Freitag, 10. September 2010
Die Geschichte von Herrn E.
Ich bin ja verantwortlich für die Alphabetisierungkurse und im Kurs 40 gab es ein Problem, und zwar mit Herrn Y., einem älteren Afghanen bäuerlicher Ausstrahlung. Teilnehmer beschwerten sich, dass er stinke, wollten mit ihm nicht in einem Raum sitzen. Das erzählte mir der Dozent ratlos. Ich war es auch. Immerhin schlug mein Herz für Y: Ich hatte ihn eingestuft – er war Ende 50 und tatsächlich Analphabet: auch in seiner Muttersprache konnte er nur seinen Vornamen schreiben - und ich hatte ihm in meinem Anfängerkurs die ersten Buchstaben beigebracht. Von Stinken war mir nichts aufgefallen, allerdings: Ich bin in der Frage auch toleranter als im desodorierten Westdeutschland üblich. Was also tun? Ich schickte meine Kollegin J. in die Klasse, eine Polin und entsprechend etepetete. Sie setzte sich unter einem Vorwand neben Y. und befand: unangenehmer Geruch spürbar, aber im vertretbaren Bereich. Fast gleichzeitig erreichte mich ein Anruf von Y.s Sohn: Sein Vater werde von Frau M. gemobbt und wolle nicht mehr zum Kurs kommen. Bei mir schrillten die Alarmglocken: Ein Teilnehmer weniger bedeutet einen spürbaren Einnahmeverlust für die Firma. Ich beraumte eine Ansprache an, eine heikle Sache, wenn man es mit Sprachanfängern aus aller Herren Länder zu tun hat und selber nichts als Deutsch kann. Aber es wurde einfacher als gedacht: Die Iranerin M. und Y. kristallisierten sich schnell als die eigentlichen Kampfhähne heraus, sie sprachen dieselbe Sprache. Frau M., die Bildungsbürgerin unter Stress (sie befand sich gerade in einem hässlichen Scheidungskrieg) und Y., der Bauer, der mit Hartz IV und seinem Minijob in einer Restaurantküche ganz gut klar kann, solange der Sohn ordentlich seine Ausbildung machte. Sie kamen aus zwei Welten und sprachen dieselbe Sprache - was die gegenseitige Abneigung leider nur verstärkte. M. empfand Y. als ihren Landsmann und das war ihr peinlich.. Sie benahm sich wie eine persische Sarrazinin. Aber zum Glück sprach auch Herr E. Persisch und er fand sich bereit zu moderieren. Ihm ist es zu verdanken, dass die Sache nach zehn Minuten beigelegt war. So weit, so gut,.

Ein dreiviertel Jahr später war Prüfung, die ich mit einer Kollegin durchzuführen hatte. Und da waren sie wieder. Zwar nicht Y., der hatte aus Angst vor der Prüfung, die er einfach nicht bestehen konnte, einen Monat zuvor den Kurs verlassen. Und ich hatte auch ein paar Telefonate mit der Arge, der ich Gott sei Dank verständlich machen konnte, dass dieses Verhalten nachvollziehbar und jedenfalls keine Integrationsunwilligkeit ist. Frau M. aber war da. Im ersten Teil der Prüfung muss der Prüfling sich und seine Familie kurz vorstellen. Ich machte mich auf giftige Statements über ihren Ex-Ehemann gefasst. Aber etwas ganz anderes geschah. Sie brach in Tränen aus. "Ich habe zwei Töchter. Ich habe sie im Iran zurückgelassen. Ich weiß nicht, was mit ihnen ist. Ich halte das nicht aus. Ich habe eine Therapie begonnen. " Und wieder Heulen.

Aber damit nicht genug. Kurz darauf war Herr E. da. Er begann seine Vorstellung mit: "Mein Leben ist kaputt." Dann erzählte er: Als Jugendlicher hatte er bei den Volks-Mujahedin gekämpft (das hatte ich gar nicht gewusst, dass es die nicht nur im Iran gegeben hatte, dass es auch linken Widerstand gegen die Russen in Afghanistan gegeben hatte, nicht nur den durch Pakistan und den Westen unterstützten rechten Widerstand der Taliban). Nach Abzug der Russen gab es einen ungleichen Konkurrenzkampf der Anti-Russen-Aktivisten. Herr E. malte in Herat Anti-Taliban-Parolen an Häuserwände - und setzte sich sofort in Richtung Iran ab. Die Taliban erschossen ersatzweise seinen Vater und seinem Bruder. Herr E. schlug sich bis nach Deutschland durch, konnte seine Geschichte nicht beweisen und bekam jeweils eine vierteljährliche Duldung und einen Schlafplatz im Ausländerwohnheim. Ohne Arbeitserlaubnis, ohne ein Recht auf einen Deutschkurs. Acht Jahre lang. Dann gingen deutsche Soldaten nach Afghanistan, und aus schlechtem Gewissen bekamen die Afghanen in Deutschland alle ihren "Aufenthalt". Auch Herr E. Zu spät. Er ist Mitte dreißig, hat bescheidene deutsche Sprachkenntnisse und nicht die richtigen Kontakte. Seine Moderationsfähigkeit, seine Freundlichkeit helfen ihm da wenig.

