Dienstag, 4. Dezember 2012
Stalking – drei Beispiele und ein Ergebnis
Ich nenne zu meinem heutigen Thema einige Beispiele, aus meiner weiteren Bekanntschaft. Man hört ja gerne einfach zu, wenn getratscht wird, und bildet sich dann sein Urteil.

Beispiel 1: der Stalker
Eine junge Frau in der Findungsphase, leidenschaftlich, kreativ, planlos. Es klappt weder mit den Männern noch im Beruf so richtig. Sie ist das Gehetze und die Ratlosigkeit leid. Da gibt es einen Verehrer noch aus ihrer Schulzeit, er lebt noch in der alten Heimat, im Haus der Eltern. Bieder, aber zuverlässig, inzwischen verdient er auch gut. Sie geht auf sein Angebot ein, den Sommer bei ihm, im idyllisch gelegenen Elternhaus, zu verbringen. Am Ende des Sommers sind sie ein Paar. Sie ist alles andere als glücklich über diese Entwicklung, aber auch nicht unglücklich. Sie fühlt sich sicher, auch noch, als es ihm gelingt, einen Job in ihrer Stadt zu ergattern, und bei ihr einzieht. Aber dann ist da der charmante Obsthändler, der ihr auf dem Wochenmarkt immer was schenkt. Als der Freund unterwegs ist, lässt sie sich auf ein Date ein und sofort ist klar, sie hat einen neuen Freund. Endlich einen, der ihr gefällt. Der andere muss ausziehen. Tut er aber nicht – schließlich hat er ja schon einmal durch sture Hartnäckigkeit ein eigentlich unmögliches Ziel erreicht. Es endet damit, dass sie die Polizei holt, um ihn zum Auszug zu zwingen. Danach ist zwei Wochen Ruhe. Dann steht er jeden Abend mit dem Auto vor ihrer Arbeitsstelle. Sie muss sich täglich von ihrem neuen Freund abholen lassen. Einmal, die Autos der Nebenbuhler parken direkt nebeneinander, sagt sie, noch aufgewühlt von der täglichen Konfrontation, nach dem Einsteigen zu ihrem Freund: „Tritt einfach aufs Gas!“ Der tut es. Die Karosserien knallen aufeinander, es gibt ein Gerichtsverfahren, zwei Zeugen (Kolleginnen) bezeugen, was nicht gewesen ist, dass nämlich der Stalker mutwillig den Unfall verursacht hätte. Es wird ein entsprechendes Annäherungsverbot ausgesprochen, der Stalker trollt sich und wird nie wieder gesehen.

Beispiel 2: die Stalkerin
Der befristet Angestellte und die Auszubildende kommen sich im Trubel einer Geschäftsauflösung näher, beiden winkt die Arbeitslosigkeit. Sie werden ein Paar, verlassen gemeinsam die Stadt, finden anderswo ein gutes berufliches Auskommen. Sehr bald ist auch ein Kind da, nicht viel später auch Wohneigentum. Die Probleme beginnen, als langsam Ruhe einkehrt. Er beginnt sich beruflich und sozial zu etablieren, sie spielt immer nur die zweite Geige, sicher auch bedingt durch Babypause und persönliche Ungeschicklichkeit, vor allem da sie es trotz beider Berufstätigkeit nicht schaffen, das konservative Rollenbild „er Leitwolf – sie Weibchen“ zu durchbrechen. Ihre depressiven Schübe bekämpfen sie mit Medikamenten, dann verbessert die Ankunft des zweiten Kindes vorübergehend die weibliche Position und die Balance des Ehelebens. Natürlich wird es danach noch schlimmer. Als sie das dritte Kind ohne sein Wissen abtreibt, gibt er auf und erliegt den Avancen einer Kollegin. Träumt von einer neuen Beziehung und ahnt nicht, dass die gar nicht daran denkt, nur sexuelle Abwechslung sucht. Aber er trennt sich auch nicht von seiner Frau, neben der er weiter herlebt, weil er Angst hat, die geliebten Kinder zu verlieren. So staut sich bei seiner Frau, die nichts Genaues weiß, aber die Zurücksetzung natürlich spürt, nur noch mehr Wut auf, bis sie endlich die Initiative ergreift und auszieht. Endlich ist sie aus der Lethargie heraus. Den aufgestauten Frust investiert sie nun in anwaltliche Aktivitäten. Die Scheidung ist ihr nicht genug, auch nicht der übliche Rosenkrieg um Sorgerecht und Gütertrennung: Sie überzieht ihren Exmann jahrelang mit weiteren Klagen und Forderungen: erfindet den Vorwurf, er schlage die Kinder, berechnet den Gegenwert einst bei ihm verbliebener Harken und Spaten, beauftragt ein Kind, seinen Haustürschlüssel zu entwenden, damit sie heimliche Kontrollgänge durch die alte Wohnung machen kann usw. Das ist ihr neuer Lebensinhalt, ein Ende nicht in Sicht.

