Montag, 27. Februar 2012
Anlässlich eines Films über die Odenwaldschule
Am Wochenende sah ich auf Phoenix einen Dokumentarfilm über die Odenwaldschule. Sie erinnern sich bestimmt: der Missbrauchsskandal an dem Eliteinternat. Ein sehr guter Film, der gekonnt die Waage zwischen persönlichem Engagement und distanzierter Sachlichkeit hält und eindringlich schildert, was da vor sich ging: Ein Schulleiter installierte ein allgemeines Laisser-Faire-System, um den eigenen kriminellen pädophilen Neigungen ungestört nachgehen zu können.
Aber darüber wollte ich gar nicht schreiben. Mir fielen zwei Kleinigkeiten auf, die der Film andeutete, aber nicht vertiefte: nämlich erstens die merkwürdige Zurückhaltung, mit der dieser Schulleiter, Gerold Becker, von den Behörden behandelt wurde. Unklar ist nicht nur, wie Becker 1967 auf den Schulleiterposten kam, obwohl der zuständige Bildungspolitikerschon von einem sexuellen Übergriff dieses Mannes auf einen Schüler wusste. Noch viel unklarer sind die Umstände seiner Ablösung 1985. Irgendetwas musste ruchbar geworden sein, irgendjemand musste ihn gedrängt haben, sich unter Ausreden von seinem Posten zurückzuziehen. Ein loyaler Nachfolger wurde – ohne Ausschreibung oder Auswahlverfahren – gefunden und eingesetzt, um die Schule wieder auf geregelte Bahnen zu bringen, ohne dass irgendjemand draußen etwas mitkriegt. Und so blieben auch später alle Anschuldigungen in der deutschen Öffentlichkeit ungehört, solange die Straftaten nicht verjährt waren.
Die andere Kleinigkeit war, dass ich über Hartmut von Hentig nachdachte, der nicht nur ein bekannter Pädagoge und Bildungsforscher ist, sondern auch Gerold Beckers Lebensgefährte war. Müsste der das nicht wenigstens als Untreue und mit einiger Eifersucht aufgenommen haben, wenn sein Freund und Partner die Passfotos der missbrauchten Jungen wie Trophäen in den gemeinsamen Wohnungsflur hängt? Oder konnte er das kompensieren, da er als der Berühmtere, der preußische Adlige, die stärkere Position hatte gegenüber Becker – so dass im Vergleich dazu ein paar „kleine Jungen“ nicht ins Gewicht fielen?
... aber hier überschreite ich endgültig die Grenze zu Spekulation und Verschwörungstheorie und spare mir den geplanten letzten Absatz dieses Textes, der die merkwürdige Liebe der alten Bundesrepublik zu den preußischen Adligen und also meine sozialen Vorurteile als Nachfahre anhaltinischer Proleten zum Inhalt haben sollte.

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Dienstag, 14. Februar 2012
Der Freitagabend (Rezension zu „The Happening“)
Vor zwei Wochen haben meine Frau und ich uns für dem Freitagabend getrennt: Sie raus in die Welt - mit ihrer besten Freundin ins Kino zu dem Film, den derzeit jeder gesehen haben muss („Ziemlich beste Freunde“); ich blieb in der Drei-Zimmer-Höhle und bekam wie jeden Freitagabend von meinem besten Freund einen herausragenden Spielfilm aus dem Fernsehprogramm der vorigen Woche nach Haus geliefert, um ihn gemeinsam auf dem Beamer zu gucken.
Wir sahen „The Happening“ von M. Night Shyamalan, diesem von den Cineasten und sogar schon vom SPIEGEL geschmähten Regisseur und waren bewegt: ein herrlicher Mainstream-Gruselfilm, der aber (Shyamalans esoterischer Ader sei‘s gedankt) auf die übliche Hollywood-Plattheit verzichtet. Irgendwo im Internet hab ich gelesen, der Regisseur hätte für einen groß angelegten Öko-Thriller keine Produktionsfirma gefunden und wäre daher gezwungen gewesen, das große Thema auf eine private Geschichte zurechtzustutzen. Na, Gott sei Dank! Das Schöne des Films besteht ja gerade darin, dass er eine Menschheitskatastrophe anhand einer kleinen, menschlichen Geschichte erzählt.
