Mittwoch, 24. Juli 2013
Die Reue der Unmündigen: „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
Vor über 20 Jahren sah ich „In jenen Tagen“ von Helmut Käutner und war begeistert. Später las ich, der Film sei sentimental und verharmlose die Nazi-Vergangenheit, mit der er sich beschäftigt. Ich war irritiert. Erst jetzt sah ich den Film wieder und stellte fest, dass die Wahrheit (meine Wahrheit von heute) irgendwo dazwischen liegt.
Der Film zeigt uns als Rahmenhandlung zwei Männer in der typischen Trümmerfilmlandschaft, die ein Auto ausschlachten. Einer von beiden, der als intellektuell Gekennzeichnete, kann kaum arbeiten, da er depressiv über die Bosheit der Menschen nachsinnt, angesichts der ihn umgebenden Landschaft kein ganz unsinniger Gedanke. Jetzt widerspricht ihm das Auto und erzählt in Episoden von guten Menschen, die ihm in den zwölf dunklen Jahren seit seiner Herstellung im Januar 1933 doch begegnet sind: eine schöne, in ihrer Naivität berührende und durch die neorealistische Einfachheit und Klarheit der filmischen Umsetzung äußerst wirksame Idee. Ich mag sie einfach, diese karge, herbe Kunst der späten vierziger Jahre: Wolfgang Borchert, den frühen Böll, die Trümmerfilme, diese kurze Zeitspanne des Minimalismus, bevor die Kunst wieder anspruchsvoll und arrogant wurde. Mir gefiel auch der Blickwinkel der Episoden: immer aus der Sicht argloser Untertanen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, die sich wundern und gar nicht wahrhaben wollen, in was für einen Schlamassel sie da geraten sind. Halte ich für ziemlich realistisch.
Merkwürdig nur, dass gleich in drei der sieben Episoden Nazigegner als konkurrierende Liebhaber auftreten, denen die Kamera halb eifersüchtig, halb bewundernd folgt. Gleich in der ersten Episode wird der neue Wagen einer reichen Frau geschenkt, und die lässt sich damit auch kaufen von dem banal-fröhlichen Biedermann, der sie umgarnt. Doch dann tritt der Konkurrent auf, ein schroffer, unnahbarer Grübler, der schon auf der Flucht vor den Nazis ist, und die Frau entscheidet sich spontan, diesem doch zu folgen. Der nächste ist ein moderner Komponist, der eine Affäre mit der Frau seines Freundes hat, und als gleichzeitig rauskommt, dass er als „entartet“ verfolgt wird, verzeiht frau (nämlich die Tochter des Hauses) ihm die Eskapade. Endlich der Widerstandskämpfer, der verhaftet und „auf der Flucht erschossen" wird, wobei sich herausstellt, dass er im Begriff war, mit der Schwester seiner Frau, die seine Geliebte war, in die Schweiz zu fliehen. Auch ihm wird verziehen.
Täter treten in dem Film nicht auf, alle sind irgendwie gut, und Nazigegner zudem auch sexy (und natürlich männlich). Die Nazis sind unsichtbar, aber allgegenwärtig, eine anonyme, diffuse Bedrohung, und wir, aus deren Blickwinkel erzählt wird und die alles eigentlich nicht kapieren, wir ertragen das Leid als gerechte Strafe für unsere Doof- und Biederkeit. Dieser filmische Ansatz ist jetzt sicher nicht besonders mutig und aufklärerisch schon gar nicht. Aber er ist wahr und ehrlich: die Reue der Unmündigen.

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Samstag, 8. Juni 2013
Männer-Jammern, die hundertste: „You can leave your hat on“
Ich hatte heute eine Wartezeit zu absolvieren, unter Musikbeschallung, und musste Joe Cocker Randy Newmans Lied „You can leave your hat on“ singen hören. Meine Güte! Joe Cocker fand ich mal toll, Randy Newman auch. Aber das – war einfach nur ätzend.