Beispiel 3: Stalking als phantasierte Bedrohung
Sie ist nicht mehr ganz jung und immer noch mit ihrem Jugendfreund zusammen, ohne dass es jetzt die große Liebe wäre. Nur eine beruhigende Kontinuität. Ohnehin haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Arbeitsorte ergeben, so richtig sieht man sich nur am Wochenende. In den gemeinsamen Urlaub geht es im Auto mit dem Wackeldackel auf der Hutablage. „So spießig bin ich gar nicht.“, ist ihr liebster Spruch, auch gegenüber dem neuen Kollegen, einem skurrilen, geistreichen Menschen, mit dem sich ein harmloser Flirt ergibt. Dass dieser, als langjähriger Single beziehungstollpatschig und sexuell ausgehungert, sich natürlich gleich in sie verliebt hat, übersieht sie geflissentlich. Sie wäre ja auch blöd, würde sie die Zuneigung und lang entbehrte Herzenswärme nicht nehmen, solange sie zu nichts verpflichtet ist. Aber dann kommt es, wie es kommen muss: ein Abend in seinem Hause, bei Rotwein, er gesteht ihr alles. Jetzt kann sie die Augen nicht mehr verschließen vor dem Begehren des anderen. Sie kriegt die Panik, plötzlich fällt ihr auf, dass der Flirt gar nicht harmlos war, sie fühlt sich verfolgt und unsittlich umlungert, heult erstmal, dann geht sie zur Chefin, verlangt den Kollegen aus dem gemeinsamen Arbeitsumfeld zu entfernen wegen „Stalking“ und bringt die ganze, überwiegend weibliche Kollegenschaft in Aufruhr. Auch hier endet es mit Anwaltsbriefen.

Fazit:
Ein empörungsgieriges, frauenfreundliches Umfeld der Betroffenen nimmt in Fall 1 und 3 einen männlichen Stalker wahr, im Fall 2 einen ganz normalen Scheidungskrieg. Von der gänzlichen Unschuld der betroffenen Frauen ist man (ja, auch die Männer) in jedem der drei Fälle überzeugt. Wie ich finde, liegen die Sachen meistens etwas komplizierter, da Beziehungstaten ja in der Regel aus Beziehungen entstehen.
Und noch eins: Die einzigen Gewinner sind in jedem Fall die Anwälte.

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Donnerstag, 29. November 2012
Diesen Herbst ...
... liest meine Mutter zum ersten Mal nicht mehr an einem dicken Buch, weil die Augen nicht mehr so recht mitmachen und nur noch lesen, was wirklich sein muss. Und mein Sohn liest zum ersten Mal ein dickes Buch, weil es jetzt so flüssig geht, dass es kein Stress ist, sondern ihm Spaß macht. Ich stecke in der kurzen Zeit dazwischen, wo es ein Vergnügen ist zu lesen, einfach von der Hand geht zu schreiben. Ich sollte diese Zeit mehr nutzen.

