Sonntag, 21. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 8
Cornelia war geschafft. Sie warf sich den Schaukelstuhl, die Kanne mit dem Saft und ihren Roman griffbereit. Dabei wusste sie, dass sie jetzt nicht lesen würde. Sie liebte die Arbeit mit dem Kinderchor, aber noch mehr liebte sie die schrägen Wände ihrer Wohnung ... das Klavier, das Bücherregal der Oma, die Postkarten und Zettel, die überall an die Tapete geheftet waren. Es war schon richtig gewesen, sich diesen Zufluchtsort zu schaffen, die kleine Dachwohnung überm Gemeindehaus. Eigentlich nur für diese schlaffen Stunden nach der Arbeit, da war sie sich selbst genug und wollte niemand sehen. Sie sah an sich herunter, wie sie im Schaukelstuhl fläzte, mit den lustigen gestreiften Sommerhosen, die runden Zehen guckten aus den Sandalen, unter dem T-Shirt zu ahnen das Wogen der Brüste. Sie wusste, sie war schön, aber was nutzte ihr das? Die Verehrung von Mitprovinzlern war es nicht, was sie suchte. Warum überhaupt hatte sie letztes Jahr den Küsterjob hier in Wismar angenommen, warum war sie in die winzige Stadt ihrer Geburt zurückgekehrt? „Sicher nicht, weil Pfarrer Schröder so gebettelt hat.“ Cornelia musste lachen, als sie merkte, dass sie laut gesprochen hatte. Sie stand auf und streckte sich. Natürlich war es die Orgel, die große Silbermannorgel. Auf der man so leicht, beinahe nebenher spielen konnte wie damals zu Hause auf dem Flügel, wenn Eltern und Bruder nicht da waren. Hier aber füllte sie den ganzen gotischen Kirchenraum mit ihren Tönen, selbst noch mit den leisesten, verhuschtesten. Die Momente, wenn sie die kühlen Porzellanknöpfe der Register berührte und im Handumdrehen eine Welt sich änderte, erregten sie noch jetzt in der plötzlichen Erinnerung. Sie rannte raus, über die Straße zum Pfarrhaus, um sich die Schlüssel zu holen, um noch ein bisschen zu üben.
Als sie die Straße zum zweiten Mal überquerte, nun mit den riesigen Kirchenschlüsseln in der Hand, fühlte sie sich so stark, so eins mit der Welt. Die Abendsonne ließ die Westfassade von St. Georg aufleuchten, ein riesiges Rot. Cornelia lachte, als sie davor eine magere Yuppiefrau erblickte, die mit forschem Schritt einen blauen Rucksack über den Platz transportierte. So ein Leben war ihr also erspart geblieben. Fünf Minuten später erdröhnte St. Georg unter den ersten Orgeltönen.