Wenn ich mich rückblickend besinne, fällt mir auf, dass ich die beiden aus demselben Grund toll fand: wegen ihres gebrochenen Machotums. An Joe Cocker mochte ich die unbeholfene, beinah dysfunktional wirkende Vulgarität (seine berühmten krampfhaften Verrenkungen beim Singen), die am Beginn seiner poppigen Phase in den achtziger Jahren eigentlich noch besser (weil kühler begleitet) wirkte. Und an Randy Newman liebte ich das Gebrochene seiner fetten Südstaaten-Mentalität, den Witz, mit dem er seine Verwunderung über die eigene Haltung zum Ausdruck brachte. Auch ich fühlte mich so als Jugendlicher: als verhinderter Macho.
Inzwischen sind wir alle in die Lebensphase eingetreten, die man „erwachsen“ nennt. Joe Cocker hat seine Verkorkstheit so weit kommerziell repariert, dass er als bürgerlich angesehener Voll-Macho durchgehen kann. Randy Newman schreibt, soweit ich höre, Filmmusik, und hat sich also auf die angestammte Branche seiner Familie besonnen. Und ich höre keine Musik mehr. So pflegt jeder seine Minimallösungen.

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Mittwoch, 29. Mai 2013
Kleiner Verriss zwischendurch: Ich fordere mehr Gerechtigkeit bei der Buchpreisvergabe!
Zum dritten Mal erscheint nun dieses Buch ungefragt in unserem Haushalt, und deshalb will ich nun doch kurz erklären, weshalb ich „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge beim ersten Mal interessiert zur Hand genommen, nach 50 Seiten aber als unbrauchbar weggelegt habe.
Es ist sprachlich unspektakulär, zurückhaltend im Stil und doch locker geschrieben, leicht lesbar – und dennoch kein Lesegenuss, eher ein bisschen nörgelig, leicht pauschalisierend, ironisierend, von der Handlung her zwar im Wesentlichen glaubhaft, aber nirgends wahr, direkt, authentisch (jedenfalls so weit ich gelesen habe) – da ist immer ein Abstand, eine dünne Schicht Klischeehaftigkeit über den Figuren, so dass die Charaktere zwar noch erkennbar bleiben, aber nirgends geht es wirklich zur Sache, das tut keinem weh, stimmt irgendwie ungefähr und regt keinen auf, so mein Eindruck. Kurzum: unbedeutend.
Vor Jahren hab ich mal ein Buch geschenkt bekommen: „Solsbüll“ von Jochen Missfeldt, das ich ähnlich empfunden habe: sprachkünstlerisch bescheiden, aber solide erzählt, manchmal etwas holzschnittartig, aber doch sinnvoll im Ganzen. Dieses Buch schätze ich, ohne es sehr zu mögen, es braucht halt diese poetae minores, sie machen die Literaturlandschaft reicher. Hier hätte auch der betuliche Familienroman von Ruge einen guten Platz und ich würde Ruge vielleicht mehr schätzen, wäre er nicht schon so überschätzt.
Dass ich „Solsbüll“ im Gegensatz zu Ruges Buch zuende gelesen habe, mag daran liegen, dass ich Missfeldts etwas anstrengende Ernsthaftigkeit letztendlich höher achte als Ruges distanziert plaudernden Ton. Aber vielleicht ist es auch einfach nur das Thema: Missfeldt schrieb über norddeutsche Hebammen auf dem platten Lande – und das ist allemal spannender als zum hundertsten Mal die DDR-Oberschicht.
Alles eine Frage der Balance und gerechten Verteilung!

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Dienstag, 14. Mai 2013
Ein traditioneller Familienroman, brillant erzählt (Meine Rezension zu Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so)
Der Roman beginnt damit, dass die Person stirbt, um die sich im Folgenden fast alles dreht: der Vater einer westafrikanischen Einwandererfamilie in den USA. Dieser Vater, ein talentierter Chirurg, hat die Familie vor Jahren verlassen, ist zurückgegangen nach Ghana. Er ignoriert in dieser ersten Szene die deutlichen Vorzeichen eines Herzinfarkts und stirbt morgens im Garten seines selbstentworfenen Hauses, während seine neue, junge Frau noch schläft.
