Donnerstag, 2. Juni 2011
Im Falladahaus, 4. und letzter Teil
Der Tag war ziemlich anstrengend gewesen, endlose Diskussionen mit der Zwölften, die ihre Klausuren für viel intelligenter hielten als sie waren (ich meine, wenn ich sie im Unterricht zum Diskutieren ermutige, heißt das nicht, dass bei der Klausur die bloße Laberei ausreicht, um sieben Punkte zu bekommen), und am Nachmittag das gleiche Spiel mit den Kollegen: Welches Schulbuch für die neuen achten Klassen angeschafft werden soll, schien für einige eine Frage der ganz persönlichen Ehre zu sein. Ich äußerte mich nicht, auch als man nachfragte. Es war fast erleichternd, beide Seiten zu enttäuschen. Tendenziell hatte ich natürlich Präferenzen, aber ich sah es ja, wie sie mich anstarrten, wohin ich mich nun ordne; ich hatte keine Lust, bekennender Konservativer zu werden. Damit ich dann von Herrn Müller zum legendären Zigarrenabend eingeladen würde, na ich danke!
Mir blieb danach grade noch eine Stunde am Fluss, eine Stunde mich auszulüften, mit nichts als Krähen in meiner Nähe. Wenn man von dem Entenpärchen absah, das am andern Ufer einen Ehestreit ausfocht. Auf dem Rückweg aß ich eine Bratwurst an der kleinen Imbissbude am Markt, dann ging ich hoch in die Wohnung und zog mich um. Gerade war ich fertig – ich hatte den Schlüssel schon in der Hand und wollte nach der Wohnungstür greifen – da hörte ich, wie Jordans gegenüber ihre Wohnung abschlossen und hinuntergingen. Ich drehte noch einmal um und wartete fünf Minuten ab, am Fenster stehend, und sah in den Hof hinunter, der schon ganz im Schatten lag. Dann kam ich nach.
Wie nachher alles gekommen ist, weiß ich auch nicht mehr so genau. Jedenfalls hatte Minski plötzlich eine Flasche Korn zur Hand und erklärte: „Nichts gegen Österreich, aber von diesem Tomaschekschen Likör hab ich jetzt genug.“ Herr Jordan, dem die Gesänge seiner Frau mit den beiden Untermietern schon lange auf die Nerven gingen, stimmte lauthals zu. Wir drei stießen an, versanken noch mehr in unseren Sofakissen und begannen einen Privatdisput ganz ohne Rücksicht auf die beiden Schwulen, die mit Frau Jordan am Flügel Varianten von „Ihr Kinderlein, kommet“ durchprobierten. Für uns war Ende November entschieden noch kein Advent, und auch Herr Jordan kam aus sich heraus. Dass er Wolfgang heiße, erklärte er mir atemlos, und dann wollte er, dass wir Brüderschaft trinken. Warum er mich plötzlich anschrie, weiß ich nicht. Hatten ihn meine gelegentlichen Seitenblicke auf seine Frau gereizt, die ja nichts weiter waren als eine freundliche Antwort auf deren offensichtlichen Kontrollblicke nach uns Männern, oder war es eher die fröhliche Vertrautheit, mit der ich Herrn Minski weiterhin „Herr Minski“ nannte, so dass er einfach merken musste, dass ich ihn dagegen nun gerade nicht ins Herz schließen konnte, Brüderschaft hin oder her?
Mir war das peinlich, wie er sich in mich verbiss; er schlug mich gar nicht, es war mehr wie ein wütendes Krallen an meinen Sachen, d. h. ein paar Sekunden nur, dann sprang seine Frau hinzu. Er stieß sie weg, und „Sven!“ schrie er Minski an „Sven, gib mir die Flasche! Die können mich alle mal ...“ Er setzte an und nahm ein paar große Schlucke von dem Schnaps zu sich, nicht ohne dabei wilde und stolze Blicke zu verschießen. Danach war es vorbei mit ihm, seine Frau musste ihn mit Minskis Hilfe nach oben bringen - „Lassen Sie mal, Herr P.!“ sagte Frau Jordan, als ich helfen wollte, und hatte sicher Recht, es handelte sich um eine Privatangelegenheit. Tomaschek und Winkler standen betreten neben dem Flügel.
Danach haben wir noch zu dritt bei Minski gesessen. Ich war zum ersten Mal in seiner Wohnung, ich erinnere mich an die tief hängende Lampe über seinem Küchentisch und die drei Gläser darunter. An hektische Armbewegungen mit einer Zigarette. Minski kicherte nur. Mich irritierte, wie vertraut Frau Jordan mit den Gegebenheiten schien, aber gleichzeitig machte es mich auch froh. Endlich schien die Dreiergruppe harmonisch. Jedenfalls winkte uns der Hausmeister noch nach, als wir gegen Morgen zu zweit nach oben wankten. Auch Frau Jordan war weich gestimmt, ich weiß noch, dass sie offenbar nichts dagegen hatte, als ich sie zu mir herein bat; auch an den weinroten Body kann ich mich erinnern, mit dem sie dann mit dem Rücken zu mir auf dem Bett lag. Und an ihre seltsam starre Haltung, als meine Hand sich zaghaft über ihren Bauch bewegte und auf ihrer Brust festwuchs. Lange lag sie dort, auf diesem wunderbar runden Stück Fleisch, und wie heute fühl ich es noch, wie sie mich plötzlich ansah und wie sie langsam zu mir hinüberkroch.
