame These von der Alleintäterschaft van der Lubbes endgültig den Status kanonischen Wissens, und alles, was dagegen sprach, gilt seither als Verschwörungstheorie. Z.B. bei zum.de, der Wissensplattform für Lehrer, wo behauptet wird, nichts Genaues wisse man nicht, und als einziger Beleg ein Text des SPIEGEL aus dem Jahr 2008 verlinkt wird, der die SS-Thesen von 1960 unverändert weiter reproduziert. Während Wikipedia die Kontroverse umfangreich und wertfrei darstellt.
Fazit: Wenn du etwas über die Geschichte lernen willst, schau nicht in den SPIEGEL! Auch dein Geschichtslehrbuch wird dir vermutlich nicht weiterhelfen. Guck lieber ganz normal bei Wikipedia nach und folge den dort verzeichneten Links oder googel ein bisschen umher.
Und Verschwörungstheorien sind immer die Überlegungen der Leute, die ihre Ideen zwar auch nicht letztgültig beweisen können, denen es aber vor allem nicht gelungen ist, genügend wichtige Autoritäten um sich zu scharen, um ihr Gedankengebäude als Wahrheit verkaufen zu können.

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Mittwoch, 24. Oktober 2012
Gedanken zum Tage – Wie viele Denkmäler brauchen wir, um alle NS-Opfer ordnungsgemäß abzudecken?
Mein Thema heute: Heute wurde nahe beim Reichstag ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma enthüllt. Wie kam es dazu?
Nach der Wiedervereinigung musste das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in der Neuen Wache Unter den Linden neu gestaltet werden, um ihm den alten DDR-Geruch zu nehmen. Die Frage war, wer jetzt hier geehrt werden sollte. Kanzler Kohl schwebte vor, einfach alle Opfer „von Krieg und Gewaltherrschaft“ einbeziehen – das ist bequem, da kann sich jeder gemeint fühlen, denn schließlich ist jeder Täter (das kann ich aus eigener DDR-Erfahrung bestätigen) irgendwie auch Opfer gewesen (außer vielleicht Hitler himself, aber der hat ja mit dem Film-Monument „Der Untergang“ sein eigenes Denkmal gekriegt, Joachim Fest und Traudl Junge sei Dank).
Leider weigerten sich die Vertreter der Juden, mit gefallenen SS-Soldaten in einen Topf geworfen zu werden. Daher bekamen sie ein eigenes Denkmal, das Holocaust-Mahnmal. Und wenn die eine Ethnie eins kriegt, dann muss natürlich auch die andere eines bekommen. Also nun auch die Sinti und Roma. Damit bleibt man schön im völkischen Fahrwasser des Holocaust-Gedenkens, ohne doch dessen heilige Singularität zu leugnen. (Und das Denkmal darf auch ein israelischer Künstler entwerfen, schließlich sind die ganz großen Thälmann-und Leninköpfe damals in der DDR auch von sowjetischen Künstlern entworfen worden.)
Bleiben noch die Opfergruppen, die nicht im engeren Sinne Ethnien zu nennen sind. Glück gehabt haben die Schwulen, denn sie können den Homosexuellen zugerechnet werden, die zwar nicht in ihrer Gesamtheit verfolgt wurden, aber eine so prominente Lobbygruppe darstellen, dass man ihnen ein Denkmal im Tiergarten gebaut hat. Schwieriger wird’s schon mit den Asozialen. Wo soll deren Denkmal hin? Etwa nach Neukölln? Und wer soll es finanzieren? Die Arge?
Da ist es ja vergleichsweise mit den Kommunisten einfacher. Das entsprechende Denkmal könnte im Karl-Liebknecht-Haus stehen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert werden. Das Problem ist nur, dass viele Kommunisten schon als Juden repräsentiert sind und somit zweimal abgerechnet würden. Und Kommunisten gleich doppelt ehren - das geht ja nun gar nicht. Außerdem: Wenn sogar die Kommunisten dürfen, was ist dann mit Gewerkschaftlern, SPDlern und katholischen Priestern? Das waren zwar nicht so viele, aber auch ihre Lobbys sind vergleichbar stark wie die der Homosexuellen.
Also, ich glaube, wir müssen noch ein paar Denkmäler bauen, bis wir alle Grüppchen abgedeckt haben. Und alles nur, weil es ein Volk nicht schafft, seine eigene Gedenkstätte (die in der Neuen Wache) von Tätern freizuhalten, die dort nichts zu suchen haben.