Ob das alles stimmt das weiß ich auch nicht. Ich hänge mich nie in die Lebensgeschichte meiner Teilnehmer. Aber so habe ich es gehört und ich wollte es einfach einmal aufschreiben.

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Donnerstag, 9. September 2010
Jeder kehre vor seiner Tür
Eigentlich wollte ich mich nicht zur Sarrazin-Debatte äußern. Ich hatte keine Lust, seine Thesen nun genau zu prüfen. Ob die Statistiken, die er zitiert, nun frei erfunden, manipuliert oder nur kühn interpretiert sind, das im Einzelnen nachzuprüfen, macht keinen Spaß. Da gibt es Journalisten, die dafür bezahlt werden nachzurecherchieren, und das haben Sie ja auch getan.
Was ich zur allgemeinen Diskussion beitragen kann, sind meine eigenen Erfahrungen mit Migranten, Erfahrungen eines Deutschen, wie er deutscher nicht sein könnte, und vor allem: Erfahrungen von Angesicht zu Angesicht und nicht aus der Vogelperspektive, wie sie Politiker und Statistikenbefrager bevorzugen und aus der die Betroffenen meist recht klein erscheinen.
Dass ich also so eine „Kopftuchfrau“ zum ersten Mal aus nächster Nähe gesehen habe, ist noch gar nicht so lang her. Mein Sohn war anderthalb, meine Frau wollte wieder zu arbeiten anfangen und wir suchten eine Tagesmutter. Nach einigem Zögern entschieden wir uns für eine Türkin. Die Alternative wäre eine etwas schmuddelige Deutsche gewesen oder eine perfekt durchorganisierte Zehn-Kinder-Einrichtung, die so sehr nach „KITA“ roch, dass es einfach gar nicht ging. Das ging im Februar los, es schneite manchmal und ich musste mein Kind zu halb acht früh per Fahrrad nach Ottensen kutschieren, wo Frau Z. im Morgenmantel die Tür öffnete und den Kleinen übernahm. Erst später, als einiges Vertrauen gewachsen war, gestand sie, dass dann immer seine kalten Händchen an den Busen nahm und nochmal mit ihm ins Bett verschwand, bis die anderen Kinder kamen. Frau Z. war super, obwohl sie nur so viel Deutsch radebrechen konnte, wie sie von den Tageskindern lernte. Die Skepsis aus unserem Umfeld („Gerade jetzt in der so wichtigen Phase der frühkindlichen Sprachentwicklung!“) erwies sich als unbegründet: Mein Sohn (2. von rechts) hat sehr gut Deutsch gelernt – und sein frühkindliches Türkisch (er konnte mehr als drei Sorten Börek unterscheiden) hat er leider schon völlig vergessen.

