Montag, 2. Januar 2012
Die Erlebniswelt unserer Kinder:
... volle Straßen, brennende Hochhäuser.

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Julia Francks Großmutter
Aus gegebenem Anlass heute mal wieder Erinnerungen aus realsozialistischen Zeiten: Ich las kürzlich, dass Julia Franck in ihrem neuen Roman „Rücken an Rücken“ aus Erinnerungen an ihre vor zwei Jahren verstorbene Großmutter schöpft, als Käthe hat sie sie abgezeichnet. Als Inge hat diese Frau auch in meiner Kindheit eine Rolle gespielt, denn sie war mit meinem Vater befreundet.
Inge war eine beeindruckende Frau, Bildhauerin, mit einem runden, schon faltigen Gesicht, leichtem Damenbart, leuchtenden Augen und rauer Stimmer: robust, direkt, herzlich. Das ganze Gegenteil zu mir, der damals ein schüchterner kleiner Junge war. Einmal, mein Vater feierte Geburtstag und die Wohnung war voller Gäste, hatte ich mich beim Spielen am Heiligen See völlig bemoddert und versuchte, von den Eltern unbemerkt ins Kinderzimmer zu kommen und mich umzuziehen. Die einzige Möglichkeit erschien mir das winzige offene Fenster über dem Klo. Ich war schon halb reingekrochen (das historische Haus hatte sehr dicke Außenmauern), da bemerkte ich, dass Inge auf der Kloschüssel saß. Sie war keineswegs verschämt oder peinlich berührt, sie sah nur verwundert hoch und brach in Lachen aus. Ich kehrte erschrocken um und ging nun doch schuldbewusst durch die Wohnungstür, begleitet vom Gelächter einer ganzen Geburtstagsgesellschaft.
Trotzdem war es immer schön, wenn Inge kam, mit Bunin, dem riesigen, weißen Hund (erst nach Jahren erfuhr ich, dass er nach einem russischen Schriftsteller heißen soll), mit ihr kamen Lachen, Leben, Großzügigkeit in unsere verängstigte DDR-Kleinfamilie, kamen Biermannschallplatten (einmal sogar Biermann selbst), kamen Fotokopien von Rudolf Bahros verbotenem Buch (es waren die ersten Fotokopien, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam - der Zettelstapel wurde von den Eltern ehrfürchtig gelesen und versteckt). Und wenn wir bei ihr waren, in ihrer riesigen Gründerzeitwohnung in Randberlin, meist aus Anlass einer Party, dann galten keine Kinderbettgehzeiten, dann stromerten wir Ewigkeiten durch Räume, Wintergarten, Atelier und Vorgarten, und die Eltern waren locker und gelöst wie sonst nie, und über allem hing ein Geruch von Knoblauch.
Inge hatte auch ein Sommerhaus an der Ostsee, das ihr aufgrund ihrer VVN*- und DDR-Elite-Zugehörigkeit zuteil geworden war. Das war ihr peinlich, und deshalb überließ sie es Sommer für Sommer all ihren Freunden zur kostenlosen Nutzung. Wir waren jeden Sommer da, verbrachten dort Bade-Ferien, die ich oft langweilig fand – erst später verstand ich, welchen Luxus ein solcher Strandurlaub jenseits der üblichen FDGB**- und Camping-Milieus bedeutet hatte. Und als mein Vater Anfang der achtziger Jahre die für leitenden Angestellte nicht unübliche IM-Verpflichtung verweigerte und als Strafe seinen Westreisekader-Pass verlor, da erbarmte sich Inge zwei Jahre später und sprach mit dem für sie zuständigen Stasi-Mann. Prompt durfte mein Vater wieder reisen und wusste selbst nicht, warum. Denn natürlich verriet sie ihm den Grund erst nach der Wende. Meine Schwester hat damals sogar geargwöhnt, mein Vater wäre irgendwie zu Kreuze gekrochen.