Auf der Suche nach dem Warum entfaltet die Autorin dann in Rückblenden, Reflexionen und Abschweifungen ein atmosphärisch dichtes und psychologisch äußerst stimmiges Portrait der ganzen Familie: des jungen Immigrantenpaares aus Ghana/Nigeria, das die eigenen Wurzeln abschneidet, um den amerikanischen Traum zu leben – er als fleißiger, immer beherzt und engagiert handelnder und daher erfolgreicher Arzt, sie als seine kluge Partnerin, die sich beruflich zurücknimmt, um sich um die Kinder der Vorzeigefamilie zu kümmern: Olu, der als erster Sohn ganz nach dem Vater kommt, die eher kreativ-künstlerischen Zwillinge Kehinde und Taiwo sowie das Nesthäkchen Sadie.
Als der Vater aufgrund einer Intrige mit rassistischem Unterton (das wirtschaftliche Überleben des Krankenhauses erforderte ein Bauernopfer, da fiel die Wahl schnell auf ihn, den Schwarzen) entlassen wird, bricht sein amerikanischer Traum zusammen, er verlässt die Familie, bald auch die USA und beginnt in seiner alten Heimat ein neues Leben.
Im zweiten Teil des Romans finden die inzwischen erwachsenen, in alle Winder verstreuten Kinder und die Mutter anlässlich des Begräbnisses wieder zusammen – und vor allem finden sie Erlösung im Angesicht ihrer Wurzeln, ihrer Heimat, der vom Urgroßvater erbauten Hütte der Großeltern. Das ist weder originell noch gänzlich kitschfrei, aber solide und glaubhaft zuende geführt.
Natürlich – der letzte Satz deutet es an – fand ich im zweiten Teil des Romans manches etwas künstlich, etwas zu perfekt arrangiert, und trotzdem: Auch hier gibt es immer wieder Szenen, die mich begeistern: kluge, eindringliche, immer empathische Schilderungen von Menschen und dem, was ihnen zustößt. Manchmal ist das nur interessant, da einfach zuzuhören (z. B. wenn die ostasiatischen Immigranten mit den afrikanischen konkurrieren), öfter anrührend (z. B. wenn die junge Geliebte eines Professors sich geist- und wortreich darüber selbst belügt, warum sie das tut), manchmal treibt es einem (mir jedenfalls) die Tränen in die Augen (z. B. wenn die kluge, alte Ghanaerin, die so gut wie nie zur Schule gehen durfte, ihren Sohn zum Studium in die USA abreisen sieht – voll Stolz, dass sich nun ihr Lebenstraum erfüllt, und gleichzeitig verzweifelt, weil sie weiß, sie sieht ihn nie wieder).
Insgesamt ein unbedingt empfehlenswertes Buch: etwas konventionell in der Konzeption, aber wunderbar reich in der erzählerischen Ausführung.
...
So, und damit solls gut sein: Denn das, was ich hier mit meiner zarten Kritik angedeutet habe, das ist mehr eine Ahnung: Irgendwas passt mir da nicht an der Konstruktion der Handlung – aber so ganz hab ich’s noch nicht kapiert. Denn auch da, wo es mir nicht gefällt, ist das Buch außerordentlich klug – so ganz geknackt hab ich das noch nicht. Vielleicht komme ich darauf zurück.

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Freitag, 19. April 2013
"Mobbing" - Fernsehfilm nach einem Roman von Annette Pehnt
Sowas gibt’s also auch, dass ein ganz normaler Fernsehfilm mich mehr in seinen Bann zieht als der zugrunde liegende Roman. So jedenfalls ging es mir mit dem Film „Mobbing“ nach dem gleichnamigen Roman.