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Freitag, 16. November 2012
Internet-Lektüre-Bericht: Wie wird eine Theorie über den Reichstagsbrand zur „Verschwörungstheorie“?
Als ich 1990 im Westen ein Geschichtsstudium begann, erfuhr ich zu meiner Verblüffung, dass die Täterschaft der Nazis in Bezug auf den Reichstagsbrand wohl doch nicht selbstverständlich sei, ja, dass es sogar möglich sei, der damals am Tatort gefasste von der Lubbe habe den Reichstag mtihilfe seines kommunistischen Parteibuchs und einiger Kohlenanzünder ganz allein in Flammen aufgehen lassen. Nun, ich nahm das erstmal hin – es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich etwas ziemlich Unwahrscheinliches später dennoch als wahr erweist. Und wenn der mainstream einer Wissenschaft das für nicht unwahrscheinlich hält, dann muss es ja zumindest einige gewichtige Aspekte geben, die dafür sprechen.
Diese Aspekte gibt es tatsächlich, ich hab sie gestern nachgelesen, als ich (aus ganz anderen Gründen) mal zu diesem Thema nachgoogelte. Allerdings liegt das Gewicht der betreffenden Argumente, wie ich z. B. hier nachlesen konnte, weniger in deren Logik und Überzeugungskraft als in der Autorität der Instanzen, die sie vorgetragen haben: ein führendes deutsches Nachrichtenmagazin und ein führender deutscher Geschichtsprofessor.
Es war nämlich so: 1946 benannte ein ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter die Täter, den SA-Funktionär Hans-Georg Gewehr und seine Truppe, und beschrieb den Tathergang. Da Gewehr inzwischen einen falschen Namen angenommen hatte und untergetaucht war, auch keine Akten greifbar und die entscheidenden Zeugen tot waren, ließ sich natürlich nichts davon beweisen. Bewegung in die Geschichte kam erst ein paar Jahre später, als der Wind sich gedreht hatte: Hans-Georg Gewehr lebte wieder unter seinem bürgerlichen Namen – als Bauunternehmer und Leiter eines Ingenieursbüros, ohne je Ingenieur gewesen zu sein (diese Sorte Firmengründer kenne ich auch aus der EX-DDR, wo jeder nennenswerte Funktionär von seiner Seilschaft eine GmbH bekam, kürzlich ist wenigstens mal einer der dreistesten davon vor Gericht gelandet, nachdem er diese Scheußlichkeit jahrelang an den neuen Staat vermieten konnte). Nun bekräftigte also ein niedersächsischer Verfassungsschützer als Hobby-Historiker die schon von den Nazis vertretene These von der Täterschaft van der Lubbes. Ein ehemaliger SS-Mann und in der Bundesrepublik hoch angesehener Wirtschaftskriminologe vermittelte seinen Text an den SPIEGEL, wo er 1959/60 als Serie erschien. Kurze Zeit darauf bestätigte der berühmte Historiker Hans Mommsen diese Einzeltäterthese und verhinderte die Veröffentlichung eines Gutachtens, das die Fehler in dem Text nachwies. So erlangte die seltsame These von der Alleintäterschaft van der Lubbes endgültig den Status kanonischen Wissens, und alles, was dagegen sprach, gilt seither als Verschwörungstheorie. Z.B. bei zum.de, der Wissensplattform für Lehrer, wo behauptet wird, nichts Genaues wisse man nicht, und als einziger Beleg ein Text des SPIEGEL aus dem Jahr 2008 verlinkt wird, der die SS-Thesen von 1960 unverändert weiter reproduziert. Während Wikipedia die Kontroverse umfangreich und wertfrei darstellt.
Fazit: Wenn du etwas über die Geschichte lernen willst, schau nicht in den SPIEGEL! Auch dein Geschichtslehrbuch wird dir vermutlich nicht weiterhelfen. Guck lieber ganz normal bei Wikipedia nach und folge den dort verzeichneten Links oder googel ein bisschen umher.
Und Verschwörungstheorien sind immer die Überlegungen der Leute, die ihre Ideen zwar auch nicht letztgültig beweisen können, denen es aber vor allem nicht gelungen ist, genügend wichtige Autoritäten um sich zu scharen, um ihr Gedankengebäude als Wahrheit verkaufen zu können.

