Sonntag, 5. Mai 2019
Beim Lesen alter Liebesliteratur
Ich lese gerade aus der Grabbelkiste erworben eine vor einigen Jahrzehnten erschienene Anthologie mit Liebesgeschichten und -gedichten("Wiedersehen mit der Liebe", Kreuz-Verlag 1991). Schon interessant, sich mal was ein bisschen Veraltetes anzugucken . Da gibt es eine Erzählung von Hermann Kesten, „Gabriel und Giulia“. Es geht um zwei ihren jeweiligen Partnern untreue Eheleute, die sich aus einem irgendwie noch komplexerem System gegenseitigen Betrugs entwinden und aus diesem Verrat ein Begehren füreinander generieren. Aber natürlich, nach der Liebesnacht verrät der Mann auch seine neue Liebe, indem er sie wiederum verlässt.

Wie lächerlich, dieses Sich-Berauschen am Verrat, das so typisch ist für das 20. Jahrhundert! Natürlich gibt es Verrat, und der ist schmerzhaft für den Verratenen. Aber das geht vorüber. Auf der anderen Seite gibt es dann auch Treue. Die ist schmerzhaft für den Treuen, wenn er der Versuchung widersteht. Und das geht ebenso schnell vorüber. Es gibt wirklich Wichtigeres, Interessanteres, Erregenderes.

Aber seien wir nicht zu überheblich! Eine andere Lächerlichkeit dieses 20. Jahrhunderts, jedenfalls seiner 2. Hälfte, nämlich die Manie, alles und jedes in ökonomische Beziehungen umzurechnen („Die auf Widerruf gestundete Zeit“ usw.), die treiben wir im Moment ja gerade auf die Spitze. Was werden künftige Generationen den Kopf schütteln über unsere Blödheit!

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Samstag, 27. April 2019
Kleine Testfrage
Als Sie Notre Dame brennen sahen, ist Ihnen da als Erstes der Gedanke an einen Anschlag durch den Kopf gefahren?

Wenn ja, dann haben Sie in den letzten Jahren zu viel Medien konsumiert und sollten mal an eine Reinigung Ihres Assoziationssystems denken.

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Mittwoch, 3. April 2019
Best Practise
Ich kannte den Begriff gar nicht, musste erst bei Wikipedia nachgucken, um zu erfahren, dass er aus der angloamerikanischen Betriebswirtschaft stammt und so viel wie “Erfolgsrezept“ bedeutet.

Und jetzt flattert mir die Einladung zu einer Informationsveranstaltung „Vielfalt leben“ herein. Es ging da irgendwie um geschlechtlche Vielfalt und ich dachte im ersten Moment: Warum nicht?

Aber dann sah ich, dass die Veranstaltung nur aus den „Best-Practise“-Referaten dreier Marketing-Beauftragter besteht. Da werden also die betriebswirtschaftlichen Erfolgsrezepte folgender Firmen zum Besten gegeben: Facebook, Barclaycard Hamburg, Uni Hamburg. Bin ich jetzt voreingenommen, wenn ich die Vielfalt lieber woanders lebe?

(Geschlechtliche Vielfalt schätze ich außerordentlich, allerdings vor allem da, wo sie mit geistiger Vielfalt einhergeht.)

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Dienstag, 12. März 2019
Bekämpfung der Fluchtursachen
Am Bahnhof gab es die „Welt am Sonntag“ kostenlos. Darin stand, dass Frau Kramp-Karrenbauer gegen einheitliche Sozialstandards in Europa oder gar einen gemeinsamen Mindestlohn ist. Eine viel bessere Idee findet sie einen europäischen Flugzeugträger.

Und was die außereuropäischen Fluchtursachen betrifft, da schlägt vor, die Grenzen für afrikanische Agrarprodukte vollkommen zu öffnen, damit sich die europäischen Privatinvestitionen in Afrika auch wirklich lohnen.

So viel zu europäischen Werten und der Bekämpfung von Fluchtursachen.