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Samstag, 20. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 7
Es warf sie in den Sitz zurück, aus dem sie gerade aufgestanden war, um sich noch einen Kaffee zu holen, so heftig bremste der Zug. Verdutzt blieb sie sitzen. Der Zug kam zum Stehen, natürlich war es irgendwo auf freier Strecke. Sie sah aus dem Fenster: das totale Nichts. Eine riesige Wiese, fast bis zum Horizont. Elektrodraht und eine leere Badewanne schienen auf die Nutzung als Weide zu deuten, aber Kühe waren keine zu sehen. Parallel zur Bahn zogen sich die Spuren eines Fahrwegs, der irgendwo rechts von der Bahnstrecke abbog und auf die Ansiedlung im Hintergrund zulief.
Neubukow? Wismar? Schon die Erinnerung an die Namen dieser Käffer ließ in Elke den Ärger wieder aufsteigen. Hoffentlich war es wenigstens schon Grevesmühlen gewesen, dessen heruntergekommenen Bahnhof sie vorhin durchfahren hatten. Nur keine Verspätung jetzt! Sie wollte unbedingt vor den anderen Gästen bei Klara sein. Und natürlich wollte sie raus aus Mecklenburg. Aber Schimpfen nutzte natürlich gar nichts. Betont ruhig stand Elke auf und holte sich jetzt doch noch einen Kaffee.
Aber als sie ihn ausgetrunken hatte und immer noch nichts passiert war, ließ sich die Unruhe nicht weiter unterdrücken. Auch an den Nachbartischen begann man zu tuscheln. Schließlich ließ sich nicht mehr verbergen, dass draußen irgendetwas vorging. Mehrfach waren schon Menschen am Zug auf und ab gegangen. Jetzt sah Elke einen älteren Mann in einer glänzenden Lederjacke neben der Badewanne stehen, der mit wichtiger Miene in sein Handy sprach. Offenbar ein Polizist. Jedenfalls irgendein Offizieller, sie kannte die Typen. Plötzlich erkannte sie auch die Stadt: Es war die Silhouette von Wismar. Elke war oft dort gewesen, damals, als diese Lederjackenträger noch das Sagen gehabt hatten. Na ja. Der Handy-Mann jedenfalls hatte inzwischen Verstärkung bekommen, sie standen jetzt zu zweit an der Kuhtränke und schienen irgendwelche Pläne zu entwickeln. Währenddessen stieg um Elke herum im Speisewagen der Geräuschpegel, Flüche auf die Bundesbahn wurden laut, man begann sich gegenseitig mit Berichten wilder Eisenbahn-Abenteuer zu traktieren.
Endlich erschien der Schaffner. Man konnte seinem Gesicht ansehen, dass er den Wagen am liebsten wortlos durchquert hätte, obwohl er wusste, dass das unmöglich war. Er begegnete den Fragern mit ausweichenden Floskeln, murmelte irgendwas von „Personenschaden“ und „längerer Wartezeit“ und vermied es, konkrete Aussagen über Verspätungen und Anschlusszüge zu machen. Als er weiterging, schwoll der Lärm sofort wieder an. Mehrere laute Männerstimmen überboten sich in der Deutung des Gehörten: „Ein Selbstmörder! ... Das kann Stunden dauern! ... Also, das hab ich erst vor zwei Monaten ... ja, aber erst muss die Spurensicherung ...“
Auch in Elke überschlugen sich die Gedanken. Sie begriff, dass sie heute nicht mehr nach Hamburg kommen würde – oder erst sehr, sehr spät. Ihr ganzer Plan war hinfällig. Gleichzeitig brachte sie aber auch dieser Vorfall hier ziemlich durcheinander. Immerhin war da grade ein Mensch gestorben. Was bedeutete da im Vergleich noch ihre Sommerparty? Jedenfalls fand sie es ziemlich unwürdig, wie die Leute um sie herum reagierten. Dieses Gemecker und wichtigtuerische Gerede, während man brav abwartete. Und als dann die offizielle Lautsprecherdurchsage kam und auch nicht mehr zu melden hatte als der Schaffner mit seinem verkniffenen Gerede vom Personenschaden, da wurde sie richtig wütend. Am liebsten hätte sie ihre Sachen geschnappt und wäre einfach ausgestiegen. Aber wohin? Draußen war inzwischen alles voll Polizei. Und dahinter eine Kuhwiese und die Türme von Wismar. Da fuhr heute sicher kein Bus mehr nach Rostock. Elke sehnte sich plötzlich heftig nach ihrer Wohnung. Hamburg spielte überhaupt keine Rolle mehr. Sie musste jetzt einfach durchhalten, bis das hier überstanden war.
Der Selbstmörder allerdings, der hatte auch nicht durchgehalten. Der hat wirklich Mut bewiesen, dachte sie, denn sie sah es plötzlich bildlich vor sich, wie er am Bahndamm gehockt haben musste. Und dann sie sah sich selbst neben diesem Michael im Café hocken, der nichts von ihr wollte. Das war unwürdig! Wenn sie ihm heute wieder begegnet wäre bei Klaras Party, dann hätte sich die Peinlichkeit nur wiederholt, dann hätte sie wieder so neben ihm gehockt, reglos wie ein Kaninchen. Und das wollte sie nicht mehr, einfach so hocken bleiben, da war sich Elke auf einmal ganz sicher. Sie stand auf, nahm ihre Sachen und ging.
Es gab ein knirschendes Geräusch, als sie vom Trittbrett auf das Schotterbett des Bahndamms sprang. Ein paar Beamte blickten verwundert auf und starrten sie an. Aber dann sahen sie auch schnell wieder weg. Auch Elke sah niemanden an. Sie ging einfach an den Leuten vorbei, sie folgte dem Fahrweg, der auf die Stadt im Hintergrund zulief. Natürlich hatte sie furchtbare Angst, angehalten zu werden, nach ihrem Ausweis gefragt zu werden und was sie denn vorhätte. Aber nichts dergleichen geschah.
Sie passierte einen Streifenwagen und das Fahrzeug eines Beerdigungsinstituts, die sich vor den Augen der Zugpassagiere hinter einer kleinen Baumgruppe versteckt hatten. Beide unbemannt und mit offenen Türen. Dann lief sie den Feldweg entlang, bis er zwischen Gärten in eine kleine Straße mündete, die auch vereinzelt Wohnhäuser aufzuweisen hatte: die Gartenstraße. Natürlich wusste sie, wo sie war. Sie musste jetzt nur noch zehn Minuten hier die Straße runter, über den kleinen Platz an der Georgskirche und dann nur noch ein paar Meter am Kanal entlang.

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Freitag, 19. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 6
Johannes blieben noch zwei bis drei Minuten, bis der Zug nach Hamburg hier vorbeikommen müsste. Er widerstand der Versuchung, Hamburger Erinnerungen nachzuhängen, die jetzt aufblitzten, diese Hochhausparty, wo ihn das Geburtstagskind geküsst hatte, das so breites Hamburgisch sprach. Er ging noch einmal seine Liste durch: Eltern und Schwester waren mit einer Legende versehen, die sie für mindestens drei bis vier Tage in Sicherheit wiegen würde. Und sonst wusste ja keiner, dass er überhaupt in Wismar gewesen war. Ada würde sich erst in einer Woche Sorgen machen. Wichtiger war allerdings, dass ihn hinterher keiner erkennen könnte. Ausweis oder Schlüssel hatte er nicht dabei. Auch sonst nichts Persönliches. Die Arbeitssachen, die er trug, stammten noch aus Praktikumszeiten, also noch von vor der Wende, aus Demmin, er hatte sie jahrelang nicht getragen und kannte eigentlich keinen mehr, der ihn darin gesehen hatte. Es konnte nichts schief gehen. Trotzdem war ihm mulmig, als die Gleise zu vibrieren begannen. Johannes hockte direkt am Bahndamm, die Hände seitlich am Schotterbett. Die Lokomotive kam näher, raste direkt auf ihn zu. Johannes spannte die Muskeln an, dann sprang er nach oben. Für einen Moment glaubte er das erschrockene Gesicht des Zugführers zu sehen, dann gab es einen Lichtblitz.