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Mittwoch, 24. Oktober 2012
Gedanken zum Tage – Wie viele Denkmäler brauchen wir, um alle NS-Opfer ordnungsgemäß abzudecken?
Mein Thema heute: Heute wurde nahe beim Reichstag ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma enthüllt. Wie kam es dazu?
Nach der Wiedervereinigung musste das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in der Neuen Wache Unter den Linden neu gestaltet werden, um ihm den alten DDR-Geruch zu nehmen. Die Frage war, wer jetzt hier geehrt werden sollte. Kanzler Kohl schwebte vor, einfach alle Opfer „von Krieg und Gewaltherrschaft“ einbeziehen – das ist bequem, da kann sich jeder gemeint fühlen, denn schließlich ist jeder Täter (das kann ich aus eigener DDR-Erfahrung bestätigen) irgendwie auch Opfer gewesen (außer vielleicht Hitler himself, aber der hat ja mit dem Film-Monument „Der Untergang“ sein eigenes Denkmal gekriegt, Joachim Fest und Traudl Junge sei Dank).
Leider weigerten sich die Vertreter der Juden, mit gefallenen SS-Soldaten in einen Topf geworfen zu werden. Daher bekamen sie ein eigenes Denkmal, das Holocaust-Mahnmal. Und wenn die eine Ethnie eins kriegt, dann muss natürlich auch die andere eines bekommen. Also nun auch die Sinti und Roma. Damit bleibt man schön im völkischen Fahrwasser des Holocaust-Gedenkens, ohne doch dessen heilige Singularität zu leugnen. (Und das Denkmal darf auch ein israelischer Künstler entwerfen, schließlich sind die ganz großen Thälmann-und Leninköpfe damals in der DDR auch von sowjetischen Künstlern entworfen worden.)
Bleiben noch die Opfergruppen, die nicht im engeren Sinne Ethnien zu nennen sind. Glück gehabt haben die Schwulen, denn sie können den Homosexuellen zugerechnet werden, die zwar nicht in ihrer Gesamtheit verfolgt wurden, aber eine so prominente Lobbygruppe darstellen, dass man ihnen ein Denkmal im Tiergarten gebaut hat. Schwieriger wird’s schon mit den Asozialen. Wo soll deren Denkmal hin? Etwa nach Neukölln? Und wer soll es finanzieren? Die Arge?
Da ist es ja vergleichsweise mit den Kommunisten einfacher. Das entsprechende Denkmal könnte im Karl-Liebknecht-Haus stehen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert werden. Das Problem ist nur, dass viele Kommunisten schon als Juden repräsentiert sind und somit zweimal abgerechnet würden. Und Kommunisten gleich doppelt ehren - das geht ja nun gar nicht. Außerdem: Wenn sogar die Kommunisten dürfen, was ist dann mit Gewerkschaftlern, SPDlern und katholischen Priestern? Das waren zwar nicht so viele, aber auch ihre Lobbys sind vergleichbar stark wie die der Homosexuellen.
Also, ich glaube, wir müssen noch ein paar Denkmäler bauen, bis wir alle Grüppchen abgedeckt haben. Und alles nur, weil es ein Volk nicht schafft, seine eigene Gedenkstätte (die in der Neuen Wache) von Tätern freizuhalten, die dort nichts zu suchen haben.

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Dienstag, 16. Oktober 2012
Die Unfähigkeit zu trauern (Topographie des Terrors)
Don Alphonso würde es vermutlich nicht verstehen – aber wir haben unsere Herbstferien für einen Berlin-Aufenthalt verwendet: mal ein par Tage weitgehend verwandtschaftsfrei in der alten Heimat. Jeder hatte da so seine Traumziele: Meine Frau erkundete Wald- und Uferwege bei Kohlhasenbrück, mein Sohn wollte unbedingt ins Legoland Berlin am Potsdamer Platz, und ich war schon lange neugierig auf die „Topographie des Terrors“, die Gedenkstätte an der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße, wo früher die Gestapo saß.
Tja, was soll ich sagen? Recherchieren, Wissenschaft, differenzierte Darstellung – das können sie, die Deutschen, aber trauern, gedenken, alles, was mit Gefühl, mit Würde oder gar Kunst und Schönheit zu tun hat – da ist wohl tote Hose. Ich wanderte zwischen lauter Ausländern über dieses leere Gedächtnisfeld und fühlte mich seltsam unzugehörig zu dem Volk, das sich solch einen sterilen Erinnerungsort schafft.