Womit Inge nichts anfangen konnte, das waren Schüchternheit und leise Töne. Meiner reservierten Mutter gab sie immer erstmal ein Glas Rotwein. Als mein Bruder, der zeitweise bei ihr zur Untermiete wohnte, um dem Studentenwohnheim zu entgehen, Besuch von einer Verehrerin erhielt, entsetzte sie sich über „das kümmerlichste Blumensträußchen, das ich in meinem Leben gesehen habe“. Und als ich in Pubertätszeiten mit den Eltern und der Welt in Konflikt geriet und entsprechend sprachlos und desorientiert wurde, lud sie mich einfach allein zu ihr ein, um mal über alles zu reden. Ich fuhr brav nach Berlin, obwohl ich wusste, dass das nichts bringt. Ich konnte und wollte so ein großherziges Angebot nicht ausschlagen, auch wenn es nutzlos war. Ich denke auch heute noch oft mit Sympathie an Inge. Und auch den Geruch von Knoblauch habe ich nicht aufgehört zu lieben.

* Verein für Verfolgte des Naziregimes, erlaubte einem, kostenlos Straßenbahn zu fahren
** Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, in der DDR hauptsächlich zuständig für Urlaubsreisen

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Freitag, 18. November 2011
Gegen das Vergessen
Nach ein paar Tagen des üblichen Ensetzens über die Rechtsterroristen und ihre V- und Verfassungsschutzfreunde (das diesmal auch mich erfasst hatte) beginnt jetzt offenbar die notwendig folgende Phase des Nicht-mehr-wissen-Wollens: Heute Morgen im Deutschlandfunk schob der SZ-Journalist Hans Leyendecker alles auf die Polizei ("Ermittlungsfehler" war sein Lieblingswort) und Innenminister Friedrich meinte, der Verdacht gegen den Verfassungsschutz sei "gestreut" worden, als säßen die eigentlichen V-Leute in den Medien.
Nun, ein Verdacht, der gestreut wurde, der lässt sich ja auch wieder zerstreuen, dazu wäre nichts weiter nötig, als die Wahrheit offenzulegen: Denn selbst wenn die nicht erfolgte Festnahme der drei Terroristen und ihr Untertauchen 1998 tatsächlich nur auf eine Fehlentscheidung der Polizei zurückzuführen sein sollten (wie Leyendecker sagt), bleiben noch einige Fragen: Warum hat der Verfassungsschutz nicht an die Ermitltungsbehörden gemeldet, dass Holger G. aus Niedersachsen nach einer Fluchtmöglichlkeit die Untergetauchten suchte? Wie kamen die Täter zu den professionell gefälschten Ausweisen? Was wollte der Verfassungsschutz-Mann am Tatort des Mordes 2006 in Kassel? Und warum mordeten die Täter nach dessen vorübergehender Festnahme nicht weiter? Warum kontaktierte im Sommer diesen Jahres ein V-Mann
die Ermittler mit einer Geschichte über die Tatwaffe? Und wie kam es überhaupt jetzt zu diesem merkwürdigen Selbstmord?
Für all das mag es Erklärungen geben. Nur: Ich will sie hören!

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Mittwoch, 26. Oktober 2011
Das erste Bier
Eigentlich gibt es keinen Grund, das erste Bier zu trinken. Sicher, es ist nicht schön, dass es schon dunkel ist, wenn die Teamsitzung endet, und dass dir der Magen hängt, weil es nur Fastfood zum Mittag gab. Aber du hast ja zum Handy gegriffen, hast dich vergewissert, dass Frau und Kind zu Hause warten, dass du nur schnell dorthin radeln musst, wo ein Abendbrot für dich bereit steht.
Trotzdem fährst du an der Tanke vorbei, nur für das Bier, klopfst an der nächsten verfügbaren Stahlkante den Kronkorken ab und lässt die ersten Schlucke in dich hineinlaufen. Denn im engeren Sinne, auf der Zunge, schmeckt das ja gar nicht, so ein Tankstellenbier. Aber im Magen, da breitet sich so ein wohilg-warmes Gefühl aus, ein bisschen wie beim Suppeessen, wo man als Mann und Fleischesser ja auch erst nicht so recht Appetit hat meistens, aber dann schnell der Behaglichkeit erliegt. Beim Bier kommt hinzu, dass es sofort auch im Kopf wirkt. Die Gassi gehenden Köter, die heute Morgen noch genervt haben, wirken jetzt im dunklen Stadtpark plötzlich wie magisch mit ihren Leuchthalsbändern; die Wolken, die Bäume, der Herbstgeruch umhüllen dich sanft und lassen dich in ein Vergessen fallen, das wunderbar nach „da sein“ schmeckt.