Diese ist einfach geradezu simpel: Als mehrere Großstädte an der Ostküste der USA von einem Nervengift lahmgelegt werden, das die Menschen massenweise in den Selbstmord treibt, verzichtet der Regisseur auf eine Gesamtschau, sondern erzählt von einem einzelnen Ehepaar, das aus sich wie alle anderen auf die Flucht begibt. Die beiden sind ein bisschen naiv, ein bisschen spießig und aufgrund ihrer Unreife in einer Ehekrise. So wie sie (gespielt von Zooey Deschanel) eiskalt und verständnislos in die Welt guckt mit ihren bewegungslos stahlblauen Augen, das ist großartig, es erinnert mich an meine Frau, als sie zwanzig war und ich nicht an sie heran kam. Er dazu passend naiv und ebenso ahnungslos aufrichtig. Im Laufe der Flucht übernehmen sie das Kind eines Kollegen (der seine Frau nachholen will, und – natürlich – in den Tod geht), und an ihrer Zuneigung zu diesem Kind wird sie erwachsen, während er von einem alten Gärtner, einer Hippie-Helden-Figur, lernt, dass es nicht Terroristen sind, die da angreifen, sondern die gepeinigten Pflanzen selbst. Tapsig (einmal versucht er, mit einer Plastik-Pflanze zu kommunizieren), aber letztendlich erfolgreich nimmt er die Herausforderung an und versucht, seine kleine Kunstfamilie möglichst gut durch die Gefahr zu bringen. Die drei kommen durch – und man freut sich für sie, auch wenn das unvermeidliche Ende den nächsten Pflanzen-Angriff andeutet.
Ja, ich weiß, das ist kitschig, aber das ist halt mein Kitsch: gegenüber der Natur sind wir im Unrecht, als Einzelindividuen sind wir lächerlich, aber wachsen an den Herausforderungen, das Glück ist vorübergehend und findet sich irgendwo bei Liebe und Vertrauen. Eigentlich doch naheliegend, dass ein großer Mainstream-Kinofilm nach so einer privaten, einfachen Geschichte als Ausgleich verlangt; das wusste schon David Lynch, als er „Eine einfache Geschichte“ drehte. Nur kann ich eben mit dessen Klischees von Männerfreundschaft und „God bless America“ weniger anfangen als mit Shyamalans Mann-Frau-Kind-und-Liebe-Klischee.
Und folgerichtig bin ich eine Woche später am Samstag dann auch mit meiner Frau in „Ziemlich beste Freunde“ gewesen und hab mich total wohl gefühlt. (Auch da gings um Zuneigung und Vertrauen, und das auch noch in französicher Eleganz dargestellt!) Einfach im Zeise-Kino um die Ecke und keine weiteren Ausgehabenteuer, auch keinen Sex, wir sind danach einfach ins Bett gegangen und eingeschlafen. Und im Traum gratulierte mir M. – die uns beide damals vor 25 Jahren kannte und die inzwischen schon längst tot ist – dass ich die verehrte Frau doch noch errungen hab, und ich sagte nur: „Ja, ich bin glücklich.“

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Donnerstag, 2. Februar 2012
Lichtenhagen
Den Namen "Lichtenhagen" hörte ich das erste Mal, als wir 1979 dorthin eine Klassenfahrt unternahmen. Und nun guckt euch doch mal diese verqueren, verlorenen Gesichter an auf unserem Klassenfoto vor der Lichtenhagener Schule! Damit ist doch wohl alles klar!