Was die Inhalte der Ausstellung betraf, da gab es wie gesagt nichts zu meckern, das war alles ausgewogen präsentiert, alles Wichtige klar dargestellt und mit eindringlichen und gut ausgewählten Beispielen untermauert. Nur ist das Ganze ja kein historisches Museum, sondern eine Gedenkstätte.
Es ist doch der Ort, wo Gestapo und SS ihr Hauptquartier hatten, der Schreckensort, wo die Aufmüpfigen eingeliefert, wo sie verhört, gefoltert, auch getötet wurden – da kann man doch nicht nur abgeklärt und ausgewogen darstellen! Vor allem darf man nicht das ganze Areal einfach kalt mit Schotter abdecken und in die Mitte ein Dokumentationszentrum aus grauem Stahlblech setzen. Hat man aber. Und wo in den achtziger Jahren eine Bürgerinitiative die Gefängniszellen ausgrub, da hat man alles mit Sand abgedeckt, um das „Bodendenkmal“ zu schützen. Korrekt, aber nicht sehr souverän.
Zu dieser aufgeräumten, emotionslosen Gedenkinszenierung gehört als Gegenstück, dass der hintere Teil der historischen Anlage, der Garten des Prinz-Albrecht-Palais‘, weil man ihn nicht auch noch mit Steinen planieren wollte, einfach so bleibt, wie man ihn vorgefunden hat: Wildwuchs breitet sich aus, die asphaltierten Reste eines Fahrschulplatzes aus den achtziger Jahren bröckeln vor sich hin, Schutthaufen und Mauerreste aus Kriegstagen werden von Unkraut überwuchert, irgendwo dazwischen erinnert verschämt eine Tafel an die Bauleute, die den vorderen Teil geschottert haben. Nicht sehr würdig.
Eine Geste des Gedenkens, eine vielleicht kitschige Verbeugung vor den Opfern – ist das zu viel verlangt?
Ich denke z. B. an Will Lammerts Ravensbrück-Denkmal: die Figur, die den Deutschen am anderen Seeufer (die das KZ natürlich gesehen haben, sehen mussten) ein zusammengebrochenes Opfer mahnend entgegenhält. Man mag dies und jenes denken über die Verlogenheit des ostdeutschen Antifaschismus – diese Geste ist echt. Und vor allem: Sie wurde gemacht. Die Topographie des Terrors bleibt dagegen auf der Gefühlsebene sprachlos.

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Samstag, 6. Oktober 2012
Unabhängiger Journalismus
Bild, Welt und Hamburger Abendblatt haben durch intensive Recherche ermittelt, dass Peer Steinbrück, der Kanzlerkandidat der SPD, seine Prominenz genutzt hat, um vor Bankern und anderen reichen Leuten für viel Geld Vorträge zu halten. Was für eine Überraschung! Als sich kürzlich Joachim Gauck, der Präsidentschaftskandidat der Union, genauso verhielt, ist ihnen das nicht aufgefallen, da hieß es nur "reisender Demokratielehrer".
Na, und wenn Springer so plumpe Lobby-Politik betreiben darf, dann dürfen das – in entsprechend geringerem Umfang – die anderen auch: Neulich las ich in der taz, dass der Führungswechsel an der Spitze des Verfassungsschutzes völlig in Ordnung sei, nur eben nicht ausreichend, da man außerdem auch zivilgesellschaftliche Anti-Nazi-Organisationen besser finanzieren sollte. Soll heißen: Gar nicht so schlimm, wenn Scharfmacher an der Spitze die Richtung vorgeben – Hauptsache, unsere Kumpels an der Basis kriegen auch ein paar Bröckchen ab vom Kuchen.
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Ja, ich weiß, der Vergleich mit Gauck hinkt ein bisschen:Gauck verdiente sich damit seinen Lebnsunterhalt, während Steinbrück ja durch staatliche Pensionen genügend abgesichert ist und sich nur ein schönes Zubrot verdiente. Aber er spielt ja auch eine Liga höher: Er will Bundeskanzler werden, nicht nur Bundespräsident.