Schade nur, dass schon an der Hohen Luft wieder Klarheit herrscht im Kopf und man nur ein Malocher ist, der zu spät nach Hause radelt. Natürlich könnte man nachfüllen – wofür Bier allerdings ein recht langweiliges Mittel wäre, da schon lieber schrill und heftig Obstler oder elegant kommunikativ Wein. Oder, sollte man noch Freunde treffen, so ein langsames Party-Saufen, das einfach den Pegel hält und die Stimmung nicht absacken lässt. Aber das ist letztendlich Normalität. Das kann man immer haben. Nur dieses erste, einsame Bier, das einen sanft aus dem Alltag löst und in die eigenen Träume fallen lässt - das kann man nicht wiederholen.

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Sonntag, 18. September 2011
Wenns dem Esel zu gut geht, schickt Gott ihm eine Finanzkrise
Ich muss gestehen, dass ich grad gar keine apokalyptischen oder Untergangsgefühle habe, obwohl entsprechende Nachrichten täglich auf uns herab rieseln. Neulich kam mein Sohn morgens verschlafen in die Küche, und als ich hinzukam, meldete er: „Die bauen grade einen Rettungsfallschirm oder sowas – ich habs nicht ganz verstanden.“ Ich auch nicht, aber es geht mich auch nichts an. Vor ein paar Jahren, als mit der Leman-Pleite die große Panik ausbrach, haben in meinem Umkreis auch nur Leute Geld verloren, die welches überzählig und irgendwo geparkt hatten. Die Verlustängste derjenigen, die sowieso schon zu viel haben, muss ich doch nicht teilen.
Ja, ich weiß, das kann auch schlimmer kommen. Aber auch 1930/32 kam es, soweit ich informiert bin, zu keiner Hungersnot, jedenfalls nicht in dem Sinne wie nach dem Krieg, in den dann alle panisch gerannt sind. Jedenfalls in den Familien meiner beiden Großeltern, die nun alles andere als reich waren, da gab es wohl teilweise Arbeitslosigkeit und auch wirkliche Armut – aber durchgekommen sind sie alle irgendwie, als intakte Familien. Das schlimmste, was es damals gab, war wie gesagt die Panik, die so viele, Arbeiter und Industrielle, in die Arme der Nazis und damit wirklich in die Katastrophe trieb.
Es gab damals sogar etwas Gutes, das sich parallel zu den ökonomisch-politischen Katstrophen vollzog: Der überhitzte Modernismus der Golden Twenties kam aus der Mode, mit all seinen expressionistischen O-Welt-Schreiern, stattdessen traute sich Remarque endlich mit „Im Westen nichts Neues“ raus, und kurz darauf schrieb Anna Seghers ihre beiden großen Romane, die wohl modern waren, aber kein weltferner Experimentierkram à la „Berlin Alexanderplatz“, sondern menschlich und konkret. Die Malerei der Neuen Sachlichkeit verlor ihre Kälte. Und Bonhoeffer, eben noch abgehobener Theologie-Aufsteiger, entwickelte seine Vorstellung von der Erneuerung lebbaren evangelischen Glaubens.
Wäre das nicht schön: heute etwas Ähnliches?! Beim Film scheint es ja schon in diese Richtung zu gehen: Statt Rainer Werner Fassbinder sieht man Maren Ade, statt Volker Schlöndorff Fatih Akin. Jetzt müsste nur noch ... aber ich komme vom Thema ab, daher nur noch ein kleines Schlusswort: Dass ein Welt-Finanz-System, das keiner, aber auch keiner der Beteiligten je mit gutem Gewissen vorangetrieben hat, dass das nun auch den Boden der Tatsachen zusammenstürzt, darüber kann doch keiner wirklich böse sein.

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Mittwoch, 24. August 2011
Die Midlife-Frage
Es gibt Tage, da ist es wie Zur-Ruhe-Kommen. Abends zu Hause ist es still, sogar kuschelig. Die beruflichen Dinge am Tage gelingen, alles andere als außerordentlich, mit Berufung hat das nichts zu tun, sie funktionieren einfach. Die Angst- und Panikanfälle, natürlich bleiben sie nicht aus, aber sie sind schnell erledigt: ein kleines Schluchzen unter der Dusche, sich mal schnell unbemerkt vor den Kopf schlagen – sie kommen einem selber lächerlich vor.