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Freitag, 8. März 2019
Fundstück
Zu den Kindespflichten gehört es, ab und an die Eltern zu besuchen, mit ihnen beim Essen oder vor dem Fernseher rumzusitzen und zwischendurch den Haushalt auf Vordermann zu bringen, zumindest ansatzweise, zumindest soweit möglich. Das Schöne daran ist, dass ich beim Aufräumen jedes Mal unweigerlich auf Artefakte stoße, die schlagartig die Gefühlslage von damals wieder aufrufen, als ich hier noch wohnte:



Nicht dass mein Leben damals besser gewesen wäre, es ist nur der Zauber der Jugend und der weite Abstand zu ihr, der diese Gefühle sich so süß anfühlen lässt. Aber dennoch ist es so.

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Sonntag, 24. Februar 2019
„Flughunde“ (Beyer/ Lust) - graphic novel und Politschmonzette
Habe gestern/ heute das nächste Buch von meinem Lesestapel konsumiert. Vorweg das Positive: Das Buch ist wirklich gut gezeichnet, manchmal etwas textlastig, häufig aber doch so, dass in meinem Kopf, Stimmungen, Töne, Bilder (auch über das Gezeichnete hinaus) entstanden – wirklich eindrucksvoll, bewegend. Aber doch nicht geistig anregend, und das liegt eindeutig an der klischeehaften Geschichte. Der mystisch klingende Titel „Flughunde“ führt ganz in die Irre, hier ist nichts mystisch, wir haben es mit dem üblichen Nazikitsch zu tun – der treffendere Titel wäre „Goebbels Kinder oder Der Mitläufer im Führerbunker“.
Da gibt es also einen versponnenen Wissenschaftler, der so versponnen ist, dass er rein gar nichts von der Wirklichkeit um sich herum mitkriegt (über diese Ausreden hat sich schon Billy Wilder in „1,2,3“ lustig gemacht: „Ich hab bei der U-Bahn gearbeitet, ich hab gar nicht gemerkt, was oben los war.“), aber von dem irgendwie mit ihm befreundeten Goebbels vor der Front in ein SS-Menschenversuchs-Projekt gerettet wird (dieser Umstand immerhin scheint mir realistisch), bei dem er mit schweren innerlichen Skrupeln aber doch ziemlich aktiv mitmacht. Irgendwann landet er im Führerbunker und fungiert dort als Stimme des Menschlichen, vor allem für die Goebbels-Kinder, insbesondere die älteste, Helga. Helga und die Kinder müssen natürlich sterben, er aber entkommt, entkommt auch der Bestrafung nach 45, wird alt, erinnert sich, voller Reue.
Das ist nun wirklich der typischste Schuldverdrängungskitsch: Natürlich muss es das Leiden im Führerbunker sein, die Leiden der Zigtausenden in den anderen Bunkern, die machen sich nicht so gut, da haben wir ja das Tragische der Schuld nicht so schön dramatisch. So wollen wir den Mann sehen: als schuldlos in Schuld Geratenen – aber bitte auf der höchsten Führungsebene. Und gibt es etwas Schöneres als Gegenstück zu ihm als eine Frau, die sterben muss? Ja, gibt es: ein pubertierendes Mädchen, eine Frau im Werden. Weshalb wir in der Erzählung aufs Genaueste über Brustwarzen, Schamlippen und Hymen dieses Mädchens informiert werden.
„Und das wiederholt sich doch nochmal auf einer anderen Ebene“, meinte meine Frau, als ich ihr nach dem Zuklappen des Buches berichtete: „Es ist eine geschickte und talentierte Zeichnerin, die die hier die Männergeschichte des männlichen Autors kolportiert.“ War mir gar nicht aufgefallen. Aber so ist es – weshalb ich mir erlaube, diese Rezension nicht unter dem Thema „Rezensionen“, sondern unter „Genderfragen“ abzulegen.