Und diese Frau soll eine Gefahr für Deutschland sein? Es gab nun mal nicht genug Arbeit in der Türkei damals. Ihr Mann fand einen guten Job in Hamburg (den er bis heute inne hat), da hieß es für sie mitkommen und Kinder großziehen. Natürlich hatte sie Sehnsucht nach zu Hause. Als sie sehr krank wurde, dachte ich sogar, dass es diese Sehnsucht war, die fast hat sterben lassen. Übrigens: Ihre Tochter erzählte, dass der Notarzt, als sie ihn rufen musste, zuerst überzeugt war, natürlich wieder zu so einer weinerlich-depressiven Türkin geholt zu werden. Erst als er vor ihr stand, wusste er, dass es um Leben und Tod ging. Diesen Blick – von Angesicht zu Angesicht – würde ich auch Herrn Sarrazin empfehlen.
Natürlich gibt es auch andere. Es gibt Leute, die aus derselben Verlegenheit heraus, in Deutschland zu sein und in Deutschland isoliert zu sein, nicht auf die Idee kommen, Tageskinder aufzunehmen, sondern sich – was näher liegt – zu gekonnten Sozialgeldempfängern und -ertricksern entwickeln. Und Leute, die anfangen Deutschland zu hassen. Meistens sind das dieselben.
Ich erinnere mich an einen Mann (aus Afghanistan), der Frau und Schwiegertochter zu mir in den Kurs schickte. Die beiden Frauen teilten sich in die Betreuung eines Babys – die Mutter kam vormittags, die Großmutter nachmittags – er selbst kümmerte sich um die Formalien, Bescheinigungen usw., sein Schwiegersohn arbeitete. Jetzt war die Großmutter (deren Kurs noch nicht begonnen hat) krank, also kann die Mutter nicht zur Schule kommen. Ich sage zu ihm: „Bringen Sie mir eine Krankschreibung Ihrer Frau. Das genügt.“ Darauf er: „Nein, das ist zu kompliziert.“ Und erscheint am Folgetag mit einer Krankschreibung für seine absolut gesunde Schwiegertochter. Diese selbe Schwiegertochter hat übrigens später den Termin für die schriftliche Prüfung verschlafen. Ich sage zu ihr: „Warum sind Sie nicht zur Prüfung gekommen?“ – „Mein Mann hat mir nicht gesagt, dass Prüfung ist.“ Na super! Ich: „Entweder Sie legen mir eine gültige Krankschreibung vor oder Sie bezahlen die Prüfungskosten. Das sind 95 Euro.“ Sie: „Kein Problem.“ Und zückt einen 50-Euro-Schein. Die Frau hat in einem Jahr Deutschunterricht nicht begriffen, dass 50 Euro weniger als 95 Euro sind. Weil sie nicht mit Geld umgehen darf. Weil ihr Mann ihr gesagt hat: Wenn es Probleme gibt, zückst du diesen Schein. Da krieg ich so einen Hass! Und sage: Dieselbe Sorte ist es, die mir dann erzählt: „Ist das nicht schrecklich, da in Dresden, wo einfach eine Muslimin erstochen wurde, mitten im Gerichtssaal. Furchtbar, dieses Deutschland!“ Als ich erwidere: „Ich finde es gut, dass in Deutschland eine Muslimin, wenn sie beleidigt wird, vor Gericht gehen kann und dort Recht bekommt.“, da stellt sich heraus, dass die Empörte über den Sachverhalt gar nicht informiert ist, sondern nur irgendwelche hetzerische Propaganda nachgeplappert hat.
Und da sind wir beim Punkt: Es gibt diese Leute, auf die Sarrazin abzielt. Aber man erkennt sie nicht am Kopftuch (das tragen andere auch), man erkennt sie an ihrer Haltung. Diese Leute sind nicht fundamentalistisch, kulturalistisch oder was auch immer – nennen wir das Kind doch beim (deutschen) Namen: Sie sind rechts. So rechts wie Sarrazin oder sogar noch mehr. Und das ist kein Wunder. Ich hatte in der Vergangenheit Anlass, mich mit Danzig und Königsberg vor dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. Die Leute dort waren mehrheitlich rechts, nationalistisch, Nazianhänger. Offenbar korrumpiert die Trennung von der Heimat das liberale Denken. Dieses Phänomen beobachte ich auch bei Menschen aus dem arabisch-persischen Raum und der Türkei. Sie fangen an, die Familie, Gott, die Hierarchie höher zu schätzen als ihre eigenen Angehörigen. Die Folge ist, dass Analphabetinnen aus Kamerun in der Regel doppelt so schnell lernen wie Analphabetinnen aus Pakistan. Gott sei Dank sind nicht alle so. Es gibt da auch Frauen, die könnten direkt aus dem wunderbaren „Women without men“ entsprungen sein, es gibt wunderbare Menschen wie Herrn E. aus Afghanistan, dessen Geschichte ich nochmal extra aufschreiben muss.
Und es gibt auch in Deutschland andere Menschen als diesen ideologischen Sarrazin, der, so scheints, lieber altklug über Probleme redet als sich diesen Problemen ehrlich zu konfrontieren. Wie kommt der überhaupt dazu, so auf Menschen herabzublicken, die er gar nicht kennt?! Da könnte ich mich genau so hinstellen und behaupten, er, Thilo Sarrazin, wäre als Bundesbanker per se und persönlich Schuld daran, dass ich so wenig Geld habe. Da gibt es sicher auch irgendwelche Statistiken, die das beweisen. Aber, um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung von Finanzen. Also behalte ich meine sozialen Ressentiments für mich. Und das sollte er auch tun.
Ein jeder kehre vor seiner Tür und rein bleibt jedes Stadtquartier.