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Donnerstag, 18. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 5
Das war wirklich in letzter Sekunde, als Elke mit ihrem Mountainbike angerast kam – die Einfahrt des Zuges war schon angekündigt, die Leute schulterten bereits ihre Rucksäcke, brachten die Koffer in Positur. Ein Pärchen mit schwer bepackten Fahrrädern eilte den Bahnsteig nach links, wo sie den Gepäckwagen vermuteten. Elke schloss ihr Gerät in die Fahrradbox, die sie schon vor längerer Zeit gemietet hatte, und stürzte sich ins Gewühl. Der Zug war inzwischen schon da, fast niemand stieg aus, dafür umso mehr ein.
Natürlich war das Abteil bis auf den letzten Platz belegt. Elke fühlte sich bedrängt, da nutzte ihr der reservierte Fensterplatz gar nichts. Die selbstgeschmierten Stullen um sie herum, diese fremden Privatgespräche direkt neben ihrem Ohr, die nervigen Kinderstimmen – als jemand die Schuhe auszog und sich zum Schlafen in eine Ecke drückte, floh sie in den Speisewagen. Gut schmeckte der Kaffee nicht, aber er wurde in einer Porzellantasse serviert, und er berechtigte sie, hier zu sitzen, an einem Tisch mit Tischtuch und ohne Gegenüber. Sie sah raus auf die Wiesen und Weiden ihrer Heimat. Es war schon gut, mal für einen Tag rauszukommen aus dem Trott.
Das halbe Jahr in Hamburg hatte sich im Nachhinein überhaupt als die Rettung herausgestellt. Die wesentlichen Leute, also die sie wirklich akzeptierte, hatte sie doch in den Wochen am Rothenbaum kennen gelernt. Vor allem Klara. Elke verstand selbst nicht, weshalb sie Klara so selten besucht hatte. Mangel an Zeit konnte es eigentlich nicht sein; sicher arbeitete sie viel, aber an den Wochenenden hing sie meistens allein zu Hause und setzte sich abends vor den Fernseher. Und wenn sie ehrlich war, fuhr sie auch jetzt nur zu Klaras Sommerparty, weil dort dieser Michael auftauchen sollte. Was hatte sie ihn umgarnt in ihrer Hamburger Zeit! Aber zu mehr als zu zwei, dreimal Kaffeetrinken war die Sache nie gediehen.
Jetzt freute sich Elke. Sie dachte an das fröhliche Sommerkleid, das sie extra gekauft hatte und das jetzt in ihrem blauen Rucksack auf seinen Einsatz wartete, zusammen mit einer Flasche Prosecco und einem kleinen Geschenk für Klara. Sogar Kondome hatte sie eingepackt, obwohl sie daran gar nicht dachte. Denn eigentlich, sagte sich Elke und musste schon wieder lächeln, denk ich nicht weiter als bis zu dem Moment, wo Klara die Tür öffnet. Die weltgewandte Freundin würde sie aufnehmen. Sie könnte ihr noch ein bisschen in der Küche helfen und dann ihr Bad benutzen, um sich schön zu machen und in das neue Kleid zu schlüpfen. Den Rest würde Klara besorgen. Es konnte nur gut werden.