Als ich mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufwachte, war sie fort, und es war Zeit, zur Schule zu gehen. Gott sei Dank war es Samstag, und ich hatte nur die luschige Zwölfte zu dirigieren, deren Mehrheit die Freitagnächte tanzend im „Metropol“ zu verbringen pflegte und mit denen ich samstags ohnehin immer nur ein paar simple Quellentexte durchlutschte.
Greifswald habe ich nicht verlassen, auch das Falladahaus nicht. Natürlich kommt es zu verlegenen Gesten, wenn ich Herrn Jordan begegne, und auch zu den Hausmusikabenden wurde ich bisher nicht wieder eingeladen. Aber was heißt das? Klar, wenn diese Geschichte von Theodor Storm wäre, würde der Erzähler jetzt vermelden, dass ich nie geheiratet hätte und mein Lebtag ein kauziges Original dieser norddeutschen Kleinstadt geblieben wäre. Aber es ist ja nicht so. Noch bin ich jung, und wer weiß, was passiert.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 1. Juni 2011
Im Falladahaus, Teil 3
Zwei Tage später – ich war wieder mit dem Müll unterwegs – blieb ich im Flur stehen. Irgendetwas war anders. Aber natürlich: das Abendlicht. Das eine Flurfenster ging nach Westen, und es war ja die Stunde vor dem Sonnenuntergang. Ich setzte den Mülleimer ab und ging zum Fenster. Die Sonne war schon fast hinter den Dächern verschwunden, die Himmelsfarbe wechselte von flirrendem Blau allmählich zu Rot. Ich lehnte mich ins Fenster und sah nach draußen. Da hörte ich Frau Jordan die Treppe hochkommen. Erst wollte ich zu meinem Mülleimer eilen, aber dann blieb ich im Fenster lehnen. Es war schon gut so. Ich drehte mich auch nicht um, als ich hörte, dass sie hinter mir stehen blieb. „Guten Abend, Herr P.!“ sagte sie, und ich spürte, dass sie es nicht dabei bewenden lassen wollte. Da drehte ich mich doch zu ihr, versuchte einige Floskeln über den Mülleimer und die Hausordnung, aber das schien sie nicht zu interessieren. Frau Jordan wollte mir von dem Hausmusikabend am letzten Dienstag erzählen. Ich sah in ihr Gesicht, während sie redete, es schien beinahe orange im Schein der Abendsonne. Es schien mir auch, dass sie mich im Gegenlicht nicht richtig erkennen konnte, jedenfalls kniff sie ihre Augen zusammen und sah suchend umher. „Frau Jordan“, sagte ich, „das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir davon erzählen, Herr Tomaschek hat auch mir auch schon angeboten, einmal dabei zu sein. Aber bitte seien Sie nicht böse, ich bin doch so unmusikalisch.“. Da machte sie einen Schritt nach vorn und legte mir die Hand auf den Unterarm. „Sie müssen doch gar nicht singen, wenn Sie nicht wollen, Herr P.! Aber es ist so unheimlich, wie Sie immer so stumm an uns vorhuschen. Wir machen uns einfach Sorgen.“ Was sollte ich dazu sagen? Nun half es ja nichts mehr – ich musste beim nächsten Mal auch erscheinen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 31. Mai 2011
Im Falladahaus, Teil 2
So begann mein Leben als Angestellter des staatlichen Bildungswesens. Jeden Morgen um 10 vor Acht dieses Treppenhaus hinunter hasten, vorbei an der Blumenbank von Tomaschek und Winkler, vorbei an dem blinzelnden Herrn Minski, der immer mit einer Kehrschaufel oder einem Besen Spalier stand am Hoftor oder in der halbgeöffneten Tür seiner Erdgeschosswohnung. Schnell über die Straße, dann waren es nur noch hundert Meter bis zur Goethestraße, wo sich der Berufsverkehr drängte und mit laut vorbeidonnernden LKWs das gegenüberliegende Schultor verdeckte. Mittags denselben Weg zurück – jetzt war Minski nie zu sehen, ja und dann die endlosen Nachmittage, die Blicke von den Klausuren auf nach den Wolken im Fenster, die kurzen Begegnungen mit Frau Jordan, wenn ich den Mülleimer rausbrachte und sie plötzlich mit Einkaufstüten bepackt hinter einem der Schränke hervorkam, die einsamen Spaziergänge am Fluss – das war der einzige Ort, wo man keinem Schüler begegnete -, auf dem Rückweg der Einkauf bei Rewe, wo dienstags und donnerstags die hübsche Verkäuferin an der Schnellkasse saß, und alle drei Wochen Herr Tomaschek auf dem Treppenabsatz, das Vokabelheftchen für die Treppenhausreinigung in der Hand: „Sie sind dran, Herr P.! Denken Sie doch bitte diesmal auch an die Fensterbänke!“