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Mittwoch, 13. Februar 2019
Ich ziehe weiter ... (ein rein privater, egozentrischer Post, immerhin mit vielen Links)
... natürlich nicht aus Bloggersdorf weg, obwohl das andere längst getan haben: stubenzweig und den hinkenden Boten vermiss ich schon sehr, die im Vergleich zu ihnen jüngeren und weiblichen wondergirl und Morphine schreiben ja wenigstens noch andernorts, aber vert und M.A.D. sind nahezu ganz verstummt, während Don Alphonso, der Chef vons Ganze, ja immerhin aus seiner Totenstarre erwacht scheint und immerhin ab und an mal wieder Beiträge schreibt, die an seine frühere Genialität anknüpfen ...
... nein, wirklich nicht von hier weg, aber mal wieder an eine neue Arbeitsstelle. Diesmal ganz risikofrei ohne Verlust von Arbeits-und Tarifvertrag, nur an eine andre Schule und erstmal auch nur mit einer halben Stelle. Aber es ist so schön, einfach zu gehen. An meiner jetzigen Schule rückt die angekündigte Schließung (zwecks Verhökerung des Innenstadtgrundstücks – ich hatte davon berichtet) näher, ich habe mir rechtzeitig eine neue gesucht – und genieße es, neue Leute kennenzulernen, neue Räume (die neue Schule ist ein Musterbeispiel des Neuen Bauens der 1920er Jahre), von außen wenig ansehnlich, aber mit genialen Innenräumen, heute habe ich einen rundum verglasten Besprechungsraum mit Dachterrasse und Blick über den Stadtteil entdeckt!), neue Gepflogenheiten. Am alten Standort wars zuletzt bequemer, nachdem der Stress der Flüchtlingskrise (mit seinen Folgen für meine Bildungsarbeit) abgeebbt ist, am neuen Standort ist es natürlich zuerst mal stressig, ich muss mich reinfinden, viel neu organisieren. Aber das erfrischt. Wahrscheinlich bin ich nirgends zu Hause, und das ist das Schöne am Nirgends-Zu-Hause-Sein: Es wird nie langweilig. Ich verliere Menschen, ich gewinne neue – und immer darf ich lernen. Das ist das Schönste.

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Sonntag, 3. Februar 2019
Interkulturelle Verständigungsschwierigkeiten


Dieses Fundstück aus den sozialen Netzwerken beweist, dass sich die Handys noch zu viel auf ihre Deutschkenntnisse einbilden - und die Deutschen zu viel auf ihre Mobilfunkfertigkeiten.

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Donnerstag, 3. Januar 2019
Glückliche Leseabende in Sicht
Zum Fest bin ich reich mit Lesematerial beschenkt worden, teils hatte ich mir die Sachen gewünscht, teilweise kamen sie unerwartet. Ich freu mich auf alles - wären Sie nicht auch glücklich bei dieser Zusammenstellung?

* Inger-Maria Mahlke: Archipel
* Marina Leky: Was man von hier aus sehen kann
* Harald Meller/ Uli Michel: Die Himmelsscheibe von Nebra
* Ulli Lust/ Marcel Beyer: Flughunde, graphic novel
* Stephen King: Der Outsider
* Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste
* Susanne Röckel: Der Vogelgott
* J. D. Vance: Die Hillbilly-Elegie

Ganz unüblich für mich sind diesmal auch zwei amerikanische Titel dabei, und da ich ja neulich auch "Unschuld" von Jonathan Franzen am Wickel hatte, möchte ich demnächst hier eine USA-Sammelrezension einfügen, wenn ich erst alles gelesen habe.

Nur so viel vorweg: Ich stieß gerade bei Stephan King auf eine Szene, die ich kurz zuvor genau so bei Mariana Leky gelesen hatte: Der Arzt muss den Angehörigen auf dem Krankenhausflur erlären, dass der Patient verstorben ist (wahrscheinlich eine Standard-Szene in Romanen). Also, das war bei Leky um Meilen besser geschildert: zurückhaltend, originell, fast elegant, während King unbeholfen und grob geschnitzt daherkam. Was natürlich nur einen Aspekt betrifft: das Stilistische. Was der jungen Deutschen (jedenfalls im Vergleich mit dem alten Hasen aus USA) an Spannung, an politischem Interesse, ja Durchblick, fehlt, das macht sie locker mit sprachlichem Können wett. Und ich mag beides.