Was bleibt, ist die merkwürdige Leere, die Abwesenheit von Hitze und Leidenschaft, wofür auch immer. Ich habe viele Jahre vertrödelt mit einer nicht enden wollenden Jugend, ich wurde beinahe vierzig, ehe ich begriff, dass ich anfangen sollte, mein Leben zu ordnen. Ich ließ die Träume fahren und machte mich ans Aufräumen. Was bitter nötig war, ersetzte die Lebensaufgabe. Jetzt, wo sich die Dinge zu klären beginnen, das Chaos weicht, ich weiß selbst nicht, warum und womit ich das verdient habe, jetzt wird die Leere sichtbar. Die Lebensmitte ist überschritten, die Aufgaben laufen weiter und lassen wenig Zeit übrig. Das bisschen an Jahren und Stunden, was bleibt, würde gerade für ein spießiges Hobby reichen. Aber dafür bin ich mir dann auch zu schade. Die Frage ist: Was tut man so lange, bis es vorbei ist? Ich meine, dass vielleicht ja die Eltern irgendwann Pflegefälle werden, damit man wieder zu tun hat, das ist ja auch keine Lösung.

... und so paddelt man halt weiter.

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Donnerstag, 4. August 2011
Nach fünfzig Jahren ist alles vorbei
Fünfzig Jahre ist der Mauerbau nun her, und da muss das Fernsehen natürlich entsprechend reagieren. Also zum hunderttausendsten Mal die Mauertoten, und da wird nicht nur „An die Grenze“ wieder rausgekramt, über den ich hier schon unter dem Thema „Soldat mit Abitur“ geschrieben habe, sondern es gibt auch ein neues TV-Drama: „Der Mauerschütze“. Das gabs gestern im Ersten und es war so banal, dass es nicht mal ärgerlich war. Da wird das Klischee treu und brav dramatisiert, die Story ist stimmig und rund und total vorhersehbar, die Schauspieler professionell, und was die inhaltliche Problematik betrifft, so sind am Ende alle irgendwie ein bisschen schuld, und wir können um Viertel vor zehn getrost den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen.
Eigentlich schön, denn diese Langeweile zeigt, dass das Thema gegessen ist, endlich. Vielleicht können jetzt ja mal die Menschen ins Blickfeld rücken, die gerade in Syrien erschossen werden. Oder die im Mittelmeer ertrinken. Das wäre doch auch mal gut als Thema für den 20.15-Film, oder?

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Mittwoch, 3. August 2011
Dietrich Bonhoeffer ist lieber gestorben
Im folgenden Text werde ich leise Kritik an der konspirativen Tätigkeit Dietrich Bonhoeffers in der Anti-Hitler-Verschwörung von Canaris üben. Bitte verstehen Sie das nicht falsch. Ich will damit keineswegs andeuten, dass er persönlich falsch gehandelt hätte – im Gegenteil: Bonhoeffer hat ein Leben von beeindruckender Logik, Konsequenz und Verantwortlichkeit geführt, geradlinig bis in den Tod. Daran kann kein Zweifel sein. Falsch finde ich aber, dass sich das Interesse an Märtyrerfiguren wie ihm so auf ihren Tod fokussiert, weniger auf ihre Ideen. So wie man bei Che Guevara besonders gern das „bolivianische Tagebuch“ liest, sich am letzten Trotz-Kampf ergötzt, als die Idee schon gescheitert war – und dieser Idee so die Leuchtkraft, die konkrete Relevanz für das eigene Leben raubt. Bei Bonhoeffer sind es dann die Gefängnisbriefe und das „Von guten Mächten ...“, die Theologie aus der Todeszelle, als hätte die uns Lebenden mehr zu sagen als die konkrete und lebbare Reform des evangelischen Glaubens, die Bonhoeffer in den dreißiger Jahren entwickelte.