Einmal aber sah ich Herrn Tomaschek ohne sein Heftchen am Treppenabsatz stehen, als ich aus der Stadt kam. „Ach, Herr P.“, sagte er, „Haben sie einen Moment Zeit. Darf ich Sie kurz herein bitten?“ Ehe ich mich versah, stand ich im Wohnzimmer von Tomaschek und Winkler, und die beiden Männer drängten mich mit verlegenen Gesten auf eine Couchgarnitur, die von Kissen und bunten Wolldecken überwuchert war. Die Nachmittagssonne schien mir direkt ins Gesicht. Winkler, ein langer, dünner Mensch mit einem kleinen, schon ergrauten Schnurrbärtchen, öffnete die Glastüren eines Schrankes und holte Likörgläser hervor. Dann saßen wir alle, und die beiden redeten auf mich ein: Auf die gute Nachbarschaft und ich solle nicht böse sein, wenn anlässlich der Treppenhausreinigung mal ein scharfes Wort gefallen sei, das meine doch niemand so. Und manchmal finde Hausmusik bei ihnen statt – Herr Winkler spiele Geige, Frau Jordan Klavier und die anderen sängen, manchmal sogar Herr Minski (das möchte ich hören, dachte ich, und unterdrückte das Grinsen). Ob ich nicht auch kommen möchte. Ob ich Musik liebe. Ob ich Frau Jordan nie durch die Wand gehört hätte, wenn sie nachmittags übt. „Doch, natürlich. Jeden Tag. Sie spielt sehr schön.“ Dieser Satz war offenbar ein Fehler: Die beiden Männer wurden gemütlich. Tomaschek lehnte sich zurück und begann von einem Bach-Konzert im Dom zu berichten. Winkler zupfte an seiner Fliege. Ich sagte nichts. Plötzlich war ich ein Gefangener, saß fest in einer tiefen Couch und hatte ein geschliffenes Likörglas in der Hand, gefüllt mit einer Flüssigkeit, die doch recht verdächtig roch. Jetzt hieß es, sich geschickt zu verhalten. Einen unauffälligen Abgang zu finden. Ich erklärte mit gespieltem Bedauern, dass ich kein Instrument spiele. Dass ich auch bei den Bach-Tagen im Dom nicht gewesen sei. Dass ich nicht singen könne. Die irritierten Gesichter der beiden signalisierten, dass ich auf dem richtigen Weg war. Es gelang mir, zu einer Entschuldigung anzusetzen, die den Weg zu Tür freimachte. Eine Minute später war ich wieder im Treppenhaus. Ging hoch ins Dachgeschoss und verschwand hinter den Schränken im Dunkel; ich machte kein Licht an, ich fand das Schlüsselloch auch so.
An meinem Arbeitstisch am Fenster ließ ich erst mal den Computer hochfahren. Er piepste, und ich setzte mich an meine Unterrichtsvorbereitungen. Das war gut, wieder so im Vertrauten zu sein. Welche Quellen eignen sich für meinen zwölfer Grundkurs, wo muss ich vorsichtig sein. Ich war schnell bei den richtigen Ideen, hatte aber keine Lust, sie genauer durchzudenken, wie es ein Anfänger ja wohl muss. Vielleicht hätte ich nicht so abweisend gegen Tomaschek und Winkler sein sollen, immerhin war ich neu in diesem Haus und wusste nichts über die Gepflogenheiten zwischen den Mietern. Na ja. Auf einmal war es schon ganz dunkel, ich hatte gar nicht gemerkt, wie lang ich in den leeren Himmel gestarrt hatte. Ich weiß nicht, was plötzlich los war, die Gören gingen mir so was von auf den Nerv, wieso sollte ich denen noch mundgerechte Quellen vorlegen. Ich ging zum Kühlschrank und machte mir ein Bier auf.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 30. Mai 2011
Im Falladahaus, Teil 1
Jetzt hatte das Warten ein Ende, und zwar ganz schnell: Vor zehn Tagen der Anruf von der Bezirksregierung, letzte Woche das Telefonat mit dem Schuldirektor. Ich war sofort einverstanden gewesen: nach so vielen Jahren eine feste Stelle! Greifswald kannte ich eigentlich nicht, einmal vor Jahren war ich im Urlaub da gewesen. Und ich mochte die Ostsee. Warum nicht dorthin ziehen. Ich telefonierte mit einem Wohnungsmakler, machte mit dem Schuldirektor einen Termin aus, und dann fuhr ich hin. Am Vormittag wollte mir der Direktor meinen neuen Arbeitsort zeigen: den Kartenraum, das Lehrerzimmer, die Computer mit Internetanschluss. Die hohe, absurd hässliche Fassade aus rotem Backstein stehe unter Denkmalschutz, erklärte er mir stolz, als wir über den baumlosen Schulhof zur Turnhalle rüberliefen. Auch die war aus rotem Backstein, darüber ein Dach mit blaugrauer Teerpappe, das in der Sonne glitzerte.