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Über dieses Blog
Nachdem ich mich drei Jahre damit begnügt habe, einfach drauflos zu bloggen, hier nun einige Erklärungen zu diesem Vorhaben:
1. Als ich endgültig einsah, dass ich kein Schriftsteller mehr werde, und mir also vornahm, weitere Anläufe zu unterlassen, musste ich schnell doch noch einen längeren Text verfassen. Als der aber auch keinen Leser fand, empfahl mir Zeitnehmer, es doch mal bei blogger.de zu versuchen. Also stellte ich den Text hier als „Soldat mit Abitur“ ein – und dann bin ich hängen geblieben. Als einstiger eifriger Tagebuchschreiber (die Jahre 1978 – 1999 sind handschriftlich dokumentiert und harren noch der Veröffentlichung) fand ich mich schnell wieder in die kurze essayistische Form und zurück zu der Freude, schriftlich Dampf abzulassen, während ich im Leben oft schweige (sofern kein Alkohol fließt oder Frauenaugen als Stimulanz dienen).
2. Ich bin sehr froh, dass ich hier einige wenige Leser habe – und immer interessanten Lesestoff. Anfangs habe ich das sogar auf meiner Festplatte gesammelt – also wenn jemand einen Verleger für „Die schönsten Blogger.de-Texte 2007-09, ausgewählt von damals“ weiß, soll er sich melden.
3. Meine Themen sind, was mich nicht loslässt: meine letztendlich nicht aufarbeitbare DDR-Vergangenheit, meine spannende und stressige Berufs-Gegenwart unter ausländischen Analphabeten und natürlich – wie bei so ziemlich jedem männlichen Schreiber – gelegentliche Anmerkungen zu Politik und Literatur.
4. Schreiben können Sie mir unter meiner Notadresse für alle Fälle (vollzeitjob-ät-gmx-punkt-de), die ich aber höchstens einmal monatlich besuche.
... ach, und natürlich: Meine Texte gehören mir und sollten nicht ohne Zitatangabe weiterverwendet werden. So wie ich natürlich auch meine blogger.de-Sammlung nie ungefragt in die Welt rausposaunen würde.
Aber was sich gehört, wissen Sie ja so gut wie ich. Ich wollte's nur noch mal gesagt haben.

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Dienstag, 17. August 2010
Architektur und Unfreiheit
(Dies ist eine erweiterte Version meiner Antwort auf prieditis in einer Architekturdiskussion bei Stubenzweig.)
In meiner Studentenzeit habe ich auch einige Semester Kunstgeschichte belegt, aus dieser Zeit möchte ich eine Anekdote zum Besten geben. Ich hatte mich für die Arbeitsgruppe eines Professors gemeldet, der ein Buch über „Norddeutsche Backsteinarchitektur 1850 – 1945“ schreiben wollte, weil mich diese stimmungsvoll-autoritäre Architektur nicht unberührt lässt. Natürlich witzelte ich über das Thema – ich sagte, ehrlicherweise müsste es „Preußischer Schul- und Kasernenbau von der Niederschlagung der 48er Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs“ heißen. Unser Professor aber war begeistert. Er zeigte uns massenweise Dias von absolut rechteckigen Kirchen, Krankenhäusern und Schulen und meinte mit leuchtenden Augen: „Spüren Sie hier den Nachklang des Schinkelschen Rationalismus?“
Natürlich hatte er Recht. Seine Behauptung war trotzdem absurd. Denn was in der Politik des 19. Jahrhunderts passierte, davon blieb auch die Backsteinarchitektur nicht verschont: Das autoritäre Element im Rationalismus überwucherte alles andere und endlich auch den Rationalismus selbst. Kein Wunder, dass dieser Professor ein treuer Parteisoldat war (1989 jammerte er: "Da hat man so viele Jahre alles getan für seine Partei - und jetzt lassen sie einen so hängen!"), eben einer, der in der Architekur letztendlich die Wiederspiegelung der Macht liebt, auch wenn er sich selbst einredet, er würde die Vernunft darin lieben. Es ist eigentlich die gleiche Geschichte wie mit dem berühmt-berüchtigten Plattenbau (für den die DDR so gern gescholten wird, obwohl er in Westdeutschland genauso rumsteht). Auch im Plattenbau könnte man mit einigem guten Willen einen letzten Nachklang des Neuen Bauens, der klassischen Moderne, erspüren. Nur gibt es eben Nachklänge, in denen sich das Original nur als Farce wiederholt, wie Marx so schön sagte.

Also abhaken und verachten, all die vernünftig obrigkeitsstaatliche Architektur? Das find ich auch wieder nicht richtig. Auch nach Schinkels Tod ist noch mitunter guter Backsteinbau entstanden im Norden, z. B. die Unibibliothek in Greifswald, und es gibt sogar auch guten Plattenbau nach 1945. Stubenzweig erwähnt mit Recht die Hamburger Grindelhochhäuser.
Manchmal bedauere ich, dort nicht eingezogen zu sein. Aber eigentlich bedauere ich es auch nicht. Als ich 1990 aus der DDR nach Hamburg kam, vermittelte mir eine ehemalige Kommilitonin den Kontakt zu dem Vermieter einer Einzimmerwohnung dort. Ich besah mir das Haus flüchtig von außen und konnte darin nur Marzahn und Rostock-Lichtenhagen erblicken. Ich lehnte dankend ab und zog in eine feuchte Wohnung mit Dauerbrandofenheizung nahe der St.-Pauli-Kirche. Diese Wohnung liebte ich: Es war meine erste eigene.
So habe ich meine Haltung der letzten DDR-Jahre – die Verhältnisse kritiklos akzeptieren und die Mitarbeit so weit möglich verweigern, ironische Witzchen machen und vor allem: immer nach unten, immer weg vom Zentrum – im Westdeutschen konserviert. Besonders sinnvoll war diese Haltung schon 1988 nicht. 1989 wurde sie vollends lächerlich, wie Andreas Dresen in seinem Debütfilm “Stilles Land“ eindringlich darstellt, einem Film, in dem ich mich völlig wiedererkenne.
Na ja, vielleicht ist ja dieses Blog ein erster Versuch, die Verweigerungshaltung aufzugeben und ein bisschen doch mitzureden.