Natürlich war auch dieser ein Fernsehfilm nur ein Fernsehfilm: nicht ganz kitschfrei, und die weibliche Hauptfigur musste ihr Gesicht ein paar Mal zu oft mit Leidensmiene in die Kameratotale halten, die Nebenfiguren der Eltern/ Schwiegereltern waren küchenpsychologisch einfach geschnitzt, und dass es um den Machtverlust eines patriarchal empfindenden Mannes geht, das hätten wir auch ohne die hässliche und unglaubhafte Vergewaltigungsszene verstanden.
Trotz dieser etwas groben Oberfläche aber zeigt der Film ein tieferes Verständnis der geschilderten Vorgänge als die gepflegte, genau erzählte, aber spröde und reflexionsarme Romanvorlage.
Annette Pehnt, die Romanautorin, hat mit „Mobbing“ eine – rein vom Stoff her - tolle Geschichte präsentiert, einen geradezu prototypischen Fall: Da ist ein Mann mit einem gut bezahlten Job bei der Stadtverwaltung, er kann sich ein Reihenhaus für die Familie und für seine Frau eine wenig lukrative kreativ-freiberufliche Tätigkeit leisten. Im Dienst ist er ein Macher: Da die Chef-Position wohl aus Kostengründen seit längerem vakant ist, organisiert er – gemeinsam mit einem befreundeten Kollegen – äußerst erfolgreich die ganze Abteilung. Endlich wird die Abteilungsleiterstelle doch wieder besetzt, mit einer Frau, die von außen kommt, ehrgeizig und ahnungslos ist. Der Machtkonflikt ist vorprogrammiert, binnen kurzem geht die neue Chefin in die Offensive, bringt mit Zuckerbrot und Peitsche die subalternen Mitarbeiter auf ihre Seite und drängt die beiden informellen Führungspersönlichkeiten per Mobbing in die Ecke. Nicht lange, und der befreundete Kollege gibt auf, als Single kann er es sich erlauben, einen befristeten Job in einem anderen Bundesland anzunehmen. Der Hauptheld aber sitzt fest in seinem Reihenhaus, verbeißt sich in einen einsamen, kohlhaasartigen Kampf mit seiner überlegenen Gegnerin, zunehmend beargwöhnt von seiner eigenen Frau, die er an seinen Nöten aus Scham nicht teilhaben lässt und die – schwankend zwischen Existenzangst und Verständnislosigkeit gegenüber der (gelinde gesagt) Verhaltensänderung des einst geliebten Mannes - sich immer mehr aus der Beziehung zurückzieht.
Was mich an dieser an sich sehr stimmigen Geschichte beim Lesen störte, das war die subjektive Erzählhaltung aus der Sicht der Frau - einer Frau, die sich zusammen mit ihrem Mann für ein sehr traditionelles Familienmodell entschied, das nun vor der Katastrophe steht, und die nicht mal ansatzweise ihr eigene Rolle in dem Spiel begreift, die nur immer verzweifelter überlegt, ob ihrem Mann, dem Ernährer, nur so übel mitgespielt wird oder ob er selber es ist, der da durchdreht. Als ob das irgendeine Rolle spielen würde.
Der Film variiert diese ahnungslose Ehefrauensicht in einigen kleinen, aber entscheidenden Details. Im Film haben die beiden das Haus noch nicht gekauft, sie könnten noch raus aus der Nummer. Und die Frau denkt sogar daran. Außerdem wird die neue Chefin durch einen kurzen Satz über ihren Ehrgeiz („die geborene Chefin“) und durch ihren Namen („Dr. Elke Schulz““) als Luftnummer und Karrieristin gezeichnet. Von ihrem Gegenspieler, Hauptfigur und Ehemann Jo, können wir vermuten, dass er, obwohl selbst solide und vernünftig, im Hass auf solche Personen fixiert ist, da er eine penetrante, karriereorientierte Mutter hat, während die Eltern von Ehefrau Anja konservativ bodenständig daherkommen, was Anjas Rolle als Heldin verstärkt.