Ich aß in einem Café am Markt, um 14 Uhr war mein nächster Termin. Ein Herr Minski werde mich erwarten, hatte der Makler gesagt, von ihm könne ich sofort die Schlüssel empfangen, sollte mir die Wohnung zusagen. Es war ein hell verputztes Eckhaus aus dem 19. Jahrhundert, mit mächtigen Stuckornamenten, das sich reicher gab, als es war. Eine schwarze Steintafel zwischen zwei Fenstern des Hochparterres meldete stolz, dies sei das Geburtshaus des Dichters Rudolf Dietzen, auch genannt Hans Fallada. ‚Der Trinker’, schoss es mir durch den Kopf, ‚Wer einmal aus dem Blechnapf frisst’ – na, dann mal vorwärts.’ Der Hauseingang befand sich an der Seite, bei der Hofeinfahrt, ein hölzerner Vorbau, fast eine Art Veranda mit einer kleinen Freitreppe. Da stand Herr Minski und winkte mir schon von weitem zu. Dann eilte er auf mich zu und gab mir die Hand. „Herr P.?“ Sein linkes Auge zwinkerte nervös.
„Sie werden sehen“, sagte er, als wir die Treppe raufstiegen, vorbei an uralten, gerahmten Farbfotos von Rhein und Mosel und einer offensichtlich penibel gepflegten Blumenbank, „ ..... hier sind alle ein bisschen schrullig. Sie werden gar nicht auffallen. Tomaschek und Winkler im ersten Stock – die tun bloß so ordentlich; na, und ganz oben wohnen nach vorne raus die Jordans – er ist ja selten da, und sie – auch meistens irgendwie abwesend.“ Er kicherte. „Die andere Wohnung ist die, die frei ist.“ Wir waren inzwischen im Dachgeschoss angelangt, Ein dunkler Flur mit zwei winzigen Fenstern an den Giebelseiten und drei oder vier riesigen Schränken. Ich sah mich noch verwundert um, da war Herr Minski schon vorausgehuscht und öffnete im Hintergrund eine Tür. „Ihre Wohnung ist ein wenig verwinkelt. Ich hoffe, sie gefällt Ihnen trotzdem.“

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 26. Mai 2011
Aus gegebenem Anlass: Lesetipp Hans Fallada
Beim Aufbau-Verlag ist eine „vollständige“ Ausgabe von „Jeder stirbt für sich allein“ erschienen. Das Beiwort verspricht so eine Art Directors-Cut-Atmosphäre, obwohl ich glaube, dass der Schein trügt. Aber das ist vermutlich noch gar nicht der „gegebene Anlass“. Vielmehr scheint es eine Neu-Übersetzung desselben Romans ins Englische zu sein, die zum Bestseller wurde und so dazu führte, dass man sich auch im deutschen Sprachraum Hans Falladas erinnert. Nun, auf diese Aufmerksamkeitswelle möchte ich aufspringen.
Meine letzte Fallada-Lektüre ist ein paar Jahre her. Auf dem Bücherflohmarkt der örtlichen Gemeinde fiel mir ein Taschenbuch mit kurzen Fallada-Erzählungen in die Hände. Und diese Texte waren großartig: einfach, aber intensiv erzählt, realititätsnah, nachdenklich machend. Ich habe dann die „Geschichten aus der Murkelei“ zu Gute-Nacht-Geschichten für meinen Sohn gemacht mit großem Erfolg und mir auch ein paar Fallada-Romane vorgenommen: zunächst einmal „Kleiner Mann, was nun?“, das ich schonmal als Jugendlicher gelesen hatte, dann „Bauern, Bonzen, Bomben“ (weil das meine Mutter immer empfiehlt) und endlich “Wir hatten mal ein Kind“. So richtig überzeugt hat mich keiner der Romane, so dass Nr. 4 meiner Liste, „Der Trinker“, ungelesen liegen blieb.
Aber alle drei Bücher waren nur so halb gut: In „Wir hatten mal ein Kind“, das ich als Ganzes gesehen etwas sentimental fand, gibt es viele wunderbare Einzelepisoden. In „Kleiner Mann, was nun?“ finde ich den Beginn, die pommersche Kleinstadt-Atmosphäre, sehr gut getroffen. Und in „Bauern, Bonzen, Bomben“ hat mich weniger das historisch sicher interessante Thema (eine Revolte von rechts) berührt (anders als Göbbels, der davon begeistert war), sondern viel mehr das alter ego des Autors, das sich als arme, aufrecht sich bemühende, aber moralisch etwas zweifelhafte Person durchs Leben müht und natürlich genau dort scheitert, wo sie glaubt, das große Los gezogen zu haben. Ab dem Moment, wo sie stirbt, hatte mir das Buch nichts mehr zu sagen.