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Montag, 10. Dezember 2018
Ein antisemitischer Vorfall
Es ist schon ein paar Jahre her, es gab da eine neue Berufsschulklasse. In Deutsch ging es erstmal darum auszuprobieren, was die Neuen so können, wie es um die Rechtschreibung, wie um den Wortschatz steht, ob sie sinnvolle Sätze formulieren können und ihren Texten vielleicht sogar intuitiv Anfang und Schluss verpassen. Ich machte das mit Personenbeschreibung, sie konnten sich ein Portraitfoto ihrer Wahl aus dem Internet ziehen zur Beschreibung. Natürlich bekam ich die üblichen schrillen Gestalten zu sehen, Rapper, Glamour-Promis, gruftimäßige Figuren. Am schrillsten aber die Wahl einer wortkargen, blonden, etwas hektischen 18-jährigen mit osteuropäischem Hintergrund: Sie beschrieb das altertümliche Schwarz-weiß-Foto eines älteren Mannes mit langem Bart. Theodor Herzl, wie sich auch Nachfrage herausstellte.

Zwei Wochen später: Dieselbe Schülerin vertraut sich in ihrer Not der Schulsekretärin an, es ging um einen hässlichen Judenwitz-Post (über den Holocaust) in der Klassen-WhatsApp-Gruppe, der sie direkt traf. Die Sekretärin wandte sich zunächst an mich, da die Klassenlehrerin gerade stellvertretende Schulleiterin und eigentliche Organisatorin der ganzen Schule geworden war und ihre Klassenleitung so nebenher laufen ließ. Also organisierte ich eine Gesprächsrunde mit Klassenlehrerin und Klasse. Damit die Betroffene nicht so blöd als Opfer dasteht, hatte ich mir ausgedacht, dass vorab jeder erzählt, was ihm wichtig ist, was ihn verletzen würde, bevor sie dann drankam.

Es stellte sich nicht nur dabei nicht nur heraus, dass der Urheber des blöden Posts sich nicht ansatzweise klar gewesen war über das Hasspotential seines irgendwo aus dem Netz gezogenen Bildchens und auch angesichts von Theodor Herzl nicht geschnallt hatte, dass eine bekennende Jüdin neben ihm in der Klasse sitzt, es stellte sich auch heraus, dass von den 15 Schülern 5 heftige Mobbing-Erfahrungen mitbrachten 3 - 4 weitere familiäre Probleme, bei deren Schilderung mir der Mund offen stehen blieb. Als dann am Ende die Betroffene selbst zu Wort kam, war schon eine derart intime Atmosphäre im Raum entstanden, dass sie gar nicht mehr auf das eigentlich auslösende Problem eingehen wollte – sie schilderte stattdessen ihr persönliches Leiden, nämlich unter ihrem autoritären Vater, ihre Sehnsucht, einfach so, jenseits der Leistung, akzeptiert zu werden.

Was aus der Geschichte noch geworden ist, weiß ich nicht: Zwei Monate später ergab sich für mich eine unerwartete Karrierechance und ich verließ die Schule und damit auch diese Klasse, der ich, ohne es zu wollen, so nah gekommen war.

Was ich mitgenommen habe: die Erkenntnis, dass all die politischen Schlagwörter, der Antisemitismus, die Nation, die Migration oder was auch immer, das allerletzte sind, worum es wirklich geht, hier unten an der Basis, im wirklichen Leben. „Denke global, handele lokal!“ hieß es mal. Vielleicht sollten wir auch wieder mehr lokal reden, statt empörungsgierig Weltprobleme zu verhandeln, nur um von unseren eigenen, echten Problemen abzulenken.

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