Diese Dramaturgie ist sicherlich kitschig und kulturpessimistisch, aber sie öffnet zumindest den Blick auf die politische Dimension des Konflikts, weist über die scheinbar unerklärliche Bosheit der Mobbenden (in der Romanfassung) hinaus. Auch Anja hat sich im Film (anders als im Buch) beruflich nicht durchsetzen können, ihre Freiberuflichkeit ist als bürgerlicher Luxus getarntes Scheitern. Dadurch rückt sein Problem in einen größeren Zusammenhang, einen, den sie auch kennt, den wir alle kennen: Dieses Mobbing ist kein individuelles Problem, es ist Ausdruck der sich verschlechternden Zustände im Arbeitsleben: Die fetten Jahre sind vorbei. Wenn die Futternäpfe weniger werden, dann wird brutaler um sie gekämpft.
Das Schöne an dem Film war, das es einen Ausweg zeigt: Es lohnt sich nicht, seine Würde dranzugeben, nur um ein Reihenhaus zu finanzieren. Wenn wir es schaffen, von dem Wohlstandsdenken der westdeutschen siebziger/achtziger Jahre runterzukommen (all meine Studienfreunde hatten Elternhäuser in den Vorstädten mit den dazugehörigen dicken Bankkonten, Zeitung lesenden Vätern und sich langweilenden Müttern), dann reicht es allemal noch locker, unsere Kinder vernünftig großzuziehen.
Frau von der Leyen hat das übrigens längst erkannt.

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Donnerstag, 4. April 2013
Osterüberraschung


Damit der nörgelige Beitrag über das Fernsehen nicht ewig hier als Startbeitrag stehen bleibt, berichte ich schnell von einem Glücksmoment.
Wir waren Ostern bei der Schwiegerfamilie. Und da die Leute eine Buchhandlung betreiben, liegen auf dem Couchtisch immer diverse Neuerscheinungen umher, die meine Schwägerin an- oder durchliest, damit sie immer mal einen neuen Lesetipp ins Schaufenster hängen kann. Dieser Tisch zog mich wieder wie magisch an. Und als nach dem Ostereiersuchen im Schnee und dem langen Familienfrühstück die Truppe loszog, weil der Hund raus musste, die Erwachsenen eine Tante besuchen und die Kinder weitere Schneeballschlachten veranstalten wollten, da durfte ich mich ausklinken und bei einer Schale Erdnussflips ein paar Stunden lang schmökern.
Zuerst fiel mein Blick auf „Westschrippe“, wegen des markanten Titels. Thema: eine Kindheit im Zonenrandgebiet der siebziger-achtziger Jahre, autobiographisch. Da dachte ich nach einer Seite schon: Wie banal! Las dann aber doch weiter. Denn Lebensgeschichten sind immer interessant und informativ („Ich hab keine Zeit mehr für Romane, ich les nur noch Biografien.“, meinte der Schriftsteller-Archivar Walter Kempowski an seinem Lebensende), da können sie ruhig banal sein. Ich hab jedenfalls einiges gelernt über die westdeutsche Einfamilienhauskultur zwischen Stromkonzern und Friedensbewegung. Unreflektiert und authentisch - ich mag das (ein bisschen wie "Titos Brille", nur eben nicht jüdisch-jugoslawisch überdreht, sondern hessisch-provinziell trocken).