Also, was ich toll finde an Fallada, das ist sein Grundthema: das Elend des kleinen Mannes, das gar nicht in seiner Armut besteht, sondern in der gemeinen Tatsache, dass seine moralische Standfestigkeit viel leichter in Versuchung gerät als die des saturierten Normalbürgers . Und dieses Thema lässt sich vermutlich viel intensiver in kleinen Skizzen darstellen als in großen Romanen. Lesen Sie mal „Länge der Leidenschaft“ (eine Geschichte über die Liebe einer jungen Frau zu einem Betrüger) oder „Schmuggler und Gendarm“ (über einen vitalen Ganoven und eine arme Wurst von einem Gendarmen).
Oder machen Sie`s wie ich: Lesen Sie eine Fallada-Biografie. Wenn es eine gute ist wie die hier, werden Sie gerührt sein. Falladas Leben hat Romanqualitäten, und er war selbst dieser immer wieder strauchelnde kleine Mann: Er kam von oben (sein Vater war Richter am Reichsgericht), fiel nach ganz unten (Schießerei, Drogen, Betrügereien und Gefängnis), rappelte sich einigermaßen auf (fand eine robuste Frau aus dem Arbeitermilieu und sogar einen wohlwollenden Lektor – Rowohlt), aber blieb zeitlebens versucht vom Bösen (glaubte z.B. , Goebbels überlisten zu können, was natürlich schief ging), konnte von den Drogen nicht lassen (vielleicht auch dadurch erwarb er sich die Verehrung Johannes R. Bechers, der ebenso wie Fallada durch Drogen aus seiner großbürgerlichen Existenz gestürzt war einst und Fallada an seinem Lebensende vor den Karren der sowjetischen Kulturpolitik spannte).
Merkwürdig, dass es nun gerade dieses, vom späteren DDR-Kulturminister Becher in Auftrag gegebene, Buch ist, das nun zum Besteller wird: „Jeder stirbt für sich allein“. Ich werd es nicht nochmal lesen. Fallada hat Wichtigeres zu sagen als getreuliche Nazi-Aufarbeitung. Ich probiere es demnächst mit dem „Trinker“, der schon zum Lesen auf meinem Nachttisch bereit liegt. Und ich werde Ihnen berichten, ob sich meine Hoffnung erfüllt, dass er es nun endlich ist, der lang gesuchte, richtig gute Fallada-Roman.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Eitle Träume
Da hat also Andreas Dresen sich mal wieder einen Film ausgedacht, über den Tod diesmal, und ihm den schönen Titel „Halt auf freier Strecke“ gegeben. Genau wie ich meiner Erzählung über den Tod vor ein paar Jahren. Jetzt kann ich träumen, dass Andreas Dresen von mir inspiriert wurde. Na ja, das war immer ein Traum von mir, „als namenloses Lied ins Volk zu gehen“, wie es Johannes R. Becher so schön kitschig formuliert hat. Als ich in der 11. Klasse war, wurde für die Jungen ein monatlicher Nachmittag mit Wehrsportübungen und Exerzieren eingeführt, unser Russischlehrer fungierte als Kommandeur, die Offiziersbewerber als Unteroffiziere. Natürlich bemühten wir uns, die Sache so gut wie möglich durch den Kakao zu ziehen. Es kam zum Eklat. Und vor dem Elternbeirat erklärte der Russischlehrer: "Der K., der tritt offen in Aktion, aber der damals, das ist der eigentliche Rädelsführer." Auch wenn er damit meinen Einfluss sicher überschätzt hat – ich war sehr stolz, als ich davon hörte.

... link (5 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 3. Mai 2011
Wir-Gefühl
Da scheint es also schon Kleinkinder zu geben, die mit ihren Müttern besprechen, für welche Handy-Flatrate sie sich entscheiden wollen!



Oder gibt es vielleicht doch nur Mütter, die Kinder deshalb in die Welt setzen, damit sie auch mal majestätisch „Wir“ sagen können, wo sie „Ich“ meinen – so wie sonst eben der Arbeitgeber mit seiner corporate identity, die man kreuzbrav befolgt?
Man muss der Werbung dankbar sein, dass sie die üblichen Lebenslügen so wunderbar bebildert: „Wir“ bekommen die Werbung, die wir verdienen.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Montag, 11. April 2011
Feminismus von rechts
... oder sogar „Völkischer Feminismus“, das wären angemessene Überschriften für meine Rezension zu Sofi Oksanens „Fegefeuer“.
Es geht um zwei Schwestern, Ingel und Aliide, die das Schicksal Estlands im 20. Jahrhundert verkörpern. Ingel, die ältere, trägt einen blonden Haarkranz, wie er damals in ländlich-völkischen Kreisen üblich war, und kann alles, was eine estnische Bauersfrau so können muss, einkochen, putzen, sticken usw., aus einer unerklärlich Rundumbegabung heraus perfekt, und sie bekommt natürlich auch den Wunder-Super-Mann Hans. Aliide ist ihre kleine Schwester und Neiderin. Sie wirbt vergeblich um Hans, kriegt auch sonst nichts auf die Reihe und führt Böses im Schilde.