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Dienstag, 10. August 2010
Eine Innenansicht der Gauck-Behörde, Teil 4 und Schluss
Das ist das Tragische an dem Buch, dass einen der subjektiv übersteigerte Blickwinkel des Autors dazu verleitet, seine Beobachtungen nicht ernst zu nehmen. Dabei steht alles drin in dem Buch. Wir lernen den wohlwollenden, aber eitlen Gauck kennen, der gern gute Anzüge trägt und damals schon vom Bundespräsidentenamt träumt, den jovialen, korrekten Dr. Geiger, der Fuchs beschwichtigt, die „Pulloverbande“ der Bürgerrechtsbewegung – und natürlich die Stasi-Typen: die Offiziere, die jetzt Sachlichkeit und Spezialistentum raushängen lassen, die kleinen Aktenträger, die das nun, nach `89, immer noch tun, und die vielen, vielen IM, die sich ihrer Clique immer noch verbunden fühlen und in deren Sinne agieren. Wenn man sich nicht abschrecken lässt von dem larmoyanten Bürgerrechtler-Pathos, wenn man auch die Nebensätze liest, dann ist alles da, was man über die Gauck-Behörde und die DDR-Bürgerrechtler wissen muss, auch die Selbstreflexion, die Zweifel, die Zurücknahme. Fuchs findet ein großartiges Bild für die Situation, in der sich für ihn alles änderte: als er exmatrikuliert, aus der Partei geworfen und damit aus der DDR-Gesellschaft ausgestoßen war. Damals fand er mit Frau und Tochter Unterschlupf in Robert Havemanns Gartenhaus in Grünheide. Und vielleicht wurde er deshalb kurz darauf auch so sehr gequält. Havemann und Biermann konnte man mit letzter Konsequenz nicht an den Kragen, die waren zu prominent, hatten zu gute Kontakte. Aber Fuchs, der musste es ausbaden. Er berichtet vom Zusammenleben in Grünheide, von der Sickergrube, die das alles nicht fassen konnte (die Babywäsche, die Waschmaschinenladungen), vom Sumpf zwischen Gartenhaus und Havemanns Haus. Und endlich auch von Havemanns Berichten für westliche und östliche Geheimdienste, damals in den fünfziger Jahren, bevor er sich lossagte und entsprechend dafür bestraft wurde.
Fuchs selber war frei von solchen Eitelkeiten. Für mich bleibt er ein Held.