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Irrtümer
Manchmal ist man sich seiner selbst sehr sicher und dennoch im Irrtum. Das fiel mir ein, als ich bei der schönen Diskussion über meinen letzten Beitrag an mein Schulpraktikum 1992 in Rostock erinnert wurde.
Ich schmunzelte damals ziemlich überlegen in mich hinein, als ich im Sozialkundeunterricht hospitierte, wo eine ehemalige Staatsbürgerkunde-Lehrerin versuchte, die aktuellen Ereignisse für ihre sechzehnjährigen Schüler fassbar zu machen. Sie gab ihnen ein Zitat von Freud über den Aggressionstrieb – mit dem Unterrichtsziel, dessen bürgerliche Haltung als falsch zu erkennen, weil ja immer das Soziale, also Politische, also die Existenz eines rechtsradikalen Milieus, den Kern eines Konflikts darstellt. Eine Schülerin, erkennbar aus gutbürgerlichem Haus, meldete sich und meinte, Freud sei ja ein Arzt für Geisteskranke gewesen. Für Geisteskranke möge das ja stimmen, dass der Mensch an sich aggressiv ist. Für Normalbürger ergäbe das keinen Sinn. Und war sich unausgesprochen mit der Lehrerin einig, dass es die Faschos und die Ausländer sind, also die Abartigen verschiedener Coleur, die das Lichtenhagener Vorstadtidyll rings um das Sonnenblumenhaus zerstört haben.
Da wähnte ich mich auf der sicheren Seite, lächelte über die Leute, die nicht mal von Freud eine Ahnung haben, dessen Thesen schon seit hundert Jahren bekannt sind, aber vor allem verteidigte ich mit diesem Lächeln mein eigenes Neben-der Spur-Sein: Natürlich fühlte ich mich selber eher als „Fascho oder Ausländer“ denn als Lichtenhagener. Hatte einen Hass auf alles und die Spießer, insbesondere die ostdeutschen Spießer. (Und später, als ich das begriff und therapeutische Hilfe in Anspruch nahm, da war es ganz schnell klar, dass das nur eine klassische Psychoanalyse sein könnte, kein rationalistischer Verhaltenstherapie-Schnickschnack oder gar westdeutsch-modischer Bioenergetik-Quatsch.) Noch später, die Wogen glätteten sich langsam, las ich, dass Freuds These vom Aggressionstrieb tatsächlich überholt ist. Man weiß inzwischen, dass Aggression tatsächlich so eine Art Fehlfunktion ist, nämlich eine in der Sache verschobene Reaktion auf eine anderswo erlittene Demütigung. An sich eine ziemlich einleuchtende Erklärung; komisch, dass einen erst die Neurowissenschaft darauf hinweisen muss.
Es gab also keinen Grund, mich über die Stabü-Lehrerin und die ostdeutsche Schülerin zu erheben, aufgrund irgendeines gesicherten Wissens, nein, die hatten schon Recht. Ihre Argumente stimmten. Was nicht stimmte, das war der ideologische Zusammenhang, nämlich die Idee, dass der Mensch als solcher einfach nur den Normen gehorchen muss, und schon ist alles in Ordnung.
Denn wenn es so wäre, dann wäre ja tatsächlich der Mensch eine Maschine, wie es im 18. Jahrhundert schonmal jemand behauptet hat, dann wäre der Mensch nichts als eine sehr entwickelte Hardware, auf die die richtige Software einfach nur aufgespielt werden muss. Und dann wäre es in der Tat entscheidend, ob die richtige frühkindliche Frühförderung passiert und in den frühen Jahren, in denen sich das Gehirn bekanntermaßen entwickelt (also so ca. bis vier), möglichst viel und Sinnvolles auf die Festplatte gespielt wird. Ja, davon träumen sie, die von der Leyens und Linken – Gott sei Dank ist es nicht so, wenn mir dieser persönliche Hassausbruch gestattet ist.