Dazu passt, dass Bonhoeffer so eine Art Heiligenleben geführt hat und auch führen wollte. Er hat selbst erkannt, wie viel Eitelkeit in diesem Wunsch steckt und konnte doch nicht davon lassen. Die Banalität und Lächerlichkeit des normalen Lebens in einer Zweier-Beziehung hat er sich gespart und seine faszinierende Idee von einem erneuerten christlichen Glauben so von den Niederungen des Alltags getrennt. Schade.
Doch jetzt mal im Einzelnen: Dietrich Bonhoeffer wurde als später Sohn in ein kinderreiches, großbürgerlich-intellektuelles, sehr liberales Elternhaus hineingeboren. Damit war einerseits schonmal klar, dass er es zu etwas bringen würde im Leben, anderseits aber auch, dass er sich gegen seine älteren Brüder (und auch anders als seine meisten Schwestern) entwickeln würde: nicht die rationale Welt des Vaters, sondern die Religiosität seiner Mutter, einer Hofpredigerstochter, bestimmte die Zielrichtung. Er studierte Theologie und machte rasant Karriere im Uni-Milieu. Dabei kennzeichneten ihn aber nicht nur sein Ehrgeiz, sondern auch sein Charme und seine Jugend, vor allem aber seine unter Theologen ganz unübliche Liberalität. So hatte er z.B. (noch unüblicher!) eine ihm intellektuell ebenbürtige Freundin, die ebenfalls promovierte Theologin Edith Zinn.
Das einzige Problem war, dass er mit Anfang zwanzig noch zu jung war, um die sichere Professorenstelle an der Berliner Uni schon anzutreten. Man schickte ihn daher ein Jahr nach Amerika, wo er, der erfolgreiche Theologe, erstmals mit wirklich gelebtem Glauben in Kontakt kam: in den Gemeinden der Schwarzen in Harlem. Das krempelte sein Leben um, sein Fokus wechselte von der Wissenschaft zur Praxis des Glaubens, er begann, sich mit Meditation zu beschäftigen, plante eine Reise zu Mahatma Gandhi, entwickelte eine verblüffend einfache, faszinierende Idee, wie evangelischer Glauben wieder echt werden könnte: indem man nämlich die Wiedergeburt Christi als eine Wiedergeburt in der Gemeinde versteht, d.h. die Gemeinde selbst ist Christus. Und das bedeutet wiederum, dass Christ zu sein nichts anderes heißt als erstens gemeinschaftlich und zweitens wie Christus zu leben.
Leider kam Bonhoeffer das Jahr 1933 dazwischen und zerstörte seine ersten Schritte heraus aus dem goldenen Käfig: Die Jugendstube für Arbeitslose, die er 1932 in Berlin-Charlottenburg gründete, löste die SA auf, einige seiner Bekannten von dort musste er sogar in einer Gartenlaube verstecken, da sie als des Kommunismus verdächtig in Lebensgefahr waren. Den Plan, eine Pfarrstelle im Berliner Osten anzutreten, konnte er sich unter diesen Umständen natürlich abschminken.
Stattdessen tat sich ein neues Tätigkeitsfeld auf: Hitlers Versuche, die evangelischen Kirche gleichzuschalten, führten zur Konstitution der Bekennenden Kirche. Bonhoeffer nutzt die Situation, indem er diese heterogene Protestbewegung sammelt und zu einer Abspaltung von der rettungslos opportunistischen Staatskirche zu bewegen versucht. Er hofft, mit diesen Leuten seine Ideen von einer erneuerten Glaubensgemeinschaft realisieren zu können und übernimmt die Leitung eines Priesterseminars für die Bekenntnisbewegung. Fortan pendelt er zwischen Berlin, wo er an der Uni lehrt und bei den Eltern wohnt, und Finkenwalde bei Stettin, wo er im Seminar seine Praxis- und Gemeinschaftssehnsüchte lebt.
Ende 1935 werden die Seminare der Bekennenden Kirche dann offiziell verboten. Bonhoeffer muss sich aus der Bürgerlichkeit (die für ihn Berlin heißt) lösen. Er verliert den Job an der Uni und trennt sich von seiner Freundin, will nur noch für Finkenwalde leben. Schließlich haben seine Seminaristen auch keine Chance auf ein solches bürgerliches Leben: Sie werden später, wenn überhaupt, nur als schlecht bezahlte „Hilfsprediger“ eine Stelle finden. Aber so wie sie nicht ins bürgerliche Leben hinein finden, so findet Bonhoeffer nicht heraus: Er pendelt weiter zwischen Berlin und Finkenwalde. Nur die Uni ist endgültig verloren – und natürlich Edith Zinn.