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Montag, 9. August 2010
Eine Innenansicht der Gauck-Behörde, Teil 3
Man sieht, es kann nicht gelingen, was Fuchs sich vornimmt. Warum nur tut er es? Wahrscheinlich kann er nicht anders. Mir scheint, er ist zu sehr verletzt, zu tief gedemütigt worden von seinen Häschern, als dass er je von ihnen loskommen kann. Als ich in den achtziger Jahren Anfang zwanzig war und das noch ziemlich verboten, waren Fuchs‘ „Gedächtnisprotokolle“ für mich ein wesentliches Leseerlebnis, die Unvoreingenommenheit, Genauigkeit und Unbestechlichkeit seines Blicks faszinierten mich, und ich vermute, diese Eigenschaften sind auch der Grund, weshalb kein anderer DDR-Regimekritiker – kein Biermann, kein Loest, keine Bohley – von der Stasi mit einem derart infernalischem Hass verfolgt wurde. Fuchs findet u. a. einen IM-Bericht folgenden Inhalts über die Zeit nach seiner Ausbürgerung: Der IM berichtet von einem Gespräch mit dem für Fuchs zuständigen SPIEGEL-Redakteur. Der meint, Fuchs werde langsam paranoid, sehe sich auch im Wedding überall von Stasi umzingelt. Aber er hätte das durch den Staatsschutz prüfen lassen – da seien keine Spitzel in seiner Nähe. Tatsächlich war Fuchs in Westberlin von 40 IM umgeben, einige sägten an seinem Auto, andere zündeten einen Brandsatz vor dem haus, als seine Tochter zur Schule ging.
Ich glaube, man kann – Unbestechlichkeit hin oder her – sowas nicht erleben, ohne ein bisschen die Relationen zu verlieren. Fuchs hofft, dass sich das Blatt gewendet haben könnte. Das hat es tatsächlich, aber er kann nicht verstehen, dass den neuen Eliten stabile Verhältnisse wichtiger sind als eine konsequente Verfolgung der Täter. Und in seiner Wut, dass man nun, in der Bundesrepublik, vieles gelassen unaufgeklärt lässt, verrennt er sich völlig. So ist ein nicht unerheblicher Teil seines Buches dem ungeklärten Tod seines Jenaer Mitstreiters Matthias Domaschk gewidmet. Auch die Staatsanwaltschaft nach der Wende hat den Fall nicht klären können, nun versucht es Fuchs – und scheitert auf der ganzen Linie. Doch was er dabei, quasi unterwegs, noch alles an Details herausfindet, ist dennoch aufschlussreich.
Es war 1981. Die Stasi bekam die Jenaer Oppositionsgruppe einfach nicht unter Kontrolle (etwas in der DDR ganz Ungewöhnliches), stand entsprechend unter Erfolgsdruck. Da reisen zwei davon am Wochenende nach Berlin – zu einer privaten Geburtstagsfeier – aber das weiß die Stasi nicht und argwöhnt schlimme Aktionen, da in Berlin grade ein SED-Parteitag läuft (ganz typisch, dieser Irrtum, wie wichtig die ihre albernen Politshows nahmen, ein Leben jenseits davon konnten sie sich nicht vorstellen). In Jüterbog holen sie die Leute aus dem Zug, schleppen sie ins Bezirksquartier nach Gera, verhören sie zwei Tage und zwei Nächte, müssen aber ihren Irrtum einsehen und sie laufen lassen. Damit sie aber wenigstens irgendeinen Erfolg melden können, pressen sie einem von ihnen, Matthias Domaschk, noch eine IM-Verpflichtungserklärung ab – mit welchen Methoden, das kann später nicht mehr geklärt werden. Eine Stunde später, Domaschk war einige Zeit unbewacht in einem Raum, ist der Mann tot, erhängt. Selbstmord? Fuchs zweifelt daran und findet jede Menge Ungereimtheiten. Zunächst empört ihn, dass alle beteiligten Stasi-Leute sich gegenseitig decken und hält dies für eine besondere Stasi-Infamie. Falsch! Ein solches Verhalten ist, so mies es ist, auch nahe liegend und schon auf vielen Polizeistationen auf der ganzen Welt beobachtet worden, auch auf bundesrepublikanischen. So etwas kann leicht passieren, wenn es nur parteiische Beteiligte gibt, die einander kollegial verbunden sind und die gemeinsam gehandelt haben, so dass keiner ganz ohne Schuld ist. Fuchs beschäftigt sich auch mit der Untersuchung des Falls durch die bundesdeutsche Staatsanwaltschaft Erfurt nach 1990. Er weist nach, dass diese bei der erneuten Vernehmung und Aktenprüfung auf plumpe Stasi-Lügen hereingefallen ist, und er zeigt, dass und warum sie darauf hereinfallen wollte. Natürlich ist das unschön (bei genauerem Hinsehen vermutlich sogar rechtswidrig), aber stasifreundliche Tendenzen bei einer ostdeutschen Staatsanwaltschaft finde ich nicht besonders verwunderlich. Fuchs setzt sich hier selbst ins Unrecht, indem er vergeblich einen Mord zu beweisen versucht, der vermutlich gar keiner gewesen ist. Und er zementiert dieses rhetorische Eigentor, indem er das am Ende der ellenlangen Ausführungen auch eingesteht. Letztendlich lenkt er damit selber von der Tatsache ab, dass die Geschichte von ungesühnten Straftaten wimmelt (von der Freiheitsberaubung durch die Transportpolizei am Beginn bis hin zur Rechtsbeugung durch die Erfurter Staatsanwaltschaft am Ende). Deshalb soll das hier noch einmal betont werden.