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Mittwoch, 17. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 4
Wismar. Wieder zu Hause. Es war komisch, er kannte jeden Pflasterstein auf diesem Bahnsteig, erst im Frühjahr war er das letzte Mal hier angekommen, aber diesmal war alles anders. Noch nie hatte Johannes zuvor gespürt, was es bedeutet, Heimatboden zu betreten. Es hatte ihn durchzuckt, in dem Moment, als er von der letzten Stufe des Waggons gesprungen war. Der Zug ruckte an, verließ den Bahnhof, ihn zog es in die andere Richtung. Gerade noch konnte er den eben abgesetzten Rucksack ergreifen, da trugen ihn seine Beine schon vorwärts, die Treppe hinab, aus dem Bahnhof, durch die Stadt. Warum war er hergekommen, unangemeldet, ohne Grund. Johannes versuchte sich an dem Postkartenblick auf die alte Wasserkunst festzuhalten, als er über den Marktplatz trieb. Vergebens. Schon stand er vor dem Elternhaus. Er sah, wie sich durch seine Hand die große Haustür öffnete, wie ihm die weißen Marmorstufen des Treppenhauses entgegenlachten. Hier hatte er doch immer so gern im Kühlen gesessen als Kind, und die Windmühle im Glasfenster im ersten Stock war sein Freund. Jetzt stieg er einfach vorbei, nur aus den Augenwinkeln sah er, dass auch sie sich abwendete.
Die Eltern waren natürlich zu Hause, auch Cornelia, seine Schwester, obwohl sie doch eine eigene Wohnung hatte. Offenbar hatten sie gerade den Braten vom Tisch geräumt und wollten zum Nachtisch übergehen. Die drei wirbelten durcheinander, es war schön, sie so erfreut und überrascht zu sehen. ‚Haltet mich fest.’ dachte Johannes. Er hinderte die Mutter, die ihm eine Scheibe Fleisch aufwärmen wollte. Nur bei den anderen sitzen und zuhören, dazugehören. Der Superintendent hatte also seinen uralten Streit mit Pfarrer Schröder noch immer nicht beendet. Dieses Jahr ging es offenbar um die Reparatur des Turmdachs von St. Georg. Johannes ließ sich von der Mutter noch ein bisschen Sahne geben und rührte sie in sein Kompott. Er hätte gern mit ihr auch so ein Thema gehabt, wie jetzt Vater und Tochter, die sich gerade in Einzelheiten des innerkirchlichen Dienstgefechts von Wismar vertieften.
Aber er hatte kein solches Thema. Nach dem Essen musste Cornelia eilig los, sie hatte noch zu arbeiten, Papierkram zu erledigen drüben im Gemeindehaus und später den Kinderchor. Auch Johannes hielt es nicht in der Wohnung; er ging hoch, in die Bodenkammer, die in seiner Oberschulzeit und fast noch das ganze Studium sein geheimes Reich gewesen war. Seine Mutter fragte sich, was er da wohl zu kramen hatte, wo die Schränke vollgestopft waren mit alten Comics und nie wieder gelesenen Vorlesungsmitschriften und seine Rockmusikposter, die Schallplattensammlung und das längst leer stehende Aquarium immer weiter einstaubten. Sie hätte gern mehr über Berlin erfahren, aber Johannes erzählte ja nichts. Sie wusste nur, sie durfte ihn in seiner Bodenkammer nie stören.
Am späten Nachmittag kam er runter. Auf Antrag der Mutter wurde Tee getrunken. Da saßen die drei nun zusammen und waren verlegen. Johannes erzählte wohl dies und das, auch was er die nächsten Tage vorhätte. Aber irgendwie passte alles nicht zusammen. Auch Johannes’ Vater verstand gar nichts. Er kam sich alt vor, wenn er ihm zuhörte, und sein Sohn kam ihm noch älter vor. Mit Cornelia hatte er solche Probleme nicht. Johannes dagegen ... so formlos wie die Frisur, so verschwommen erschienen ihm die Pläne seines Sohnes. Fühlte er sich wirklich wohl damit? Man konnte es kaum glauben.
Johannes sagte aber „Ja“ und wirkte auf einmal ziemlich entschlossen, er sagte „Macht euch keine Sorgen!“ und „Bis nächste Woche! Passt auf meinen Seesack auf!“ und umarmte beide nacheinander so liebevoll, wie man es von ihm gar nicht kannte. So ließen sie ihn denn ziehen auf die nächste seiner windigen Unternehmungen. So war er halt.
Johannes ging also los, denselben Weg zurück durch die Stadt. Er kam wieder am Markt vorbei, dann auch an dem Gemeindehaus, in dem Cornelia jetzt über ihren Abrechnungen saß, immer weiter stadtauswärts, die endlose Gartenstraße entlang, wo die Bebauung schon spärlich wurde, und verschwand endlich zwischen den Kleingärten am Rande von Wismar.

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Halt auf freier Strecke, Teil 3
„Spinne! Eine Spinne bist du! Du hockst in deinem Netz und ziehst an den Fäden, und alle können sie tanzen, die Freundinnen, die Frau Mama, deine Dozenten von der Uni ... Aber ich nicht, ich nicht! Lass mich in Ruhe!“ Was war das? Ada konnte es nicht fassen. „Wer hockt im Nest? Das bist doch wohl du! Ist doch sehr bequem, immer eine Übernachtung in Berlin!“ Aber er hörte überhaupt nicht hin. „Vergiss es, Ada! Ich kenn das gut, ich kenn das sehr gut, das hab ich lang genug gehabt – immer hübsch zu Hause bleiben. Mein Ohrensessel ist das Zentrum der Welt. Und mit Berlin ... was weißt du denn von Berlin? Warst du schon mal in Spandau? Du kennst doch nur die S-Bahnfahrt zur Uni. Und zu deiner Nicole!“ – „Was hast du gegen Nicole?“ – „Mir ist das zu eng, Ada! Einfach zu eng.“ - „Wenn dir das zu eng ist, was wir zusammen gemacht haben, die Lesung von Salman Rushdie, und das Theatertreffen, das fandest du doch alles so toll, das schiebst du jetzt einfach so weg, du willst mich doch nur beleidigen ...“ Sie stockte. „Wahrscheinlich fandest du’s zu eng in meinem Bett.“ Und dann leiser: „Du kannst gehen, wenn du willst. Es hält dich niemand fest, Johannes.“