Bonhoeffer schafft sich als Ersatz für die geplante offizielle Verbindung (ob nun Verlobung oder schon Hochzeit, darüber schweigen sich die Biografen aus) einen Mini-Männerbund in Finkenwalde, dessen Kern er und sein bester Freund Eberhard Bethge darstellen. Dieser „Bruderrat“ soll mit den wechselnden Seminaristen eine Kontinuität des Lebens im Glauben einüben, ganz nach den zuvor von Bonhoeffer entwickelten Ideen über die christliche Gemeinde.
Natürlich hat dieses Projekt eine gewisse Künstlichkeit, schon allein wegen des völligen Fehlens von Frauen, aber natürlich auch in seiner Isoliertheit von der gesellschaftlichen Realität im Lande. Während in Finkenwalde ein Handvoll junger Männer ein unabhängiges Christentum lebt, dreht die nazifizierte Kirchenleitung in mühevoller Kleinarbeit, aber äußerst erfolgreich ein Leitungsmitglied der Bekennenden Kirche nach dem anderen um und integriert es in die gleichgeschaltete Staatskirche. Gleichzeitig laufen die bekannten Diskriminierungsaktionen gegen die Juden und die immer offene Vorbereitung des Krieges.
Bonhoeffer, der auf keinen Fall in den näher rückenden Krieg ziehen will, gibt auf und plant seine Emigration in die USA, die er vor sich selbst als Studienreise mit diffusem Ziel tarnt. Erst in New York begreift er, dass er bereits emigriert ist, dass er seine Familie in Berlin und seine Zweitfamilie in Finkenwalde auf Jahre nicht wiedersehen wird. Das hält er nicht aus und kehrt um. Es ist der Sommer 1939.
Zurück in Deutschland fährt er erstmal mit seinem Seminar an die Ostsee baden. Dann kommt mit dem Angriff auf Polen der Krieg. Finkenwalde liegt direkt im Kampfgebiet, das Semester kann nicht beginnen. Kurz darauf versiegelt die Gestapo das Haus in Finkenwalde. Die ersten Seminaristen werden eingezogen. Das Projekt ist gestorben.
Aber für den Chef ergibt sich eine neue Perspektive. Sein Schwager, Hans von Dohnanyi, arbeitet für den Geheimdienst der Wehrmacht und wirbt ihn als Agenten, zunächst um ihn vor einer möglichen Einberufung zu retten. Bonhoeffer weiß zu diesem Zeitpunkt schon, dass der Dienst im Geheimen gegen Hitler konspiriert, sein Schwager ist der Kern der Verschwörung. Natürlich tut er bei dieser Aktion mit, so gut er kann. So wie der Bruderrat ein Ersatz für die Ehe war, so ist die Verschwörung der Ersatz für den Bruderrat. Am Ende stehen die Verhaftung im Jahr 1943 und der Tod als Märtyrer.
Also, ich finde, das war einfach nicht Bonhoeffers Sache, diese Verschwörung, das war die Sache seiner Schwager und ihrer Kollegen – die nämlich, anders als der bekennende Pfarrer, in verantwortlichen Stellen des Staates saßen und ihrer Verantwortung weiter nachkamen, als die Politik ihres Staates ins Unverantwortliche abglitt. Natürlich ist es ehrenhaft, was Bonhoeffer getan hat, als er unter Einsatz seines Lebens dieses Projekt unterstützte – nur seiner Idee, der Idee eines gelebten Christseins, lief sie eigentlich zuwider, wie schon, wenn man ganz ehrlich ist, das Projekt seines privaten Finkenwalder Bruderrates.
Dass da irgendwas verkehrt gelaufen ist, das erweist sich meines Erachtens am Beziehungsproblem: Von seiner wirklichen Partnerin trennt er sich aus altmodischen bürgerlichen Rücksichten (die sie nicht einmal geteilt hätte – wie Renate Wind recherchiert hat) à la „Ich kann ihr keine Sicherheit bieten.“ Stattdessen verbindet er sich Jahre später als über 40-Jähriger aufs Konservativste (vorherige Absprache mit der Brautmutter) mit der 18-jährigen Tochter eines Bekannten.