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Sonntag, 8. August 2010
Eine Innenansicht der Gauck-Behörde, Teil 2
Warum tut ein Mensch sich so etwas an? Fuchs redete sich ein, seine Gründe seien rein sachlicher Natur. Er wollte Freunden und Mitstreitern so möglichst weit reichende Kenntnis ihrer Stasi-Akten ermöglichen. Er wollte einen Ausgleich schaffen für die von ihm abgelehnte Praxis, dass die Akten vor „Akteneinsicht“ prepariert werden, um Persönlichkeitsrechte anderer zu schützen. Denn niemand kontrolliert den Behördenmitarbeiter, der die Akten sucht und vorbereitet. Dieser kann eine Akte einfach „nicht finden“, (ein Vorgehen, das Alexander Osang in seinem Roman „die nachrichten“ anschaulich schildert), er kann nach eigenem Ermessen Stellen schwärzen, Seiten weglassen usw., wenn etwas zu peinlich für seine ehemaligen Kollegen ist oder gar strafrechtliche Konsequenzen für sie befürchten lässt. Und auch bei den Mitarbeitern der westlichen Dienste, die in der Behörde tätig sind, weiß man nicht, ob sie wirklich nur die Stasis kontrollieren oder nicht auch Informationen über ihre eigenen Arbeitgeber unkenntlich machen (ich denke da z.B. an die, so Gauck, „erhebliche ausgedünnte“ des Agenten Karlheinz Kurras). Fuchs kann hier nachbessern – mit seinem Dienstausweis darf er alles im Original einsehen. Nur: Wie viel kann ein einzelner Mensch wirklich erreichen bei dieser Aufgabe, insbesondere bei der zu erwartenden Gegenwehr?
Man muss sich die Situation vorstellen, in die Fuchs da reinrutscht (er selbst tut das leider gar nicht) - das ist ja schon fast „undercover“: Der Bürgerrechtler wird vom Behördenchef persönlich als einfacher Mitarbeiter eingestellt, um Seilschaften aufzudecken. Natürlich schlägt ihm der blanke Hass entgegen. Schon vor seinem Dienstantritt warnt der Betriebsrat vor zu erwartenden Veröffentlichungen dieses renitenten Menschen. Ihn direkt anzugreifen, wagt man nicht, aber sein vor der Behörde parkendes Auto hat eines Tages kaputte Reifen und Bremsen. Und schließlich, da man Fuchs als Stasi-Jäger nicht loswerden kann, versucht man diese seine Rolle zu manipulieren. Sein direkter Vorgesetzter, Dr. Rolle, vor `89 bei der Akademie der Wissenschaften, ein sicher braver, aber gebildeter DDR-Bürger, findet „zufällig“ belastendes Material über den Bürgerrechtler Jens Reich und übergibt es Fuchs als zu dessen Bereich gehörig. Der fällt zunächst auf den Denunziationsversuch rein, prüft dann aber die Umstände und erkennt: Reich war doch kein IM – anders als (wie sich später herausstellt) der brave Dr. Rolle. Erfolgreicher ist Rolles ehemaliger Kollege bei der Akademie der Wissenschaften, Klaus Richter, ausgebildeter Stasi-Agent, in der Wendezeit kurzzeitig Geschäftsführer der ostdeutschen Grünen, er leitet bei der Gauck-Behörde das Nachbarreferat. Als Richter erfährt, dass Jürgen Fuchs manchmal mit Gesprächen oder Adressen von Unterstützer-Vereinen aushilft, wenn Behördenmitarbeiter mit traumatisierten Antragstellern nicht klarkommen, hat er eine Idee. Um solches individuelles Handeln (und vor allem das Fraternisieren einzelner Mitarbeiter mit Fuchs) wirksam zu unterbinden, schlägt er eine Institutionalisierung vor: Fuchs soll eine Weiterbildung für Behördenmitarbeiter anbieten: „Veranstaltung zu Problemfällen“. Das gelingt: Die betreffenden Mitarbeiter erscheinen ossihaft brav zu den Veranstaltungen und erwarten klare Instruktionen zum Umgang mit „Problemfällen“. Als der Referent stattdessen „angstfreies Miteinander-Reden“, ja sogar „persönliches Sprechen“ empfiehlt, fühlen sie sich überfordert. Augenrollen, Kopfschütteln erfolgen, eine feindselige Atmosphäre entsteht. Fuchs ist als Gefühlsdusel und Hippie, als „Betroffener“ stigmatisiert und somit unschädlich gemacht: „Sie sind Psychologe und waren Betroffener, pardon, sind Betroffener.“ sagt ein Kollege mit schlecht versteckter Verachtung.

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Samstag, 7. August 2010
Eine Innenansicht der Gauck-Behörde
Der folgende Text ist ein Referat meiner Urlaubslektüre, „Magdalena“ von Jürgen Fuchs, einem Erfahrungsbericht über seine Zeit als Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Das Buch ist leider larmoyant, ungerecht und übertrieben, was die Formulierungen betrifft – kurz: kaum lesbar, für einen Wessi schon gar nicht. Entsprechend fand es bei seinem Erscheinen 1998 kaum Aufmerksamkeit, die überregionalen Zeitungen fühlten sich wohl zu Rezensionen verpflichtet, auch zu Mitgefühl, aber kaum zu Verständnis. Das ist schade. Ich finde nämlich, dass die Aussagen und Beobachtungen von Fuchs wissenswert und aufschlussreich sind (für alle Deutschen) – daher fasse ich diese hier zusammen und hoffe auch auf viele Leser für mein Exzerpt, das ich hier häppchenweise als Serie vorlege.