An den Feminismus, wie er hierzulande üblich ist, erinnerte mich, dass es um Frauenprobleme geht und alle Männer blasse Nebenfiguren bleiben – außerdem, dass das Herz der Autorin an der Hexe hängt. Insofern bietet sich eine erfrischende Sicht auf die Welt: endlich mal eine Geschichte jenseits der üblichen männlichen Bildungsroman- oder Western-Erzählstruktur. Anders als im üblichen Feminismus verbindet sich diese Sicht aber in keiner Weise mit irgendeiner kritischen Einstellung, nicht in einem aufklärerischen und erst recht nicht in einem mystisch-ganzheitlichen Sinne. Denn das Herz der Autorin hängt zwar an der Hexe, aber die Hexe ist wirklich böse - einsam, Opfer und böse. Irgendeine Art überindividuellen Bezugs (der ja meines Erachtens jede Hexe auszeichnet) – zum Kosmos, zum Schicksal, zur Natur oder wenigstens zu irgendwelchen anderen Kreaturen – gibt es nicht. Der einzige gültige überindividuelle Maßstab ist ein reaktionärer Nationalismus – die Esten sind alle an sich gut (sofern sie sich nicht den Russen andienen), die Russen stinken grundsätzlich nach Zwiebeln und entbehren jeder schöpferischen Fähigkeit, sie können nur zerstören. Und die Juden – gibt es gar nicht, es sei denn als servile Russendiener.
Und so passiert, was passieren muss. Ingel heiratet Hans, übernimmt den Hof und wirtschaftet erfolgreich. Aliide bleibt als Hilfskraft und Neiderin im Haus geduldet. Erst als die Russen kommen, beginnt ihre Zeit. Sie hilft Ingel, Hans (der sich den Partisanen angeschlossen hat) zu verstecken, um diesen so doch noch für sich gewinnen zu können. Nach der Folterung und Vergewaltigung durch Russen, die Hans suchen, den sie aber nicht verrät, wird sie KGB-Spitzel, heiratet einen moskautreuen Esten (der – als Kennzeichen seiner verräterischen Gesinnung – ebenfalls nach Zwiebeln stinkt) betreibt die Deportation ihrer Schwester und Nichte nach Ostsibirien, übernimmt den Hof und versorgt Hans alleine weiter, ohne dass dieser etwas von der Deportation seiner Familie mitbekommt. Als Hans sich weigert, mit ihr gemeinsam ein neues Leben unter einer neuen Identität in Tallin (also der bösen Großstadt) zu beginnen, tötet sie ihn. Ihre Rehabilitation als Figur wird bewerkstelligt, indem sie in einem zweiten Handlungsstrang an ihrem Lebensende die Enkelin Ingels rettet, die auf der Flucht aus der Zwangsprostitution in Deutschland bei ihr Schutz sucht, indem sie deren Zuhälter, ehemalige russische Geheimdienstoffiziere, erschießt.
Was für eine gemeine, schmeißfliegenhafte Geschichte! (Die penetrante, fleischgierige Fliege ist das Zentralsymbol des Buches.) Es verleidet einem die Genugtuung darüber, dass auch einmal die stalinistischen Verbrechen – bis hin zu deren Folgeelend in Form von Russenmafia und Menschenhandel – in den Blickwinkel des westlichen Lesepublikums geraten. Denn was hat man von dem überdeutlichen Ausmalen der Verbrechen, wenn dem nichts gegenübersteht als vorgestriger, nationalistischer Kitsch?! Wie viel Schreckliches kann man erleben, ohne auch nur irgendetwas zu kapieren?

... link (0 Kommentare)   ... comment


Rassentrennung im sowjetischen Estland
Sozusagen passend als Vorprogramm zu der Rezension von Sofi Oksanens „Fegefeuer“, die ich schon seit Wochen schreiben will, lieferte mir am Freitag eine Kollegin einige Informationen über Estland in sowjetischer Zeit.
Erst kürzlich hatte ich erfahren, dass diese schöne, zurückhaltend-gepflegte, sehr russisch aussehende Sprachlehrerin mittleren Alters gar keine richtige Russin ist, sondern eine halbe Estin. Jetzt gab sie mir einige sehr interessante Informationen dazu.