Nein, die Flucht in die spätpubertäre Männergemeinschaft in Finkenwalde kann ebenso wenig eine wirkliche christliche Gemeinschaft ersetzen wie die Flucht ins Politikspiel der erwachsenen Männergesellschaft. Bonhoeffer hätte heiraten sollen, und zwar seine ebenbürtige Partnerin. Ohne die Ambivalenz geschlechtlicher Beziehung (wie auch immer diese organisiert sein mag) ist das doch alles nichts wert.

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Montag, 11. Juli 2011
Sendepause
Ich wollte mich nur mal wieder melden. In meinem realen Leben passiert grad viel, beruflich jedenfalls, weniger in der Beziehung, da bei meiner Frau auch grad beruflich viel passiert. Hoffen wir, dass wir bald die Erfolge genießen können.
Aber das ist ja nicht das vorrangige Thema meines Blogs, da geht es ja um das Geistige. Ich wusste schon, worüber ich als Nächstes schreiben wollte: über Dietrich Bonhoeffer (ja, ich weiß, ich bevorzuge nunmal die jeweils unaktuellsten Themen). Denn ich hatte mal im Zuge meines Referendariats eine Bonhoeffer-Biografie gelesen, die mich schwer beeindruckt hat. Und jetzt begegnete sie mir in einer Grabbelkiste wieder und ich hab sie mir gekauft, wieder gelesen und war wieder begeistert. Nur in einem Punkt nicht: Bonhoeffer und die Frauen. Da schien mir die Autorin, Renate Wind, doch etwas idealisiert zu haben. Und da ich grad nichts zu lesen hatte und noch größere Lektüre für den Urlaub (ab nächste Woche schon!) brauchte, kaufte ich mir gleich noch die beiden üblichen wissenschaftlichen Bonhoeffer-Biografien, nur um gleich nach der ersten Prüfung festzustellen, dass diese in punkto Frauen nicht einmal idealisierten, sondern schlicht gänzlich ignorierten. Und doch hat mich die Sache gepackt (vielleicht vermessen, da ich die die theologischen Feinheiten weder verstehe noch zu schätzen weiß): Ich lese jetzt die drei Biografien parallel und hoffe, dass irgendwas dabei rauskommt.
Vielleicht lasse ich mich ja am Ende taufen. Lieber wär mir allerdings, wenn ich etwas Sinnvolles schreiben würde. Ob das ein Blog-Beitrag wird, das weiß ich allerdings noch nicht.
Jedenfalls muss ich Sie, meine Leser, bitten, noch etwas zu warten. (Auch bei Damenwahl, um nur ein Beispiel zu nennen, hats ja etwas länger gedauert – und dann hat sich das Warten doch gelohnt.) Bei mir ist jedenfalls erstens Leben angesagt, zweitens Urlaub, drittens Lektüre. Aber ich bin sicher, ich komme auf mein Blog zurück.

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Sonntag, 19. Juni 2011
Wann ist eine dokumentarische Collage authentisch?
In der Neuen Zürcher Zeitung von gestern (18.6.) erklärt Pepe Danquart seine künstlerische Haltung. Auf die Kritik, sein Joschka-Fischer-Film lasse eine kritische Distanz vermissen, meint er, „das sei keine Biografie, schon gar keine journalistisch aufbereitete, sondern ein Stück Zeitgeschichte, mit einem charismatischen Erzähler.“ Ein interessantes Argumentationsmuster, besonders für einen Linken.
Ein Dokumentarfilm darf also auf kritische Distanz verzichten, ja, er muss es sogar, wenn er zum Kern der Sache, der „Zeitgeschichte“, vordringen will. Wenn der Regisseur des Films seinen eigenen Kopf verwendet, dann ist das „journalistische Aufbereitung“, eine künstliche Zugabe, die den Blick auf das Wesentliche verstellt. Echtheit garantiert der „charismatische Erzähler“, der damals dabei gewesen ist. Dessen Sicht der Dinge darf der Regisseur blind folgen; sie ist akzeptabel, weil sie charismatisch ist – mit anderen Worten: weil sie funktioniert.