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Dienstag, 16. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 2
Wie damals, sagte sich Ada, als die Flasche halb leer war, vorigen November, als Nicole sie aufgesammelt hatte. Da hatte sie auch mit ihrem Wein auf dem Balkon gestanden, im Wintermantel und mit dem dicken Schal. Stundenlang hatte sie den gelben S-Bahnfenstern zugesehen, die hinter dem Spielplatz durch die Dämmerung rauschten und von Bahn zu Bahn heller wurden vor immer dunklerem Hintergrund. Während hinter ihr ihre eigene Wohnung in Düsternis versank. Eingesperrt, ausgesperrt. Damals hatte Nicole sie gerettet, als sie an der Wohnungstür klingelte. Und sich nicht wunderte, sondern den Mantel gleich anbehielt und zu ihr auf den Balkon kam. Irgendwann während der zweiten Flasche hatte sie gesagt: „Lass uns doch einfach ans Meer fahren. Ich habe eine Freundin in Rostock.“ Das hatte Ada sofort eingeleuchtet: Warnemünde im November, Spaziergänge am leeren Strand, Seeluft, Grogtrinken und neblige, dunkle Heimwege – eben mal raus aus Berlin. So hatte sie Johannes kennen gelernt.
Natürlich war es erst nicht so romantisch gewesen. Mit Nicoles Freundin war sie gar nicht klargekommen, eine richtige Zicke, Medizinstudentin. Und die ganze Zeit Regen. Sie saßen fest in der Wohnung, so einer typischen Ost-Studentenbude. Dünne Wände, ein enges Treppenhaus, Klo im Keller. Elke, so hieß die Wohnungsbesitzerin, hatte mit den üblichen Mitteln versucht, die Ärmlichkeit der Räume zu kaschieren. Überall hingen Bauhaus- oder August-Macke-Poster, die Dielen bedeckten die unvermeidlichen vietnamesischen Bastmatten. Und mitten drin die spröde Elke, die einen Stolz an den Tag legte, für den kein Grund bestand. Fand jedenfalls Ada.
Samstag Abend fuhr Elke nach Wismar. Sie tat sehr geheimnisvoll, aber wahrscheinlich wollte sie nur der Situation entfliehen. Jedenfalls waren Ada und Nicole endlich allein, vielleicht konnte es doch noch Wochenende werden. Da es immer noch regnete, bestellten sie Pizza und inspizierten dann die Wohnung. Lasen sich gegenseitig aus den oberlehrerhaften Texten auf den Amiga-Jazz-Schallplatten vor, testeten das Ikea-Bett auf Quietschgeräusche in Sex-Nächten und die Dusche „Ahlbeck“ auf die Fähigkeit, eine konstante Temperatur zu halten. Nicole schlug vor, den mageren Kultur-Teil des Bücherschranks zu interpretieren. „Was sucht dieses Buch übers Scheunenviertel zwischen einem Bildband über New York und einem schick illustrierten Kamasutra?“ – „Die große weite Welt.“ antwortete Ada. „Tja: ‚Anämie hatse und blutarm isse auch.’“ – „Wie?“ – „Steht hier unter der Karikatur. Sag mal, soll das Elke sein?“ Natürlich sollte es Elke sein, aber die war ja Gott sei Dank weg, irgendwo draußen im Dauerregen der mecklenburgischen Novembernacht. Und Nicole und Ada, als sie genug getrunken hatten, schliefen einfach ein im Doppelbett, Arm in Arm und ausnahmsweise glücklich.
Am Sonntag tröpfelte es nur noch. Sie beschlossen, zum Strand zu fahren. Es war noch niemand auf den Straßen und auch die S-Bahn ganz leer; die beiden Freundinnen stapften in Warnemünde an der alten Fahrt entlang, vorbei an geschlossenen Kneipen und Geschäften, besahen sich die Boote im trübe schwappenden Wasser, die regennassen Vertäuungen, die sie am Ufer hielten, und langweilten sich so wunderbar, als wären sie schon drei Wochen im Urlaub. Vor dem Schaufenster eines Schallplattenladens gabelte Nicole Johannes auf. Ein langhaariger junger Mann im Parka, nach dem Outfit hatte Ada den Eindruck, dass er schon zehn Jahre so hier herumstand.
Es war schon komisch, das sie sich auf Anhieb so gut verstanden. Vielleicht lag es daran, dass auch Johannes nichts zu tun hatte – er war zu Besuch bei seiner Schwester, die ein Praktikum in Warnemünde machte, irgendwas bei der evangelischen Gemeinde. Jedenfalls sagte er „Nein“, als ihn Nicole nach dem gemeinsamen Strandspaziergang fragte, ob er denn nicht nach Hause zu seiner Schwester müsste, und er blieb den ganzen Tag bei ihnen. Ada tat das wohl, und es tat ihr ein bisschen weh, wie rücksichtsvoll sich Nicole ihrem Wohlgefühl unterordnete. Als ob sie eine Genesende wäre! Dumme Nicole! Sie war so stark gewesen an diesem Abend, und als sie zum Schluss noch zu dritt einbrachen in die christliche Dachkammer von Johannes’ Schwester und die ganzen selbstgebackenen Kekse wegfutterten, da hatte sie doch schon längst kapiert, was mit ihr passiert war und was sie jetzt tun musste. Sie hatte sich noch nie für Männer ihres Alters interessiert, die keinerlei Ambitionen haben, aber den hier, den wollte sie haben. Also nahm sie den Kampf auf, es wurde viel gelacht und zum Schluss auch viel geküsst.
Nein, die Geschichte hatte wirklich nicht schlecht angefangen. Ada lächelte. Sie besah sich das Restchen Wein in der Flasche. „Ach, für nachher.“ Und ging wieder ins Zimmer. Inzwischen stand die Sonne niedrig, war schon hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile verschwunden, die Wohnung lag im Schatten. Plötzlich war es ihr wieder gegenwärtig, der Dämmerabend, als sie ihn das erste Mal hier in ihre Wohnung gelockt hatte. Wie er dastand und sich verängstigt umsah, als ob er in jeder verschatteten Ecke ein Monster witterte. Ein flinkes Wald- und Wiesentier, mit aufgerissenen Augen, das ist er immer geblieben, ein Wiesel im Wohnzimmer. So eine Art kleines Zittern lief oft durch seinen Körper, ein hastiges, leises Atmen, das sie jedes Mal unvermeidlich erregte. Er musste wiederkommen. Ada stieß die Fenster auf und steckte den Kopf in den Abendhimmel, dann räumte sie seufzend das Geschirr in die Küche, goss sich ihr Restchen hinter die Binde und kuschelte sich ins Bett.