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Donnerstag, 13. September 2012
Geld macht nicht glücklich
Ich gebe zu, dass ich auch zu den Menschen gehöre, die manchmal im Netz nachschnüffeln, was so aus den Leuten und insbesondere den Frauen geworden ist, die realiter längst aus meinem Leben verschwunden sind. Die sind ja alle irgendwo verzeichnet, oft sogar mit Foto. Heute traf ich auf ein Zeitungsfoto, das X. darstellt. Vor gut zwanzig Jahren knisterte es gewaltig zwischen uns, sie war ein phantastisches, wunderbar ungelenkes Luftwesen; meine Neigung zu Ironie, Dekadenz, Katholizismus und Helge Schneider verdanke ich im Wesentlichen ihr. Na, aber jetzt scheint sie nun wohl doch noch eine ganz normale Gymnasiallehrerstelle abgestaubt zu haben, irgendwo in der Uckermark. Jedenfalls sieht man sie auf dem Zeitungsfoto skeptischen Blicks vor einer Backsteinkirche stehen, immer noch zart und unelegant, und vor sich eine Horde blühend pubertärer Dorfgesichter. Ein trauriges Foto.
Wie anders dagegen Y., deren Foto ich vor einigen Monaten begegnete! Y. war damals die Schönste von den linken Asta-Leuten, hatte wild wehende, rotblonde Locken und ein rundes, rosiges Gesicht. Sie bewegt sich offenbar noch immer in solchen linken Projekt-Kreisen, in einer westdeutschen Großstadt, hat zwei Bücher geschrieben, deren Titel interessant klingen, die aber in Winkelverlagen erschienen sind. Das Netz verzeichnet auch ihre berufliche Position, von der offensichtlich ist, dass sie kaum Geld einbringen kann. Auf dem Foto sieht man sie mit lokalen Honoratioren in einer Ausstellung, älter geworden, mit Hennahaaren und Hosenanzug, zugewandt, freundlich, heiter gelassen ins Gespräch vertieft. Beneidenswert.
Genauso Z. Als wir uns kannten, war sie noch halb die brave, hübsche Schuldirektorstochter, in den Wirren der Wendezeit begeisterte sie sich für Esoterik, bald darauf verschwand sie für ein Jahr in die Toscana. Jetzt arbeitet sie wohl in einem Kulturprojekt für Jugendliche im Brandenburgischen, das keinen sehr gut finanzierten Eindruck macht. Anlässlich eines Zeitungsartikels über benachteiligte Jugendliche, mit denen sie arbeitet, sieht man sie auf dem Foto in einem Garten voller wucherndem Grün sitzen, in Jeans, mit hochgestecktem Haar, lachend, cool und entspannt.
Während N.N. immer noch völlig verspannt ist. Sie zählt zwar nicht zu den Frauen, an denen ich ein erotisches Interesse hatte, aber wir haben uns sehr gut verstanden, damals, als wir zur gleichen Zeit an benachbarten Fachbereichen promovierten und einiges zusammen unternahmen. Über gemeinsame Bekannte weiß ich, dass sie nach der Dr.-Arbeit eine Archivarsausbildung gemacht hat und inzwischen verbeamtet ist. Das Internet nennt etliche Veröffentlichungen und Vorträge von ihr. Und ein Foto zeigt sie in einem Archivkeller, wie sie mit einem Regionalpolitiker hinter einem metallenen Aktenschrank hervorkommt: kalt von Neonlicht beleuchtet, schick und korrekt gekleidet, mit verbissenem Gesichtsausdruck.
Die Beispiele mögen jetzt zufällig sein, aber ich hab sie so erlebt. Und mir drängt sich der Verdacht auf, dass die allseits begehrten Staatsstellen auch nicht so glücklich machen, wie allgemein angenommen.
Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vor allem für X. wünsche ich, dass ich mich täusche.