Ihre Mutter ist Russin, nach Estland, in die estnische Teilrepublik, eingewandert und dort als Ingenieurin tätig gewesen. Sie ging eine Liebesbeziehung mit einem estnischen Kollegen ein. Als sie schwanger wurde, musste er alles seiner Familie beichten, die eine Verbindung mit einer Russin strikt ablehnte. Er brach den Kontakt ab, erkannte die Vaterschaft nicht an. Seine Tochter hat ihn nie kennen gelernt. So war das damals, erklärte mir meine Kollegin, die Bevölkerungsgruppen lebten nebeneinander her, hasserfüllt und auf Abstand. Es gab Betriebe, die waren in estnischer Hand, die wichtigen Industriebetriebe aber alle russisch – auch wenn ein estnischer Ingenieur, wie im vorliegenden Fall, durchaus auch dort eine Chance hatte. „Na klar, ich war ja auf einer russischen Schule, wir haben ab der dritten Klasse Estnisch gehabt – auch wenn`s die meisten nie wirklich sprechen lernten – wir hatten natürlich auch estnische Schüler, das war schon möglich für Esten, man konnte natürlich mehr erreichen als Absolvent einer russischen Schule. Also, den X., den Y., den Z. Iwanow ... ja, der war wirklich Este, manche Esten nahmen halt einen russischen Namen an, man konnte dann mehr erreichen ..“
Mit dem Jahr 1990 änderte sich dann die Richtung der Diskriminierung. Die Russen bekamen die neue estnische Staatsbürgerschaft nicht nach dem Ende der sowjetischen – sie bekamen von den Russen die russische, sofern sie dort geboren waren. Die Jüngeren mussten auf eigene Kosten einen Sprachkurs machen und einen Test bestehen, einige sind bis heute staatenlos (mit einem Schengen-Pass). Meine Kollegin hätte ja die estnische gleich bekommen, mit einem nachgewiesenermaßen estnischen Vater. Aber der, längst mit einer Estin verheiratet, ließ sich verleugnen, und sie machte, bei ihrem Sprachtalent kein Thema, die Prüfung, um Estin zu werden. Inzwischen hat sie einen deutschen Pass. „Ich hätte ja die estnische Staatsangehörigkeit drangegeben, aber man hat mir direkt angeboten ...“ Jetzt hat sie eine doppelte Staatsbürgerschaft. „Schön“, sagte ich, „da haben Sie wenigstens noch etwas von Ihrem Vater – die Staatsbürgerschaft.“

... link (3 Kommentare)   ... comment


Sonntag, 3. April 2011
Manche nehmens mit Humor


... heute an einer Haustür in Hamburg gesehen und schnell aus der Hüfte mit dem Handy geknipst ...

... link (0 Kommentare)   ... comment


Sonntag, 20. März 2011
Die Schönheit von Potsdam

Dieses Foto zeigt den Werderschen Weg. Die Straße mag Ihnen ein bisschen vergammelt vorkommen – mir ging das Herz auf, als ich sie letzte Woche entlanglief.
Ich war ja ein paar Tage bei meinen Eltern. Eltern sind das eine, das andere ist die Heimat. Einmal bin ich einfach rausgelaufen und wusste schon, wo entlang: zum Werderschen Weg. Dort konnte ich aufatmen, das erste Mal seit langem. Allein schon der Name der Straße macht glücklich: das altmodische "sch" als Adjektivendung. Und außerdem geht es von dort aus nach Werder, durch den Wildpark, am Kuhpfort vorbei. Ich bin oft mit dem Rad da lang, ein Schulfreund wohnte in Werder. Ich musste nur in Wildpark-West über die Eisenbahnbrücke, ein idyllischer Weg, denn die Militäranlagen versteckten sich im Wald, man konnte sie getrost übersehen, aber der Blick über die Havel nach der Werder-Insel, das ist einfach ... na ja, und dann hieß es Kirschen pflücken und stundenlang Tonbänder hören und abends im Dunkeln zurück durch den Wildpark.
Wenn Sie in Potsdam sind, besuchen Sie nicht nur die Schlösser! Das sind nur die Sahnehäubchen. Aber eine Torte kann nicht besser schmecken als ihr Tortenboden. Besorgen Sie sich ein Fahrrad und fahren Sie raus nach Caputh oder Werder. Oder lieber nach Petzow oder Marquardt, da sind weniger Touristen. Ich hätte das letzte Woche auch tun sollen, aber als Medien- und Stubenhocker nahm ich nur eine kleine DVD aus dem Buchladen meines Schwagers mit und sah dann abends mit den Eltern 50er-Jahre-Amateuraufnahmen vom Potsdamer Stadtschloss und der Innenstadt. Wir saßen da und glotzten Ewigkeiten auf Radfahrer und Straßenbahnen, die sich zwischen Schutthaufen und Ruinen durchschlängelten. Warum nur war das so schön? Meine Frau brachte es auf den Punkt: „Mensch, diese Straßen und Bäume! Das ist ja noch richtig ländlich!“ Damals sah es auch in der Potsdamer Innenstadt noch aus wie am Werderschen Weg.

... link (5 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 16. März 2011
Warum ist das, was schrecklich ist, eigentlich immer besonders spannend? (Rezension meiner aktuellen Lektüren)
Das fragte gestern mein Sohn, der die Frühjahrsferien bei seinen politikbegeisterten Großeltern verbringt und zu jeder Mahlzeit von diesen ehrlich entsetzte Kommentare zur jeweils aktuellen Weltkatastrophe erhält. Ja, warum eigentlich? Warum ist der Freiheitswillen des lybischen Volkes gestern ein Grund, gebannt auf den Fernsehschirm zu starren, aber heute explodiert ein Atomkraftwerk in Japan und Lybien ist vergessen? Meine Eltern würden hier sicher widersprechen, natürlich sind ihre Gedanken „auf Seite 2“ immer noch bei Lybien – und bei den Palästinensern sowieso, wo schon wieder illegale Häuser errichtet werden. Aber das blanke Entsetzen, das immer da ist, das kann immer nur an einem Ort sein, und das ist eben im Moment Japan.