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Dienstag, 16. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 1
Es war schon ein komisches Licht an diesen Sommernachmittagen. Manchmal konnte man kaum noch was erkennen auf dem Computerbildschirm, weil die Sonne schon fast horizontal ins Zimmer schien. Ada hätte ja ein bisschen an den Vorhängen ziehen können, aber noch mehr einsperren wollte sie sich nicht. Es war schon pervers genug, dass das Semester im Juli endete und mit ihm die Frist für die Abgabe der Hausarbeiten. Tag um Tag saß sie nun vor diesem Bildschirm. Viel zustande brachte sie nicht. Das war auch nicht zu verlangen - gestern hatte sie sich wieder mit Johannes gestritten, diesmal noch heftiger als sonst. Und wie immer hatte es damit geendet, dass er wortlos verschwand. Das würde wahrscheinlich wieder eine Woche dauern, mindestens, bis sie erfuhr, wo er sich diesmal verkrochen hatte. Dabei brauchte sie Johannes gerade jetzt so dringend.
Ada stellte den Computer ab, es hatte doch keinen Zweck. Gern wäre sie jetzt irgendwo draußen gewesen. Aber sie konnte ja niemanden unter die Augen, so wie sie jetzt aussah. Und vor allem wollte sie es nicht. Lieber zu Hause eine Flasche Wein aufmachen, ganz allein. Sie ging zu ihrem ganz persönlichen Reservoir in der Küche, nahm sich auch ein Glas und einen Korkenzieher mit und versuchte es sich auf dem winzigen Balkon bequem zu machen. Vielleicht könnte sie nachher weinen.
Natürlich war der Streit fällig gewesen. Die Freundinnen hatten ja schon zu lachen begonnen über den schmalen, blonden Schweiger, der da seit Wochen in ihrer Wohnung umhersaß, ohne einen Ton zu sagen. Man musste doch wissen, woran man war. Diese wortlose Harmonie war einfach nicht zu ertragen gewesen.
Am Anfang war er immer nur an den Wochenenden nach Berlin gekommen. Hatte irgendwann am Freitagabend vor ihrer Tür gestanden mit seinem Seefahrerrucksack und seiner Gitarre. Wie ein Täuferjüngling mit seinen langen lockigen Haaren, so still und so dringlich. Und war am Sonntag verschwunden, wie er gekommen war, mit Sack und Pack und einem verhuschten Gruß: „Ich muss los.“ Als aus den Wochenenden halbe Wochen und dann ganze wurden, war es ihr erst unheimlich. Die Wohnung war einfach zu klein, sie fühlte sich beobachtet. Beim Saubermachen oder wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte. Und wenn Silvia und Nicole plötzlich in die Wohnung einbrachen und die halbe Nacht blieben, das war nicht halb so schön, wenn er nebenan schlief. Manchmal hätte sie ihn am liebsten rausgeschickt, aber musste sie nicht Angst haben, ihn dann für immer zu verlieren? Ada wusste, es liegt an der Wohnung. Ausflüge waren ihnen nie gelungen, eine Auto- oder Bahnfahrt war gleichbedeutend mit Streit. Selbst bei gemeinsam besuchten Partys lief es in der Regel darauf hinaus, dass er „dann schon mal nach Hause“ ging und ihr am nächsten Morgen ein Katerfrühstück ans Bett brachte. Johannes war ein wunderbarer Koch. Adas Küche war der Raum, wo er sich zuerst eingenistet hatte. Und es war der Raum, wo sie zum ersten Mal begriff, dass sie es liebte, ihn um sich zu haben. Er durfte sogar ans Weinregal.
Aber nun standen die bösen Worte im Raum. Hier mitten im Zimmer war es passiert, dass sein Mund aufging und diese hässlichen Sätze herausließ. Das war schon was andres als ihre üblichen Freiluftstreitereien. Als er im April in der Wuhlheide sich einfach in einen Seitenweg geschlagen hatte, statt ihr zu antworten, und eine Woche später aus Dresden anrief, da hatte sie ja ihre Wohnung gehabt solange, ihre Freundinnen, ihr Weinregal. Jetzt war es ernst. Denn es war ihre Wohnung, ihr Zimmer, in der jetzt alles nach seinen Aggressionen, nach seinen fixen Ideen roch. Was hatte sie mit seiner Erziehung zu tun, mit irgendwelchen lange vergangenen Konflikten in der mecklenburgischen Provinz. Wie ausgesperrt saß Ada auf dem Balkon. Sie sah runter auf den Kinderspielplatz, auf die S-Bahn im Hintergrund, sie war verlassen von aller Welt.

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Eine neue Geschichte
Vor ein paar Tagen las ich bei "Mumien, Analphabeten, Diebe" die Klage, dass grad rein gar nichts los ist bei den Bloggern. Ich fühlte mich angesprochen: Ja, so ist es - es stockt. Meine Geschichte über die Arbeit mit den Analphabeten in ... - die geht einfach nicht weiter, und ich werd sie auch nicht zuende schreiben. Muss auch nicht. Wenn nur die echte Arbeit mit den Analphabeten weitergeht. Ich freu mich schon auf morgen - nach heute, Bürotag plus zwei Stunden mit gelangweilten Hartz-IV-Jugendlichen, darf ich morgen Gott sei Dank wieder im Alphabetisierungskurs sein.
Was aber das Schreiben betrifft: Nun, die Schublade ist noch voll genug, und wenn keine Zeit und kein Gehirnschmalz für neue Text da ist, werden erstmal die alten verbraten: Es folgt eine kleine Webnovela mit dem titel "Halt auf freier Strecke", die ich Ende der neunziger schrieb. Und wer würde das nicht gern: einfach auf freier Strecke anhalten und alles abbrechen?

