Dienstag, 16. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 1
Es war schon ein komisches Licht an diesen Sommernachmittagen. Manchmal konnte man kaum noch was erkennen auf dem Computerbildschirm, weil die Sonne schon fast horizontal ins Zimmer schien. Ada hätte ja ein bisschen an den Vorhängen ziehen können, aber noch mehr einsperren wollte sie sich nicht. Es war schon pervers genug, dass das Semester im Juli endete und mit ihm die Frist für die Abgabe der Hausarbeiten. Tag um Tag saß sie nun vor diesem Bildschirm. Viel zustande brachte sie nicht. Das war auch nicht zu verlangen - gestern hatte sie sich wieder mit Johannes gestritten, diesmal noch heftiger als sonst. Und wie immer hatte es damit geendet, dass er wortlos verschwand. Das würde wahrscheinlich wieder eine Woche dauern, mindestens, bis sie erfuhr, wo er sich diesmal verkrochen hatte. Dabei brauchte sie Johannes gerade jetzt so dringend.
Ada stellte den Computer ab, es hatte doch keinen Zweck. Gern wäre sie jetzt irgendwo draußen gewesen. Aber sie konnte ja niemanden unter die Augen, so wie sie jetzt aussah. Und vor allem wollte sie es nicht. Lieber zu Hause eine Flasche Wein aufmachen, ganz allein. Sie ging zu ihrem ganz persönlichen Reservoir in der Küche, nahm sich auch ein Glas und einen Korkenzieher mit und versuchte es sich auf dem winzigen Balkon bequem zu machen. Vielleicht könnte sie nachher weinen.
Natürlich war der Streit fällig gewesen. Die Freundinnen hatten ja schon zu lachen begonnen über den schmalen, blonden Schweiger, der da seit Wochen in ihrer Wohnung umhersaß, ohne einen Ton zu sagen. Man musste doch wissen, woran man war. Diese wortlose Harmonie war einfach nicht zu ertragen gewesen.
Am Anfang war er immer nur an den Wochenenden nach Berlin gekommen. Hatte irgendwann am Freitagabend vor ihrer Tür gestanden mit seinem Seefahrerrucksack und seiner Gitarre. Wie ein Täuferjüngling mit seinen langen lockigen Haaren, so still und so dringlich. Und war am Sonntag verschwunden, wie er gekommen war, mit Sack und Pack und einem verhuschten Gruß: „Ich muss los.“ Als aus den Wochenenden halbe Wochen und dann ganze wurden, war es ihr erst unheimlich. Die Wohnung war einfach zu klein, sie fühlte sich beobachtet. Beim Saubermachen oder wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte. Und wenn Silvia und Nicole plötzlich in die Wohnung einbrachen und die halbe Nacht blieben, das war nicht halb so schön, wenn er nebenan schlief. Manchmal hätte sie ihn am liebsten rausgeschickt, aber musste sie nicht Angst haben, ihn dann für immer zu verlieren? Ada wusste, es liegt an der Wohnung. Ausflüge waren ihnen nie gelungen, eine Auto- oder Bahnfahrt war gleichbedeutend mit Streit. Selbst bei gemeinsam besuchten Partys lief es in der Regel darauf hinaus, dass er „dann schon mal nach Hause“ ging und ihr am nächsten Morgen ein Katerfrühstück ans Bett brachte. Johannes war ein wunderbarer Koch. Adas Küche war der Raum, wo er sich zuerst eingenistet hatte. Und es war der Raum, wo sie zum ersten Mal begriff, dass sie es liebte, ihn um sich zu haben. Er durfte sogar ans Weinregal.
Aber nun standen die bösen Worte im Raum. Hier mitten im Zimmer war es passiert, dass sein Mund aufging und diese hässlichen Sätze herausließ. Das war schon was andres als ihre üblichen Freiluftstreitereien. Als er im April in der Wuhlheide sich einfach in einen Seitenweg geschlagen hatte, statt ihr zu antworten, und eine Woche später aus Dresden anrief, da hatte sie ja ihre Wohnung gehabt solange, ihre Freundinnen, ihr Weinregal. Jetzt war es ernst. Denn es war ihre Wohnung, ihr Zimmer, in der jetzt alles nach seinen Aggressionen, nach seinen fixen Ideen roch. Was hatte sie mit seiner Erziehung zu tun, mit irgendwelchen lange vergangenen Konflikten in der mecklenburgischen Provinz. Wie ausgesperrt saß Ada auf dem Balkon. Sie sah runter auf den Kinderspielplatz, auf die S-Bahn im Hintergrund, sie war verlassen von aller Welt.

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