Dienstag, 16. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 2
Wie damals, sagte sich Ada, als die Flasche halb leer war, vorigen November, als Nicole sie aufgesammelt hatte. Da hatte sie auch mit ihrem Wein auf dem Balkon gestanden, im Wintermantel und mit dem dicken Schal. Stundenlang hatte sie den gelben S-Bahnfenstern zugesehen, die hinter dem Spielplatz durch die Dämmerung rauschten und von Bahn zu Bahn heller wurden vor immer dunklerem Hintergrund. Während hinter ihr ihre eigene Wohnung in Düsternis versank. Eingesperrt, ausgesperrt. Damals hatte Nicole sie gerettet, als sie an der Wohnungstür klingelte. Und sich nicht wunderte, sondern den Mantel gleich anbehielt und zu ihr auf den Balkon kam. Irgendwann während der zweiten Flasche hatte sie gesagt: „Lass uns doch einfach ans Meer fahren. Ich habe eine Freundin in Rostock.“ Das hatte Ada sofort eingeleuchtet: Warnemünde im November, Spaziergänge am leeren Strand, Seeluft, Grogtrinken und neblige, dunkle Heimwege – eben mal raus aus Berlin. So hatte sie Johannes kennen gelernt.
Natürlich war es erst nicht so romantisch gewesen. Mit Nicoles Freundin war sie gar nicht klargekommen, eine richtige Zicke, Medizinstudentin. Und die ganze Zeit Regen. Sie saßen fest in der Wohnung, so einer typischen Ost-Studentenbude. Dünne Wände, ein enges Treppenhaus, Klo im Keller. Elke, so hieß die Wohnungsbesitzerin, hatte mit den üblichen Mitteln versucht, die Ärmlichkeit der Räume zu kaschieren. Überall hingen Bauhaus- oder August-Macke-Poster, die Dielen bedeckten die unvermeidlichen vietnamesischen Bastmatten. Und mitten drin die spröde Elke, die einen Stolz an den Tag legte, für den kein Grund bestand. Fand jedenfalls Ada.
Samstag Abend fuhr Elke nach Wismar. Sie tat sehr geheimnisvoll, aber wahrscheinlich wollte sie nur der Situation entfliehen. Jedenfalls waren Ada und Nicole endlich allein, vielleicht konnte es doch noch Wochenende werden. Da es immer noch regnete, bestellten sie Pizza und inspizierten dann die Wohnung. Lasen sich gegenseitig aus den oberlehrerhaften Texten auf den Amiga-Jazz-Schallplatten vor, testeten das Ikea-Bett auf Quietschgeräusche in Sex-Nächten und die Dusche „Ahlbeck“ auf die Fähigkeit, eine konstante Temperatur zu halten. Nicole schlug vor, den mageren Kultur-Teil des Bücherschranks zu interpretieren. „Was sucht dieses Buch übers Scheunenviertel zwischen einem Bildband über New York und einem schick illustrierten Kamasutra?“ – „Die große weite Welt.“ antwortete Ada. „Tja: ‚Anämie hatse und blutarm isse auch.’“ – „Wie?“ – „Steht hier unter der Karikatur. Sag mal, soll das Elke sein?“ Natürlich sollte es Elke sein, aber die war ja Gott sei Dank weg, irgendwo draußen im Dauerregen der mecklenburgischen Novembernacht. Und Nicole und Ada, als sie genug getrunken hatten, schliefen einfach ein im Doppelbett, Arm in Arm und ausnahmsweise glücklich.
Am Sonntag tröpfelte es nur noch. Sie beschlossen, zum Strand zu fahren. Es war noch niemand auf den Straßen und auch die S-Bahn ganz leer; die beiden Freundinnen stapften in Warnemünde an der alten Fahrt entlang, vorbei an geschlossenen Kneipen und Geschäften, besahen sich die Boote im trübe schwappenden Wasser, die regennassen Vertäuungen, die sie am Ufer hielten, und langweilten sich so wunderbar, als wären sie schon drei Wochen im Urlaub. Vor dem Schaufenster eines Schallplattenladens gabelte Nicole Johannes auf. Ein langhaariger junger Mann im Parka, nach dem Outfit hatte Ada den Eindruck, dass er schon zehn Jahre so hier herumstand.
Es war schon komisch, das sie sich auf Anhieb so gut verstanden. Vielleicht lag es daran, dass auch Johannes nichts zu tun hatte – er war zu Besuch bei seiner Schwester, die ein Praktikum in Warnemünde machte, irgendwas bei der evangelischen Gemeinde. Jedenfalls sagte er „Nein“, als ihn Nicole nach dem gemeinsamen Strandspaziergang fragte, ob er denn nicht nach Hause zu seiner Schwester müsste, und er blieb den ganzen Tag bei ihnen. Ada tat das wohl, und es tat ihr ein bisschen weh, wie rücksichtsvoll sich Nicole ihrem Wohlgefühl unterordnete. Als ob sie eine Genesende wäre! Dumme Nicole! Sie war so stark gewesen an diesem Abend, und als sie zum Schluss noch zu dritt einbrachen in die christliche Dachkammer von Johannes’ Schwester und die ganzen selbstgebackenen Kekse wegfutterten, da hatte sie doch schon längst kapiert, was mit ihr passiert war und was sie jetzt tun musste. Sie hatte sich noch nie für Männer ihres Alters interessiert, die keinerlei Ambitionen haben, aber den hier, den wollte sie haben. Also nahm sie den Kampf auf, es wurde viel gelacht und zum Schluss auch viel geküsst.
Nein, die Geschichte hatte wirklich nicht schlecht angefangen. Ada lächelte. Sie besah sich das Restchen Wein in der Flasche. „Ach, für nachher.“ Und ging wieder ins Zimmer. Inzwischen stand die Sonne niedrig, war schon hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile verschwunden, die Wohnung lag im Schatten. Plötzlich war es ihr wieder gegenwärtig, der Dämmerabend, als sie ihn das erste Mal hier in ihre Wohnung gelockt hatte. Wie er dastand und sich verängstigt umsah, als ob er in jeder verschatteten Ecke ein Monster witterte. Ein flinkes Wald- und Wiesentier, mit aufgerissenen Augen, das ist er immer geblieben, ein Wiesel im Wohnzimmer. So eine Art kleines Zittern lief oft durch seinen Körper, ein hastiges, leises Atmen, das sie jedes Mal unvermeidlich erregte. Er musste wiederkommen. Ada stieß die Fenster auf und steckte den Kopf in den Abendhimmel, dann räumte sie seufzend das Geschirr in die Küche, goss sich ihr Restchen hinter die Binde und kuschelte sich ins Bett.

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