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Donnerstag, 4. Juni 2009
Illustration 2 zu "Mein Lieblingsfilm"
Und davon war ich gebannt: Egoyans Ehefrau Arsinee Khanjian balanciert auf den Ruinen ihrer Vergangenheit

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Illustration 1 zu "Mein Lieblingsfilm"
So ungefähr saß ich damals vorm Fernseher:

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Kulturkritische Anmerkung zu "Mein Lieblingsfilm"
Es gilt zu bedenken, dass nach den Juden die Armenier das zweite grundsätzlich heimatlose Volk sind - jedenfalls zum überwiegenden Teil - (dann gibt es natürlich noch die Palästinenser, die Kurden usw.): Sie sind notgedrungen schon längst in der Globalisierung angekommen. Von ihnen gilt es zu lernen.

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Mein Lieblingsfilm: "Calendar"
„Simons Geheimnis“ von Atom Egoyan kam im Kino und enttäuschte mich etwas. In der ersten Viertelstunde hatte ich gar sogar den Eindruck, in eine blöde Politposse in der Preislage von „Die Welle“ geraten zu sein. Dann wurde es besser: ein kluger, sympathischer Film und auch wieder herrlich abstrus – aber eben doch nicht der große Wurf.
Ich erinnerte mich aus diesem Anlass an meinen ersten Egoyan-Film – und sah ihn auch nochmal. Es war 1993 und ich war als Student in einem SouterrainZimmer in Westdeutschland gelandet, wo ich die Nächte hindurch die Cineasten-Programme der Öffentlich-Rechtlichen verfolgte und jeden Dienstagabend vor dem „Kleinen Fernsehspiel“ saß. Da kam er, dieser eigentlich unmögliche Film: der ohne eigentliche Handlung auskommt, in dem 14 Sprachen gesprochen werden (und nur das Englische ist untertitelt) und den zwölf wunderschöne Kalenderblätter als so genannte Stills strukturieren – Kalenderblätter mit Aufnahmen armenischer Kirchen, dazwischen erzählen wackelige Videoaufnahmen, in denen jemand willkürlich vor- und zurückspult, wie die Fotos entstanden, und zwölfmal sieht man als Kontrast den Fotografen ein Jahr später in seinem kalt und künstlich ausgeleuchtetem Wohnzimmer in Kanada vor dem Kalender sitzen und leiden.
Ich begriff vor diesem Film alles: Dass alles verloren hat, wer sein inneres Armenien verloren hat. Dass es aber keinen Zweck hat dorthin zurückzugehen. Denn es sieht zwar wunderschön aus, aber es ist so arm und autoritär wie eh und je. Und dennoch: Wer es verleugnet, der wird in der Eiseskälte der westlichen Welt erfrieren.
Die Helden des Films sind die Frauen. Zwölf Frauen. Sie sprechen armenisch, deutsch, türkisch, serbokroatisch usw. Sie tragen die Erinnerung an die Heimat mit einem Stolz durch den anglophonen Westen, der sie zu den eigentlichen Westlerinnen macht. „Was heißt, du betrachtest dich als Ägypterin?“ fragt der Fotograf eine der Frauen, die gar nicht in Ägypten geboren ist, nur einen Großvater von dort hat. Es heißt Stolz, Erinnerung. Nicht Regression. Nicht Ostalgie.

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Meine Lieblingsfilme (eine kleine Auswahl)
Lieblingsfilme hatte ich schon viele – da könnte ich zurückgehen bis zu „Pan Tau“, dem Beschützer aller Kinder, der aber schon bald von „Saxana“, dem „Mädchen auf dem Besenstiel“ abgelöst wurde, als mit den ersten Schulerfahrungen die Existenz des weiblichen Geschlechts als solchem in mein Bewusstsein trat.
Und so ging es weiter: Als ich mit 17 die Politik für mich entdeckte, war es dann „Vermisst“ von Costa-Gavras – und Sissy Spacek als blasser Hippie die schönste Frau der Welt. Die realen Begegnungen mit Frauen dann eher desaströs – aber es gab ja Gott sei Dank Michel Serrault, der sich von Lino Ventura einfach nicht unterkriegen lässt, und ich erklärte „Das Verhör“ zum Filmkunstwerk Nr. 1.
Gut zehn Jahre später, immer noch zappelnd in postpubertären Verstrickungen, rettete mich „Lost Highway“ aus der beamtenmiefigen Tristesse eines Staatlichen Studienseminars in der niedersächsischen Provinz, wo ich mich schon fast aufgegeben hatte: Wenn diese – Lynchs – Art der Weltsicht sogar hollywoodkompatibel ist, sagte ich mir, dann bin ich vielleicht doch nicht so verkehrt in dieser Welt.
So retten einen Filme, und so verwechselt man Qualität manchmal auch mit der persönlichen Gefühlslage. Ich hab sogar mal (unter dem akuten Eindruck einer Psychotherapie) zwei Jahre lang geglaubt, „Mulholland Drive“ wäre noch besser als „Lost Highway“. Natürlich ein Irrtum. Und seit „Brokeback Mountain“ ist ja auch „Das Hochzeitsbankett“ nicht der Weisheit letzter Schluss.
Ein Film aber, und das erstaunt mich fast, der bleibt: „Calendar“ von und mit Atom Egoyan aus dem Jahr 93. Ich hab ihn aus aktuellem Anlass wieder gesehen letzte Woche, von derselben schraddeligen alten Videokassette – und er ist noch immer großartig.