Zum Glück funktioniert Literatur nicht immer so – und damit wäre ich bei der Besprechung meiner derzeitigen Lektüren. Ich hatte mir nämlich letztes Jahr anhand des Feuilletons ein paar Wunschbücher zusammengesucht und mich dann zu Weihnachten beschenken lassen. Da ich derzeit nur abends im Bett ein paar Minuten zum Lesen komme, gehörten der Januar und der Februar vollständig Melinda Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“, dem autobiografisch gefärbten Roman über zwei ungarisch-stämmige Schwestern aus der jugoslawischen Vojvodina, die als Kinder mit ihren Eltern in die Schweiz auswandern, den Jugoslawien-Krieg nur noch von außen, als Entronnene, durch unsichere Nachrichten aus der verlorenen Heimat, mitbekommen. Da geriet ich am Ende tatsächlich wieder in die oben beschriebene Politik-Falle: Ich ließ mich zwar hinreißen vom ungelenk-schwungvollen Charme des balkanesischen Wortschwalls (der Titel „Tauben fliegen auf“ charakterisiert diesen deutlich), war gerührt von der eindringlichen Darstellung, wie es ist, in der Fremde zu leben (wo ja niemand, auch der nicht der coolste Wirtschaftsflüchtling, als der der Vater der Familie sich gern ausgibt, ganz freiwillig ist) ... Ich ließ mich rühren und blieb dennoch unzufrieden, weil man so rein gar nichts erfährt über die Vorgänge in Jugoslawien – und dann auch noch verspottet wird, weil man das wissen will: „und wahrscheinlich würde Herrn Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, ...“ (S. 241). Dabei hätte die Geschichte durchaus Anlass gegeben, gesellschaftlich konkreter zu werden: Der Cousin der Ich-Erzählerin wird zum Kriegsdienst gezwungen und abgeführt - und verschwindet einfach aus der Geschichte. Das ist realistisch, aber lässt den Leser unbefriedigt. Es bleibt eine Leerstelle.
Vielleicht hängt es auch mit dieser Leerstelle zusammen, dass die Erzählerin sich später in einen offenbar traumatisierten Jungen aus Sarajewo verliebt. Aber auch der erzählt nichts. Verständlich, aber unbefriedigend. Was bleibt, ist das hilflose Mitgefühl der Erzählerin, z. B. gegenüber ihrem Vater: „einen Moment lang schaue ich meinem Vater in die schutzlosen Augen, und ich würde gern einen Trost finden, mein Herz würde ihn gern geben, diesen Trost, jetzt, da mein Vater ein hilfloses Kind ist, aber ich, ich bin auch ein hilfloses Kind, seines, wenigstens das würde ich ihm gern sagen, ich stehe auf, verschwinde rasch in Richtung Toilette.“ (S. 163).
Welche Größe in dieser Selbstbescheidung liegt, in diesem Verzicht, die Schrecklichkeiten alle zu benennen, das begriff ich erst, als ich zum nächsten Buch griff: Sofi Oksanen „Fegefeuer“, Thema: eine andere Menschheitskatastrophe am Rande des russischen Imperiums: Estland zwischen den dreißiger Jahren und heute. Hier wird alles deutlich ausgesprochen, überdeutlich sogar. Jedes Verbrechen, jede Gemeinheit. Selbst die Fliege, die auch das Cover des Buches ziert, fliegt in ausführlich beschriebener Scheußlichkeit durch die Küche der Protagonistin und legt ihre Eier in jedes erreichbare Stückchen Fleisch. Diese Erzähltechnik lässt den Leser in Schockstarre verfallen, gebannt das Geschehen verfolgen. Zumal immer irgendetwas passiert – Spannung garantiert. Aber ehrlich gesagt: Historisch Neues erfährt man trotz Überdeutlichkeit nicht – dass erst die Russen die Esten deportierten, dann die Deutschen die Juden, dass erst die Kommunisten die national gesinnten Esten, dann diese wiederum die Kommunisten verfolgten und dass heutzutage mafiöse Organisationen, die sich teilweise auch aus ehemaligen KGB-Leuten rekrutieren, den Menschenhandel von Russinnen zur Prostitution nach Deutschland organisieren, das ist eigentlich schon bekannt. Das Wie hätte mich interessiert. Aber Psychologie ist nicht die Sache der Autorin. Das ärgert mich. Und dennoch: Ich bin erst bei der Hälfte, ich werde weiterlesen, wahrscheinlich sogar schneller als Nadj Abonji. So funktioniert es eben, das Geschäft mit dem Schrecken.

... link (0 Kommentare)   ... comment


<