Und vor allem: Wenn es so wäre, dann würde jeder Hardware-Fehler bedeuten, dass das betreffende Individuum minderwertig wäre. Dann wäre die Präimplantantionsdiagnostik nicht nur bei künstlicher Befruchtung sinnvoll, sondern immer.
Zum Glück wissen wir durch die Neurowissenschaft nicht nur, dass es den Aggressionstrieb nicht per se gibt und dass er praktisch von jedem durch Erlittenes erworben wird, wir wissen auch, dass erlerntes Wissen in den genetischen Code eingehen kann, und vor allem wissen wir, dass wir nicht wissen, welche Eigenschaften unserer Gattung langfristig nützlich sein werden. Kurz: Es ist alles komplizierter und weniger schwarz-weiß, als wir gemeinhin denken.
Also überlassen wir doch die strategischen Überlegungen Gott, der Natur oder wie auch immer wir das nennen wollen, misstrauen weiter den Datensammlungen im Schutt dieses Zwickauer Hauses, in Pullach oder bei Standards & Poor’s und orientieren uns weiter an der Liebe zu uns selbst und denen, die uns begegnen (und das sollten natürlich möglichst verschiedene sein).

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Montag, 16. Januar 2012
Spezifisch ostdeutsch
Viele Ost-Experten empören sich darüber, dass der Neonazi-Terror im Westen vielfach als ein spezifisch ostdeutsches Problem angesehen wird, und weisen gekonnt nach, dass so auch das eigene Entsetzen relativiert werden kann – indem man das Problem nach Osten abschiebt.
Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass dieses Phänomen schon eine ostdeutsche Komponente hat. Anders jedenfalls wäre es nicht zu erklären, dass die NPD in mehreren ostdeutschen Parlamenten sitzt, aber in keinem westdeutschen, ganz zu schweigen vom Zulauf für frei herumlaufende „Kameradschaften“. Sabine Rennefanz hat das in ihrem Artikel „Uwe Mundlos und ich“ sehr gut gezeigt. Sie hat auch gezeigt, dass das wohl weniger mit Sozialismus und Kindergärten als mit dem Umbruch von 1990 zu tun hat. Ja, man konnte schon abdriften nach 1990 als junger Ostdeutscher. Das ging mir damals auch so – und unterschied mich von meinen westdeutschen Freunden.
Was mich von meinen westdeutschen Freunden jetzt unterscheidet, ist, dass mich die Geschichte um die drei Jenaer Rechtsterroristen nicht nur schockiert hat, sondern auch weiter umtreibt – immer wieder durchforste ich das Internet nach neuen Meldungen (was ich wegen eines Wulff-„Skandals“ nie tun würde), will wissen, wer wem welche Gelder zahlte, warum keine der Konkurrenzunternehmen Verfassungsschutz und Polizei die Leute verhaftete, auch als sie ihren Aufenthaltsort kannten, und weshalb die Staatsanwaltschaft Erfurt nicht nur die Stasi im Fall Domaschk, sondern auch den Verfassungsschutz im Fall Mundlos schützte, als der Vater Mundlos gegen die Helfer seines Sohnes Anzeige erstattete.
Könnte es vielleicht sein, dass die Wahrheit auch ein linkes westdeutsches Selbstverständnis kränken könnte, ein Selbstbewusstsein machohafter Machtphantasien, das den linken Terrorismus insgeheim tolerierte , ein Schläger-Alphatier zum Außenminister machte und über die aufputschende Rolle der Geheimdienste in der ganzen Sache lieber nicht so genau Bescheid wissen wollte? Wird deshalb so gebetsmühlenartig der „Rechtsextremismus“ verdammt und nicht zuerst dessen Gewalt?
Was mich jedenfalls auf die Palme bringt, sind nicht irgendwelche von V-Leuten verfassten Ideologie-Papiere - es ist das kriminelle Netzwerk von Gewalttätern, deren Auftraggebern und Helfern, das die Behörden offenbar nicht zu fassen bekommen, weil die Ausläufer dieses Netzwerks längst bis in die Behörden hinein gewuchert sind.