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Sonntag, 2. September 2012
Endlich gesehen: „Das weiße Band“
Nun habe ich mich doch noch überreden lassen, „Das weiße Band“ zu sehen. Jetzt kann ich mich nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass der Film gut ist, jedenfalls qualitativ: Er funktioniert als Film, reißt den Zuschauer mit und ist in sich stimmig bis ins letzte Detail. Und als ostdeutscher Bildungsbürger hatte ich auch kein Problem mit der übermetaphorisierten, überstilisierten Bildsprache. Das kann man machen. Warum nicht?
Und Haneke macht es, in einer atemberaubenden Konsequenz und Gnadenlosigkeit. Er führt den Zuschauer in ein norddeutsches Dorf der Zeit um 1900, das er samt menschlichem Inventar so korrekt und exakt ausstaffiert, dass es einem kalt den Rücken runterläuft: kein Stäubchen in den Bauernstuben, nicht das kleinste Unkraut auf der Dorfstraße - unsere hiesigen Museumsdörfer sind das blühende Leben im Vergleich dazu. Schon in den neunziger Jahren hat ja Haneke Kafkas herrlichen Roman „Das Schloss“ so steif und humorlos verfilmt, dass ich mir das damals im Fernsehen nicht zuende angeguckt habe. Daran knüpft er jetzt an.
Wieder ist es also ein ideal unterdrücktes Dorf, dessen männliche Repräsentanten ein brutales autoritäres Regiment aufrechterhalten. Nur gibt es diesmal Widerstand, und der ist das Thema des Films. Immer wieder geschehen Racheakte aus dem Untergrund, deren Brutalität der der offiziellen Unterdrücker in nichts nachsteht. Leider erschöpft sich darin auch schon die Logik des Films. Unterdrückte dürfen bei Haneke demütig erdulden oder irrational aufbegehren. Andere Lebensregungen sind nicht vorgesehen.
Und weil die Unterdrückten so eindimensional dargestellt werden, fühlt der Zuschauer auch nicht mit ihnen. Was dagegen subtil inszeniert wird, das ist die Angst der Herrschenden vor einer möglichen Renitenz der Untertanen. Im Zentrum des Films steht der Dorfpfarrer, der von Anfang an ahnt, dass seine Kinder zu den Tätern gehören. Auch der Zuschauer weiß es am Anfang noch nicht, sondern ahnt es nur. Er fühlt das Grauen des Pfarrers mit, er stellt sich dessen bange Frage: Können Kinder so grausam sein? Und er wird am Ende natürlich bestätigt.
Das letzte, schlimmste Attentat der Kinder zielt übrigens nicht auf einen Täter, sondern auf ein Opfer: Ein behindertes Kind, Kalli, wird halt tot geschlagen, weil es unehelich ist und den Tätern somit als ein Symbol der Verkommenheit des Systems gilt, so jedenfalls verkündet es das Bekennerschreiben. Spätestens hier muss man an die Nazis denken (wie es viele Kritiker ja auch getan haben), an die Euthanasie oder an die Beweggründe der NSU-Täter. „Die Pfarrerstochter sieht doch schon aus wie so eine KZ-Aufseherin.“, meinte Mitgucker T. ganz richtig.
Und da hört sich für mich alles auf: Der Pfarrer-Patriarch hat also nach der Logik des Films eigentlich Recht (auch wenn er ideologisch irregeleitete Maßnahmen ergreift). Die vornehmlich weibliche leidende Bevölkerung (für die wieder Susanne Lothar ihre Kulleraugen hinhalten muss) ist im Grunde verachtenswert. Der vitale Widerstand der Kinder nötigt uns dagegen Respekt ab, führt aber in unkontrollierten Naziterror, einen Terror, der am Ende ungesühnt bleiben muss, weil sonst das System ins Wanken käme.
Damit folgt der Film einer konservativen, letztendlich menschenverachtenden Herrschaftslogik. Natürlich kann man so denken. Man kann auch bombenbastelnde V-Leute bezahlen, um den irrationalen Terror der Jugend wieder ins patriarchale System einzubauen.
Ich halte es für ein schlimmes Zeichen, dass „Das weiße Band“ den Deutschen Filmpreis 2009 ausgerechnet gegen „Alle anderen“ gewonnen hat. Auch „Alle anderen“ thematisiert die Unentrinnbarkeit des patriarchalen Systems. Aber er zeigt, wie individuelle Menschen darin einen gangbaren Weg suchen, vielleicht scheitern, vielleicht fündig werden, das ist gar nicht der Punkt. Wenn diese Suche überhaupt aussichtslos ist, wie „Das weiße Band“ behauptet, dann ... ja, dann hätte man ja nur die Wahl zwischen NSU oder CDU. Und so trostlos ist Deutschland nun auch wieder nicht. Und auch nie gewesen.