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Montag, 25. Mai 2009
Heute mal eine Verschwörungstheorie
Wie dieser Tage in den Medien zu lesen ist, ist der Polizist Karl-Heinz Kurras, der damals 1967 Benno Ohnesorg erschossen hat, ein Stasi-Spitzel gewesen. So verlautet ein aktueller Aktenfund von Mitarbeitern der Birhtler-Behörde.
Der erste Reflex, wenn man von dieser Tatsache hört, ist ja logisch: Aha, die Stasi wars! Nach Aktenlage, wie sie in den Medien nun ausgebreitet wird, ist die Sache aber komplizierter: Kurras arbeitete zum Tatzeitpunkt als Angehöriger einer Spezialtruppe, die in der Westberliner Polizei nach Stasispitzeln suchen sollte. Gleichzeitig arbeitete er selbst als Stasi-Spitzel. Am besagten Tag hatte er den Auftrag, als Zivilfahnder auffällige Studenten aus der Menge zu isolieren und zu verhaften. Nach der Tat zeigte sich die Stasi entsetzt und beendete die Zusammenarbeit. Gleichzeitig setzten seine anderen Dienstherren alles in Bewegung, um eine Verurteilung wegen Mordes zu verhindern: Zeugen wurden nicht zugelassen, Beweismittel verschwanden. Kurras wurde freigesprochen. Und auch seine jetzt aufgefundene Akte bei der Stasi erweist sich, zumindest für die Zeit nach dem 2. Juni 1967, als „ausgedünnt“.
Die Frage ist nun, welcher Geheimdienst diese Akte denn nun ausgedünnt hat und in wessen Auftrag Kurras geschossen hat: in ostdeutschem, in westdeutschem oder vielleicht doch in seinem eigenen. Die Wahrscheinlichkeit spricht meines Erachtens ja doch für den westdeutschen Geheimdienst. Aber es ist auch egal. Denn so oder so ist das Fazit eindeutig: Die größten Feinde der Demokratie sind die Spitzel – egal, ob sie nun Karl-Heinz Kurras, Peter Urbach, Erich Mielke oder Markus Wolf heißen, egal, ob sie im Auftrag handeln oder selber denken - eins ist so schlimm wie das andere.
(... und schöne Grüße an die Kollegen vom BMI, falls ich ihre Suchmaschinen aktiviert haben sollte ...)

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Donnerstag, 21. Mai 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 11: Kollegen
Endlich mal wieder „Lehrer zweiter Klasse“, ich hab ja selbst nicht geglaubt, dass ich an diesem Text nochmal weiter schreibe. Und das ist ja auch kein Wunder: Nicht nur inhaltlich ist das Schnee von gestern. Auch meine schriftstellerischen Ambitionen, aus denen heraus ich den Bericht einst begann, sind ja über der Bloggerei sanft entschlafen (wenigstens dafür wars gut, das Bloggen). Aber heute geb ich mirs noch einmal und geh nochmal voll rein in das Jahr 2007, mein erstes Jahr im Lohndumping-Bereich, als ich das alles noch absurd fand.
Astrid Laue also, die Kollegin (die in der hier auftretenden Form natürlich genau so verfremdet und Fiktion ist wie alles andere auch). Von der ich nach drei Tagen schon weiß, dass sie ihren Literatur-Prof. so distanziert angeschwärmt hat, dass ihr am Ende nichts als ein nutzloser Magister-Abschluss davon übrig blieb; dass sie das Erbe ihrer Eltern in eine kleine Eigentumswohnung investiert hat – in einer Stadt, in der es keinen Job gibt für sie, an der Uni schon gar nicht; die ihren Vater hasst für seine rechten Überzeugungen und weil er nicht ihr Vater ist (und ihre Mutter für den Seitensprung); die Herrn D. aus dem Kurs für einen „Faschisten“ hält, weil der ein Macho und Prolet ist und ihr das sehr bekannt vorkommt – und weil er ihr in der Frühstückspause das Handy vom Lehrertisch klaute, um sie zu ärgern. „Aber da kann man doch was tun, da kann man doch die Polizei rufen.“ sag ich, und sie antwortet: „Das haben wir auch getan.“ Die Polizei, fremdenfeindlich und unterbeschäftigt, wie das in der Provinz wohl so ist am Vormittag, fragte nur: „Wie viele Ausländer?“ und erschien zwanzig Mann hoch auf dem Gewerbehof, in dessen Hinterstübchen der Unterricht stattfand. Und natürlich lag dann das Handy plötzlich auf dem Aschenbecher der Raucherecke, als hätte es Astrid selber da vergessen. Nicht anders als in der Schule, damals in der achten Klasse.
Nicht anders als in der Schule auch die Team-Sitzungen, in denen Astrid Laue dann besonderes Interesse an den pädagogischen Einschätzungen der Teilnehmer für die Arge (Hartz-IV-Behörde) zeigte, während Herr Y. (Single, Porschefahrer und Leiter einer kleinen Werkstatt, in der alte Stühle aus den umliegenden Firmen von 1-€-Jobbern für den Schuldienst in Afghanistan aufgemöbelt wurden) mit Vorliebe viertelstundenlang über Arbeitsschutzvorschriften referierte und wie das Unfallbericht-Buch am Verbandskasten korrekt zu führen sei.
Und zwischendurch ich, wie alle anderen auch ein am Höheren Gescheiterter, der sich einfach immer nur stumm wunderte, wo er hier gelandet ist ...

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