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Freitag, 6. Januar 2012
Kleine Sprach-Kritik: Meint das grammatische Geschlecht auch ein biologisches?
Dass ich voreingenommen bin, merke ich daran, dass ich zu Trömel-Plötz immer Revolver assoziiere. Ich mag halt das revolutionäre Element daran nicht. Denn Revolutionen wachsen aus tatsächlich vorhandenen Ungerechtigkeiten, führen aber in der Regel nicht zu mehr Gerechtigkeit. Natürlich ist es ungerecht, dass sehr lange Zeit die männliche Form einer Bezeichnung (z. B. „der Politiker“) ganz selbstverständlich Männer und Frauen meinte – ja, man kann das sogar diskriminierend nennen, wenn man auf politische Katagorisierungen steht. Nur kann man dagegen nichts tun (Gott sei Dank – das wäre ja noch schöner, wenn man in der Realität bestehende Ungerechtigkeiten – wie hier die Ungleichbehandlung von Mann und Frau – in der Sprache einfach so wegreden könnte!) Jedenfalls funktionieren die vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten nicht: „Auszubildende“ und „Studierende“ statt „Lehrlinge“ und „Studenten“ geht bloß im Plural, also in der Masse, also in öffentlichen Zusammenhängen. (Man merkt das daran, dass das politisch unbrauchbare, private Wort „Liebling“ ganz selbstverständlich auch heute noch für Männer und Frauen Anwendung findet.) Und noch schlimmer ist es mit den Bäcker_innen oder BäckerInnen. Das funktioniert gar nicht, weil man es nicht sprechen kann, nur schreiben, und also nur in Positionspapieren oder anderem Zettelkram anwenden.
Die eigentlich gewollte Revolution, nämlich endlich geschlechtsübergreifende, neutrale Wörter zu finden, hat also nicht geklappt. Was geklappt hat, ist der zerstörerische Teil der Revolution: Männliche Formen werden heute nicht mehr geschlechtsübergreifend verstanden – man muss die Frauen immer extra dazu nennen. Herausgekommen bei der ganzen Kampagne ist also eine überflüssige Sexualisierung und vor allem: der Ausschluss weiblicher Personen aus den allgemeinen Begriffen und damit eine noch stärkere Normierung von Frauen als weiblich. Bis die Leute am Ende gar keine geschlechtsneutralen, allgemein menschlichen Eigenschaften mehr gelten lassen und allen Ernstes glauben, dass „Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“.

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Mittwoch, 4. Januar 2012
Um 20.15 Uhr ist Showtime ...
... und Schau-Prozesse mag ich nicht. Jedenfalls hab ich das Gespräch mit Wulff heute nach der Hälfte ausgemacht, es war zu peinlich: peinlich das sich windende Würstchen Wulff, noch peinlicher aber die scheinheilige Empörung der Journalisten. Ich meine, wer diese gespielte Entrüstung für echt hält, der glaubt auch, dass Wulff wegen besonderer Wohlanständigkeit zum Bundespräsidenten aufgestiegen ist.
Ich fühle mich von dem Affentheater auf Bildzeitungsniveau ringsherum verschaukelt, und es soll mir keiner, der dabei mittut, noch irgendwann mal wieder versuchen, den seriösen Politiker oder Journalisten vorzuspielen – kein Deppendorf, keine Roth und auch keine igitt Lengsfeld.

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Montag, 2. Januar 2012
Die Erlebniswelt unserer Kinder:
... volle Straßen, brennende Hochhäuser.

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Julia Francks Großmutter
Aus gegebenem Anlass heute mal wieder Erinnerungen aus realsozialistischen Zeiten: Ich las kürzlich, dass Julia Franck in ihrem neuen Roman „Rücken an Rücken“ aus Erinnerungen an ihre vor zwei Jahren verstorbene Großmutter schöpft, als Käthe hat sie sie abgezeichnet. Als Inge hat diese Frau auch in meiner Kindheit eine Rolle gespielt, denn sie war mit meinem Vater befreundet.