Richtig gepackt hat mich aber erst das nächste Buch: „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ von Tayie Selasi. Herrlich prätentiöser Titel (ganz im Gegensatz übrigens zum cool-knappen Originaltitel „Ghana must go“), und gleich die erste Szene präsentiert einen Todesfall unter gleißender ghanaischer Sonne und das psychologische Rätsel, das sich dahinter verbirgt. Und so geht es weiter: eindringlich, farbig, fast schon plakativ an der Oberfläche des Geschehens, sensibel, klug, oft jeanpaulhaft sich selbst korrigierend oder abschweifend auf der Ebene der eingestreuten Reflexionen: „Kwaku weiß – während er dasteht, in seinem Unterhemd und seiner MC Hammer-Hose, die Schulter an die halb offene Schiebetür gelehnt, während er tiefer in den Traum gleitet, in die Erinnerung und in andere Gefühle dieser Art (Bedauern, Reue, Ärger, Umwertung) - , dass er stirbt. Er weiß es. Aber er merkt es nicht.“
Ich bin begeistert und ich hoffe, meine Begeisterung hält sich. Ich werde berichten.

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Dienstag, 26. Februar 2013
Getäuscht
Bei uns in der Nähe, wo die ollste Gegend ist, da, wo früher der Schlecker drin war, tat sich plötzlich etwas. Junge Leute richteten die Räume her, dann kamen Möbel: Schreibtische, Bücherregale, ein altes Sofa, tags darauf eine Unmenge Bücher und Aktenordner und schöne Kissen für Sofa und Stühle. Die Szenerie wirkte hippieesk und lebendig und ich wurde sehr neugierig, was hier wohl passiert.
Zwei Tage später: Filmscheinwerfer! Ich war maßlos enttäuscht. Im Internet erfuhr ich, dass hier neue Folgen für "Der Dicke" gedreht werden, das übliche Vorabend-Gutmenschen-Fernsehen.
Inzwischen sieht es wieder trist aus. Das echte Leben ist wahrscheinlich nicht so schön.

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Dienstag, 12. Februar 2013
Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden
Also, wenn dieser Satz gilt, das muss er doch zu aller erst für den Papst gelten.
Allerorten hört man von Respekt vor Papst Benedikts Entscheidung, dass er Verantwortung wahrgenommen hätte, indem er jetzt zurücktritt, da er seine Organisation nach menschlichem Ermessen nicht mehr kontrolliert führen kann. Ganz als wäre er halt der Vorstandsvorsitzende der Katholizismus AG und seine vordringlichste Aufgabe wäre es, seine Firma erfolgreich durch die Zeiten zu bringen.
Aber ist nicht der Papst der Stellvertreter Gottes auf Erden?! Darf er denn überhaupt zurücktreten, ohne ausdrückliche Erlaubnis seines Chefs, dem er verpflichtet ist? Ist nicht die Verpflichtung, als ganzer Mensch und bedingungslos den christlichen Glauben vorzuleben wichtiger als der Bestand der Kirche?
Ich meine, all die kleinen Würmchen von Katholiken, die sollen das Sakrament der Ehe einhalten, da sie es vor Gott versprochen haben. Und der Papst oben muss solche Verpflichtungen nicht einhalten. Das ist doch ungerecht.
Ja – man kann die Ehe natürlich auch anders auffassen, als lösbaren Vertrag (ich als heimlicher Konservativer finde diese Haltung nicht so schön, wenn auch natürlich legitim). Und genau so hätte es Papst Benedikt selbstverständlich freigestanden, das Papsttum – dem er ja nun einige Jahre vorgestanden hat – zu reformieren: sich zurückzunehmen, zum fehlbaren Verwaltungschef der katholischen Kirche zu machen. Warum nicht? Aber dass ihm die alten Dogmen nicht lästig waren, solange nur andere darunter litten, sondern erst jetzt, wo es ihm selber dreckig geht, das finde ich nicht richtig.

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Mittwoch, 23. Januar 2013
Zwischendurch bemerkt
Heute habe ich mir was ganz richtig Schönes gegönnt: Das Hamburger Literaturfaltblatt vermerkte, dass eine Lesung mit Hans-Ulrich Klose stattfindet. Nun, diesen Politiker fand ich damals als Jugendlicher ganz toll, als ich die Welt per Westfernsehen wahrzunehmen begann. Meine beiden anderen Stars aus dieser Lebensperiode, Neil Young und Rickie Lee Jones, habe ich inzwischen ja auch bei Auftritten in Hamburg live begutachtet, warum sollte ich dies nicht auch mit Klose tun?