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Dienstag, 16. Oktober 2012
Die Unfähigkeit zu trauern (Topographie des Terrors)
Don Alphonso würde es vermutlich nicht verstehen – aber wir haben unsere Herbstferien für einen Berlin-Aufenthalt verwendet: mal ein par Tage weitgehend verwandtschaftsfrei in der alten Heimat. Jeder hatte da so seine Traumziele: Meine Frau erkundete Wald- und Uferwege bei Kohlhasenbrück, mein Sohn wollte unbedingt ins Legoland Berlin am Potsdamer Platz, und ich war schon lange neugierig auf die „Topographie des Terrors“, die Gedenkstätte an der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße, wo früher die Gestapo saß.
Tja, was soll ich sagen? Recherchieren, Wissenschaft, differenzierte Darstellung – das können sie, die Deutschen, aber trauern, gedenken, alles, was mit Gefühl, mit Würde oder gar Kunst und Schönheit zu tun hat – da ist wohl tote Hose. Ich wanderte zwischen lauter Ausländern über dieses leere Gedächtnisfeld und fühlte mich seltsam unzugehörig zu dem Volk, das sich solch einen sterilen Erinnerungsort schafft.

Was die Inhalte der Ausstellung betraf, da gab es wie gesagt nichts zu meckern, das war alles ausgewogen präsentiert, alles Wichtige klar dargestellt und mit eindringlichen und gut ausgewählten Beispielen untermauert. Nur ist das Ganze ja kein historisches Museum, sondern eine Gedenkstätte.
Es ist doch der Ort, wo Gestapo und SS ihr Hauptquartier hatten, der Schreckensort, wo die Aufmüpfigen eingeliefert, wo sie verhört, gefoltert, auch getötet wurden – da kann man doch nicht nur abgeklärt und ausgewogen darstellen! Vor allem darf man nicht das ganze Areal einfach kalt mit Schotter abdecken und in die Mitte ein Dokumentationszentrum aus grauem Stahlblech setzen. Hat man aber. Und wo in den achtziger Jahren eine Bürgerinitiative die Gefängniszellen ausgrub, da hat man alles mit Sand abgedeckt, um das „Bodendenkmal“ zu schützen. Korrekt, aber nicht sehr souverän.
Zu dieser aufgeräumten, emotionslosen Gedenkinszenierung gehört als Gegenstück, dass der hintere Teil der historischen Anlage, der Garten des Prinz-Albrecht-Palais‘, weil man ihn nicht auch noch mit Steinen planieren wollte, einfach so bleibt, wie man ihn vorgefunden hat: Wildwuchs breitet sich aus, die asphaltierten Reste eines Fahrschulplatzes aus den achtziger Jahren bröckeln vor sich hin, Schutthaufen und Mauerreste aus Kriegstagen werden von Unkraut überwuchert, irgendwo dazwischen erinnert verschämt eine Tafel an die Bauleute, die den vorderen Teil geschottert haben. Nicht sehr würdig.
Eine Geste des Gedenkens, eine vielleicht kitschige Verbeugung vor den Opfern – ist das zu viel verlangt?
Ich denke z. B. an Will Lammerts Ravensbrück-Denkmal: die Figur, die den Deutschen am anderen Seeufer (die das KZ natürlich gesehen haben, sehen mussten) ein zusammengebrochenes Opfer mahnend entgegenhält. Man mag dies und jenes denken über die Verlogenheit des ostdeutschen Antifaschismus – diese Geste ist echt. Und vor allem: Sie wurde gemacht. Die Topographie des Terrors bleibt dagegen auf der Gefühlsebene sprachlos.

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