Inge war eine beeindruckende Frau, Bildhauerin, mit einem runden, schon faltigen Gesicht, leichtem Damenbart, leuchtenden Augen und rauer Stimmer: robust, direkt, herzlich. Das ganze Gegenteil zu mir, der damals ein schüchterner kleiner Junge war. Einmal, mein Vater feierte Geburtstag und die Wohnung war voller Gäste, hatte ich mich beim Spielen am Heiligen See völlig bemoddert und versuchte, von den Eltern unbemerkt ins Kinderzimmer zu kommen und mich umzuziehen. Die einzige Möglichkeit erschien mir das winzige offene Fenster über dem Klo. Ich war schon halb reingekrochen (das historische Haus hatte sehr dicke Außenmauern), da bemerkte ich, dass Inge auf der Kloschüssel saß. Sie war keineswegs verschämt oder peinlich berührt, sie sah nur verwundert hoch und brach in Lachen aus. Ich kehrte erschrocken um und ging nun doch schuldbewusst durch die Wohnungstür, begleitet vom Gelächter einer ganzen Geburtstagsgesellschaft.
Trotzdem war es immer schön, wenn Inge kam, mit Bunin, dem riesigen, weißen Hund (erst nach Jahren erfuhr ich, dass er nach einem russischen Schriftsteller heißen soll), mit ihr kamen Lachen, Leben, Großzügigkeit in unsere verängstigte DDR-Kleinfamilie, kamen Biermannschallplatten (einmal sogar Biermann selbst), kamen Fotokopien von Rudolf Bahros verbotenem Buch (es waren die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam - der Zettelstapel wurde von den Eltern ehrfürchtig gelesen und versteckt). Und wenn wir bei ihr waren, in ihrer riesigen Gründerzeitwohnung in Randberlin, meist aus Anlass einer Party, dann galten keine Kinderbettgehzeiten, dann stromerten wir Ewigkeiten durch Räume, Wintergarten, Atelier und Vorgarten, und die Eltern waren locker und gelöst wie sonst nie, und über allem hing ein Geruch von Knoblauch.
Inge hatte auch ein Sommerhaus an der Ostsee, das ihr aufgrund ihrer VVN*- und DDR-Elite-Zugehörigkeit zuteil geworden war. Das war ihr peinlich, und deshalb überließ sie es Sommer für Sommer all ihren Freunden zur kostenlosen Nutzung. Wir waren jeden Sommer da, verbrachten dort Bade-Ferien, die ich oft langweilig fand – erst später verstand ich, welchen Luxus ein solcher Strandurlaub jenseits der üblichen FDGB**- und Camping-Milieus bedeutet hatte. Und als mein Vater Anfang der achtziger Jahre die für leitenden Angestellte nicht unübliche IM-Verpflichtung verweigerte und als Strafe seinen Westreisekader-Pass verlor, da erbarmte sich Inge zwei Jahre später und sprach mit dem für sie zuständigen Stasi-Mann. Prompt durfte mein Vater wieder reisen und wusste selbst nicht, warum. Denn natürlich verriet sie ihm den Grund erst nach der Wende. Meine Schwester hat damals sogar geargwöhnt, mein Vater wäre irgendwie zu Kreuze gekrochen.
Womit Inge nichts anfangen konnte, das waren Schüchternheit und leise Töne. Meiner reservierten Mutter gab sie immer erstmal ein Glas Rotwein. Als mein Bruder, der zeitweise bei ihr zur Untermiete wohnte, um dem Studentenwohnheim zu entgehen, Besuch von einer Verehrerin erhielt, entsetzte sie sich über „das kümmerlichste Blumensträußchen, das ich in meinem Leben gesehen habe“. Und als ich in Pubertätszeiten mit den Eltern und der Welt in Konflikt geriet und entsprechend sprachlos und desorientiert wurde, lud sie mich einfach allein zu ihr ein, um mal über alles zu reden. Ich fuhr brav nach Berlin, obwohl ich wusste, dass das nichts bringt. Ich konnte und wollte so ein großherziges Angebot nicht ausschlagen, auch wenn es nutzlos war. Ich denke auch heute noch oft mit Sympathie an Inge. Und auch den Geruch von Knoblauch habe ich nicht aufgehört zu lieben.