Und es war wunderbar: Da saß also dieser stilvoll ergraute, hochseriöse alte Mann in einer St.-Pauli-Kellerkneipe vor 30 Altlinken und las Gedichte. Eine Szenerie aus lauter nicht zueinander passenden, aber jeweils sehr sympathischen Elementen. Natürlich konnte der Mann - als Berufspolitker - seine Texte professionell sprechen, es waren leichte, teils melancholische, teils mehr verträumte Gedichte über den westdeutschen Lebensalltag, manchmal mit einem kleinen Hang zum Kitsch, nicht sehr tiefgehend, aber nirgends platt, mit einem Grundton von postmoderner Heimatlosigkeit und voller dezentem Lebensgenuss. Und nach einer Stunde und bevor das Publikum ihn in weitergehende politische Diskussionen verwickeln konnte, zog Klose seinen Mantel an und verließ den Raum.
Und ich dachte staunend und neidisch: Die siebziger Jahre in Westdeutschland, für die dieser Mann steht, die müssen doch das Paradies gewesen sein.

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Sonntag, 6. Januar 2013
Zu Weihnachten geschenkt bekommen: Weidermann "Lichtjahre" - unterhaltsam, kenntnisreich, mysogyn und rechts
Zu Weihnachten habe ich „Lichtjahre“ geschenkt bekommen, eine deutsche Literaturgeschichte der Nachkriegszeit, geschrieben vom Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidermann, und möchte sie hier rezensieren.
Das Buch ist wie unsere Zeit, finde ich, eine Zeit, der ich mich mental sehr verbunden fühle, in der ich zu Hause bin, auch wenn ich ihre politischen Vorlieben nicht teile: „Lichtjahre“ ist sehr persönlich geschrieben, oft sogar flapsig und bewusst ungerecht, dabei aber sehr kenntnisreich und oft ziemlich treffsicher, gerade in den wie nebenher hingeworfenen Bemerkungen. Leider hat es eine Schlagseite nach rechts: Es zieht in der Regel Arschlöcher den netten Schriftstellern vor, reiche den armen, Egomanen den Romantikern und natürlich fast immer Männer den Frauen.
Der grundsätzliche Trick seiner Herangehensweise ist (literaturwissenschaftlich gesehen) sehr konservativ, aber auch sehr effektiv (auch ich hab ihn in meiner Examensarbeit einst angewendet): Er erschließt die Literatur über die Biografien der Autoren. Meisten funktioniert das ziemlich gut.
Manchmal geht es aber auch daneben, bei Doderer z. B.: Weidermann schildert kurz und eindringlich, welch verqueren Weg der „Herr aus Wien“ gegangen ist, nämlich in die Partei der Nazis, vor denen sonst (fast) alle Schriftsteller flohen, und die ihn auch gar nicht haben wollten, erwähnt auch dessen moralische Schattenseiten, um daraufhin auch Doderers schriftstellerisches Werk als merkwürdig, fast unsinnig und etwas anrüchig zu charakterisieren. Das ist natürlich nicht ganz falsch – ich wusste bisher nichts über Doderers Leben, habe nicht viel mehr als einen Roman von ihm gelesen, aber das da etwas sexuell-beziehungstechnisch Fragwürdiges und auch eine gewisse altmodische Spießigkeit mitschwingen, das hab ich auch als störend wahrgenommen – aber das ändert doch nichts am Witz, an der Sprachgenauigkeit, halt dem großen schriftstellerischen Können dieses Autors!