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Freitag, 10. August 2012
Bahnbrechende Forschungsergebnisse
Es mag ja Neid mitsprechen auf Leute, die sich den lieben langen Tag in geistigen Welten aufhalten dürfen, statt in den Niederungen des wirklichen Lebens herumzukrebsen. Aber manchmal kann man sich ein Schmunzeln über die Erkenntnisse der Wissenschaft doch nicht verkneifen.
Gestern Abend kam auf phoenix noch ein Film, dessen Titel spannend klang: „Die Heilkraft des inneren Arztes“. Aber schon die superbunte, aussagelose 3D-Animation des menschlichen Körpers im Vorspann hätte mich stutzig machen sollen. Und tatsächlich blieb es auch so banal.
Da hat sich also eine völlig neue Art und Weise der Medizin herausgebildet, die „Body-mind-Medizin“. Ihr Ansatz ist angeblich „einzigartig in Europa“ (O-Ton im Off-Kommentar) und kreist um die Erkenntnis, dass es sinnvoll sein kann, wenn man den Körper und die Seele betreffende Behandlungen kombiniert, da so die Selbstheilungskräfte des Menschen gestärkt werden, etwa bei Burn-Out und Rückenproblemen. Und dass es durchaus erlaubt ist, auch mit Meditation zu arbeiten, wenn man sie nur „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ nennt, damit einem nicht der Vorwurf der Esoterik gemacht werden kann.
In Amerika ist man natürlich längst noch weiter: An der Harvard University in Boston kann man solcherlei Gemeinplätze inzwischen auch mit komplizierten Geräten richtig wissenschaftlich nachmessen. Eine junge Forscherin aus Deutschland hat dort „Erstaunliches“ entdeckt: Schon nach wenigen Wochen regelmäßiger Meditation setzt in besonders stressanfälligen Hirnarealen tatsächlich eine messbare Besserung ein. Na, wer hätte das gedacht?!
Ich hab an der Stelle den Fernseher ausgemacht – und frage mich, was Menschen, die so etwas für erstaunlich halten, denn so vorher geglaubt haben.

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Dienstag, 7. August 2012
Vorurteile am ersten Schultag
Heimweg nach dem ersten Schultag. Mein Sohn erzählt: „Wir haben einen neuen Schüler in der Klasse. Er heißt Paul. Ich glaube, seine Eltern kommen aus einem anderen Land oder Bundesland. Er spricht so komisch.“
Ich: „Also, wenn er Paul heißt, kommt er wohl eher aus einem anderen Bundesland. Vielleicht Sachsen oder Bayern?“
Er: „Aber vielleicht kommt ja nur einer von seinen Eltern aus einem anderen Land, und er spricht deshalb so.“
Ich: „Dann würde er sicher akzentfrei Deutsch sprechen. Denk doch z.B. an R.!“
Er: „Ja, aber das muss nicht so sein. Bei S. z.B. hört man auch was, obwohl nur die Mutter ... ach nee, stimmt ja, der Vater ist ja, glaub ich, auch Türke. Aber was ist mit N.?“
Ich: „Na, der ist doch ein gutes Beispiel! Der spricht doch genau wie du oder ich.“
Mein Sohn: „Ja, aber seine beiden Eltern sind Argentinier.“
Ich: „Okay, ein Punkt für dich.“
Kurz: Wir haben die Frage nicht klären können, weshalb nun manche Kinder komisch sprechen und andere nicht. Jedenfalls haben mir meine Vorurteile über Sachsen, Bayern, Türken sowie hochdeutsch sprechende Ehepartner auch nicht weitergeholfen. Vielleicht kommt ja Paul auch aus Österreich, dann würde die These meines Sohnes über das fremde Land ja stimmen. Paul jedenfalls findet er netter als den neulich in die Klasse gekommenen Skandinavier. Die Welt ist eben bunter geworden und die nationale Herkunft nebensächlicher – ganz im Gegensatz zur sozialen ... aber davon später mehr, sofern ich in den nächsten Wochen überhaupt zum Bloggen komme, mein Zeitplan ist grade wieder hoffnungslos überfrachtet ...

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