* Verein für Verfolgte des Naziregimes, erlaubte einem, kostenlos Straßenbahn zu fahren
** Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, in der DDR hauptsächlich zuständig für Urlaubsreisen

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Freitag, 18. November 2011
Gegen das Vergessen
Nach ein paar Tagen des üblichen Ensetzens über die Rechtsterroristen und ihre V- und Verfassungsschutzfreunde (das diesmal auch mich erfasst hatte) beginnt jetzt offenbar die notwendig folgende Phase des Nicht-mehr-wissen-Wollens: Heute Morgen im Deutschlandfunk schob der SZ-Journalist Hans Leyendecker alles auf die Polizei ("Ermittlungsfehler" war sein Lieblingswort) und Innenminister Friedrich meinte, der Verdacht gegen den Verfassungsschutz sei "gestreut" worden, als säßen die eigentlichen V-Leute in den Medien.
Nun, ein Verdacht, der gestreut wurde, der lässt sich ja auch wieder zerstreuen, dazu wäre nichts weiter nötig, als die Wahrheit offenzulegen: Denn selbst wenn die nicht erfolgte Festnahme der drei Terroristen und ihr Untertauchen 1998 tatsächlich nur auf eine Fehlentscheidung der Polizei zurückzuführen sein sollten (wie Leyendecker sagt), bleiben noch einige Fragen: Warum hat der Verfassungsschutz nicht an die Ermitltungsbehörden gemeldet, dass Holger G. aus Niedersachsen nach einer Fluchtmöglichlkeit die Untergetauchten suchte? Wie kamen die Täter zu den professionell gefälschten Ausweisen? Was wollte der Verfassungsschutz-Mann am Tatort des Mordes 2006 in Kassel? Und warum mordeten die Täter nach dessen vorübergehender Festnahme nicht weiter? Warum kontaktierte im Sommer diesen Jahres ein V-Mann
die Ermittler mit einer Geschichte über die Tatwaffe? Und wie kam es überhaupt jetzt zu diesem merkwürdigen Selbstmord?
Für all das mag es Erklärungen geben. Nur: Ich will sie hören!

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Mittwoch, 26. Oktober 2011
Das erste Bier
Eigentlich gibt es keinen Grund, das erste Bier zu trinken. Sicher, es ist nicht schön, dass es schon dunkel ist, wenn die Teamsitzung endet, und dass dir der Magen hängt, weil es nur Fastfood zum Mittag gab. Aber du hast ja zum Handy gegriffen, hast dich vergewissert, dass Frau und Kind zu Hause warten, dass du nur schnell dorthin radeln musst, wo ein Abendbrot für dich bereit steht.
Trotzdem fährst du an der Tanke vorbei, nur für das Bier, klopfst an der nächsten verfügbaren Stahlkante den Kronkorken ab und lässt die ersten Schlucke in dich hineinlaufen. Denn im engeren Sinne, auf der Zunge, schmeckt das ja gar nicht, so ein Tankstellenbier. Aber im Magen, da breitet sich so ein wohilg-warmes Gefühl aus, ein bisschen wie beim Suppeessen, wo man als Mann und Fleischesser ja auch erst nicht so recht Appetit hat meistens, aber dann schnell der Behaglichkeit erliegt. Beim Bier kommt hinzu, dass es sofort auch im Kopf wirkt. Die Gassi gehenden Köter, die heute Morgen noch genervt haben, wirken jetzt im dunklen Stadtpark plötzlich wie magisch mit ihren Leuchthalsbändern; die Wolken, die Bäume, der Herbstgeruch umhüllen dich sanft und lassen dich in ein Vergessen fallen, das wunderbar nach „da sein“ schmeckt.