Trick Nr. 2 von Weidermann: subjektive, bewusst ungerechte Urteile. Und natürlich funktioniert das natürlich am besten bei den Autoren, die er liebt, Max Frisch z. B. Was mich betrifft, ich kann ja Max Frisch nicht ausstehen. Aber durch Weidermanns Liebeserklärung, da habe ich zum ersten Mal verstanden, weshalb viele Menschen Frischs Bücher so hoch schätzen: Frisch ist der Schriftsteller des Egozentrismus: geschichtslos, selbstverliebt, an sich selbst zweifelnd. Und immer auf der Suche nach dem individuellen Kern des eigenen Selbst, den man natürlich nie erblicken wird, solange man ihn krampfhaft fixiert. Diese tragische Ich-Suche hat Frisch in der Tat gedanklich tief und sprachlich überzeugend inszeniert. Und offenbar hat er damit ein Thema angesprochen, das die deutsche Gesellschaft seit Jahrzehnten umtreibt.
Wenn Weidermann die Leute nicht mag, also tendenziell eher die Gefühligen, die Hippies, Frauen usw., dann geht dagegen meistens was schief. Bei Plenzdorf mags noch angehen, der kriegt den Erfolgreichen-Bonus. Weidermann mag ihn zwar nicht, er erkennt aber neidlos an, dass „Die neuen Leiden ...“ und „Paul und Paula“ den Nerv der Zeit trafen. Die eventuellen schriftstellerischen Qualitäten Plenzdorfs sind ihm dann kein Thema mehr.
Bei Christa Wolf umgekehrt: Er beweist, dass er ihre Qualitäten sehr wohl erkennt: „Nachdenken über Christa T. ist am unsichersten im Ton, am suchendsten, am tastendsten, am zweifelndsten und deshalb ihr bestes Buch.“ (S. 141) Und dann macht er sie wider besseren Wissens als klischeehaft und kitschig nieder. Kein Wort über das Emanzipative, das ihrem Tasten, ihrem Suchen innewohnt. Dass man jenseits des Rationalismus freiheitlich denken kann, geht ihm wohl nicht ein. Selbst bei Ingeborg Bachmann vermag er keinen Freiheitsimpuls zu erkennen – er unterstellt ihr sogar, sie würde auf den Märchenprinzen warten, auf einen Märchenprinzen in Gestalt eines großen Dichters. Was für ein Blödsinn.
Das Attribut „kitschig“ ist bei ihm sowieso eher weiblich konnotiert. Christa Wolf und Nelly Sachs sind kitschig. Ingo Schulze bleibt von diesem Vorwurf verschont. (Immerhin, das muss man Weidermann anerkennen, macht er einmal eine Ausnahme: Bernhard Schlink bekommt, obwohl männlich, auch das Attribut "kitschig" – und sicher nicht zu Unrecht.)
Mehr Verständnis hat Wiedermann allerdings für die Meckerer. Dem Berühmtesten ihnen, Thomas Bernhard, widmet er viele Seiten. Den großen Meckerer Wolf Biermann wagt er entgegen dem Zeitgeist zu loben. Und die Oberzicke Monika Maron hält er für eine große Schriftstellerin (und Flugasche, diesen verlogenen Roman des abtrünnigen soz.Realismus für große Kunst) - er steht halt auf Motzen und Weltekel.
Und zum Schluss der Gipfel: Er lässt sein Buch mit Christian Kracht enden! Aber das ist vielleicht auch einfach eine Sache seiner Weltsicht. Wenn sich Frank Schulz mühsam mit journalistischen Jobs über Wasser hält (ich hab mal im Intercity in "DB mobil“ oder wie das heißt einen Artikel von Schulz gelesen), nennt er ihn „den seit zehn Jahren arbeitslosen ehemaligen Redakteur eines kleinen Anzeigenblättchens“ (S. 270f.), wenn sich Christian Kracht vom Geld seines Vaters besäuft und dabei ein bisschen schreibt: „Er war als Reporter des Magazins Tempo unterwegs.“
Weidermann mag halt Tempo. Und ich muss zugeben, das liest sich gut. Glauben muss man ihm nicht.

P.S. Wer Gehaltvolles übr Kracht lesen will, sehe lieber hier nach.

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