Diese Haltung hat aber, so finde ich, zur notwendigen Folge, dass die Wahrheit des Films eine Spielfilm-Wahrheit, eine fiktionale Wahrheit, ist. Das ist an sich nichts Verkehrtes. Nur: Eine subjektive Erzählung als „Zeitgeschichte“ zu verkaufen – das finde ich unehrlich.
Wie aber anders? Dafür habe ich kürzlich im Fernsehen ein großartiges Beispiel gesehen: „Heinz und Fred“, einen Film über ein merkwürdiges Vater-Sohn-Verhältnis auf dem Lande in Thüringen. Auch dieser Film wurde im Fernsehen als Dokumentarfilm annonciert – er begann aber damit, dass die ersten dokumentarischen Bilder mit einem Off-Erzähler unterlegt wurden, der – in tiefsten Thüringisch – eine märchenhafte Einleitung sprach und damit alles Folgende deutlich als Märchen kennzeichnete. Auch später strukturierte dieser Märchen-Erzähler die Geschichte. Der Zuschauer wusste Bescheid, dass die Handlung vom Regisseur ausgedacht, wenn auch aus echtem Dokumentarmaterial montiert worden war. Und daher war ich gar nicht böse, als ich merkte, dass dieser offenbar ganze Lebensbereiche aus dem Familienportrait ausgespart (oder erst an dramaturgisch effektvoller Stelle eingesetzt) hat, dass er Szenen chronologisch umgestellt, dass er aus seinem Material eine Geschichte gebastelt hat, so wie das heutzutage alle – von Guido Knopp bis Heinrich Breloer – so tun in ihren unsäglichen Dokumentarspielen. Nur: Er ist von Anfang an als Interpret präsent, er bietet uns seine Sicht der Dinge an – und das ist ein ehrliches Angebot. Das kann ich annehmen, diese Montage ist echt.

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Dienstag, 7. Juni 2011
Stasi - das sind immer die anderen
In meiner alten Heimat Brandenburg wird mal wieder über die Stasi diskutiert. Jetzt hat man also herausgefunden, dass eine Richterin – Irina Weiße – einst als IM für die Stasi berichtete, als sie noch als Leistungssportlerin dem Sportclub Dynamo angehörte. Welche Überraschung! (Anmerkung für Westbürger: Dynamo gehörte direkt der Stasi). Komisch, dass das niemandem aufgefallen ist, solange die CDU noch den Justizminister stellte.
Ja, dieses Versäumnis sieht die CDU auch ein und widmet sich nun, wo sie die Regierungsbeteiligung verloren hat, verstärkt der Suche nach Stasi-Seilschaften, jedenfalls im Lager des politischen Gegners. Dabei klingt die Vita ihrer eigenen Fraktionschefin auch nicht ganz unverdächtig: Sie begann ihre Karriere als Geschäftsführerin einer GmbH, die in den neunziger Jahren in Golm gegründet wurde, einem Familienunternehmen, wie sie selbst sagt. Nun sind sicherlich nicht alle Golmer GmbHs, die damals gegründet wurden, direkte Nachfolgeunternehmen der dortigen Stasihochschule, die ihre Mitarbeiter 1990 in die Selbstständigkeit entlassen musste. Aber doch immerhin die meisten. Eine Überprüfung wäre es wert. Oder, liebe CDU von Brandenburg?
...
P.S. am nächsten Morgen: Ich hoffe, liebe Leser, dass Sie beim Lesen meines Textes aufgestöhnt haben: Oh, nein, jetzt fängt der damals auch noch an mit Denunziationen - diese Ossis sind doch alle gleich! Denn so ist es - und trotzdem schaffe ich es nicht, den Text einfach wieder zu löschen. Gift erzeugt Gift. Diese künstlich empörte Stasi-Jägerei macht mich einfach wütend und unsachlich, eben weil sie nichts mit Aufklärung zu tun hat und nur die andere Seite eines großen Verschweigens darstellt. Mir geht es auch gar nicht um irgendeine Fraktionschefin, mich nervt das ganze politische Klima in diesem Ossiland, in dem sich niemand ehrlich zu erinnern scheint, sofern er nur irgendein politisches Amt erlangt hat.

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