Schade nur, dass schon an der Hohen Luft wieder Klarheit herrscht im Kopf und man nur ein Malocher ist, der zu spät nach Hause radelt. Natürlich könnte man nachfüllen – wofür Bier allerdings ein recht langweiliges Mittel wäre, da schon lieber schrill und heftig Obstler oder elegant kommunikativ Wein. Oder, sollte man noch Freunde treffen, so ein langsames Party-Saufen, das einfach den Pegel hält und die Stimmung nicht absacken lässt. Aber das ist letztendlich Normalität. Das kann man immer haben. Nur dieses erste, einsame Bier, das einen sanft aus dem Alltag löst und in die eigenen Träume fallen lässt - das kann man nicht wiederholen.

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Sonntag, 18. September 2011
Wenns dem Esel zu gut geht, schickt Gott ihm eine Finanzkrise
Ich muss gestehen, dass ich grad gar keine apokalyptischen oder Untergangsgefühle habe, obwohl entsprechende Nachrichten täglich auf uns herab rieseln. Neulich kam mein Sohn morgens verschlafen in die Küche, und als ich hinzukam, meldete er: „Die bauen grade einen Rettungsfallschirm oder sowas – ich habs nicht ganz verstanden.“ Ich auch nicht, aber es geht mich auch nichts an. Vor ein paar Jahren, als mit der Leman-Pleite die große Panik ausbrach, haben in meinem Umkreis auch nur Leute Geld verloren, die welches überzählig und irgendwo geparkt hatten. Die Verlustängste derjenigen, die sowieso schon zu viel haben, muss ich doch nicht teilen.
Ja, ich weiß, das kann auch schlimmer kommen. Aber auch 1930/32 kam es, soweit ich informiert bin, zu keiner Hungersnot, jedenfalls nicht in dem Sinne wie nach dem Krieg, in den dann alle panisch gerannt sind. Jedenfalls in den Familien meiner beiden Großeltern, die nun alles andere als reich waren, da gab es wohl teilweise Arbeitslosigkeit und auch wirkliche Armut – aber durchgekommen sind sie alle irgendwie, als intakte Familien. Das schlimmste, was es damals gab, war wie gesagt die Panik, die so viele, Arbeiter und Industrielle, in die Arme der Nazis und damit wirklich in die Katastrophe trieb.
Es gab damals sogar etwas Gutes, das sich parallel zu den ökonomisch-politischen Katstrophen vollzog: Der überhitzte Modernismus der Golden Twenties kam aus der Mode, mit all seinen expressionistischen O-Welt-Schreiern, stattdessen traute sich Remarque endlich mit „Im Westen nichts Neues“ raus, und kurz darauf schrieb Anna Seghers ihre beiden großen Romane, die wohl modern waren, aber kein weltferner Experimentierkram à la „Berlin Alexanderplatz“, sondern menschlich und konkret. Die Malerei der Neuen Sachlichkeit verlor ihre Kälte. Und Bonhoeffer, eben noch abgehobener Theologie-Aufsteiger, entwickelte seine Vorstellung von der Erneuerung lebbaren evangelischen Glaubens.
Wäre das nicht schön: heute etwas Ähnliches?! Beim Film scheint es ja schon in diese Richtung zu gehen: Statt Rainer Werner Fassbinder sieht man Maren Ade, statt Volker Schlöndorff Fatih Akin. Jetzt müsste nur noch ... aber ich komme vom Thema ab, daher nur noch ein kleines Schlusswort: Dass ein Welt-Finanz-System, das keiner, aber auch keiner der Beteiligten je mit gutem Gewissen vorangetrieben hat, dass das nun auch den Boden der Tatsachen zusammenstürzt, darüber kann doch keiner wirklich böse sein.

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