Zunächst zum Autor: Jürgen Fuchs stand seinem Land, der DDR, und dem Sozialismus in seiner Jugend nicht grundsätzlich negativ gegenüber. Er besaß aber den Mut (oder die Naivität?) in den 70er Jahren in Jena ausgerechnet „Sozialpsychologie“ zu studieren. Das musste schief gehen, jedenfalls für einen ehrlichen und vorurteilsfreien Menschen wie ihn. Er begann mit dem Schreiben von sozial engagierter Lyrik, kam in Kontakt mit Pannach und Kunert (von der bald darauf verbotenen Renft-Combo), Bettina Wegener und Wolf Biermann und wurde deshalb kurz vor Abschluss seines Examens exmatrikuliert. Weitere Stationen: Untermieter bei Robert Havemann in Berlin, Inhaftierung, ein knappes Jahr später Ausbürgerung, dann Sozialarbeiter in Westberlin, Anfang der neunziger Jahre Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Von dieser letzten Station seiner Biografie (Fuchs starb 1999 an Krebs) handelt das Buch.
Das klingt zunächst mal banal und langweilig nach DDR-Bürgerrechtler. Ist aber alles andere als langweilig. Man vergegenwärtige sich die Situation: Da war die Wende und da waren die Stasi-Akten und die Frage: Was tun damit? Die einen wollten alles offenlegen und begannen schon damit und die anderen wollten alles vernichten und begannen auch schon damit. Die neue Ordnungsmacht, der westdeutsche Staat, entschied sich für einen Kompromiss. Eine Behörde wurde geschaffen und die Akten ihr unterstellt, die Bürger sollten dort aber auch Einsicht in sie betreffende unterlagen erhalten können. Chef musste natürlich ein unbelasteter Ossi werden (der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck), Stellvertreter und eigentlicher spiritus rector ein hoher Geheimdienstmann aus dem Westen (der spätere BND-Chef Hansjörg Geiger). Man entschied sich, in größerem Umfang auch alte Stasi-Mitarbeiter bei der neuen Behörde einzustellen – das erleichterte die bürokratischen Abläufe, da die Leute mit der Materie vertraut waren und unbefangen mit dem Material umgingen. Außerdem vermied man so eine unnötige soziale Unruhe unter Leuten, die sich jetzt plötzlich als Täter fühlen mussten. Man verfuhr also ähnlich wie auch 1945, als man mit dieser Methode – beide Augen zudrücken und schuldbewusste Täter flugs in diensteifrige Untertanen des neuen Systems umwandeln – schon gute Erfahrungen gemacht hatte, was die (Wieder-)Herstellung eines handlungsfähigen Staates betrifft.
Natürlich ist dies Vorgehen moralisch einigermaßen fragwürdig. Daher brauchte es irgendwie einen Ausgleich, um wiederum die Opfer zu beruhigen, vielleicht auch, um die resozialisierten Stasis ein bisschen in ihre Schranken zu verweisen. Gauck lud also einige prominente DDR-Bürgerrechtler zu einem Gespräch ein, warb um ihre Mitarbeit. Aber nur Jürgen Fuchs begeisterte sich für die Aufgabe, als Behördenmitarbeiter in den Sumpf zu tauchen. Die anderen lehnten dankend ab. Offensichtlich erleichtert bestärkten sie Fuchs, die Aufgabe allein zu übernehmen. So geschah es. Er wurde eingestellt.

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Schön wars im Spreewald ...


...aber jetzt bin ich wieder da, freue mich, dass in meiner Abwesenheit doch hier gelesen und kommentiert wurde und präsentiere neue Ergüsse (ja, schon wieder DDR-Vergangeheit, ich kann nun mal nicht anders ..). Voila!

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Dienstag, 13. Juli 2010
Die Hamburger Schulreform und ihre Wahlplakate
In Hamburg gibt es in einigen Tagen eine Volksabstimmung über die Schulreform ... na ja, jedenfalls über einen Teil von ihr. Das Wesentliche ist natürlich schon beschlossen: Man will vom dreigliedrigen (bzw. viergliedrigen, wenn man die Gesamtschulen mitrechnet) zum zweigliedrigen Schulsystem übergehen. Notwendig geworden ist dieser Schritt, weil die Hauptschule, diese bedauernswerte Schulform, seit einigen Jahrzehnten derart schamlos in die Enge getrieben wurde, dass man sie ehrlicherweise aus dem allgemeinen Schulsystem ausgliedern, in „Maßnahmeträger“ umbenennen und den Jobcentern unterstellen müsste. Manche in der Bevölkerung würden sich das auch wünschen – man wäre dann ein Problem los, kostengünstiger wäre es auch – man würde Lehrergehälter sparen und könnte stattdessen Sozialpädagogen und ähnliches niederes Volk einstellen. Aber leider gilt die Schulpflicht immer noch für alle Schichten der Bevölkerung.
Und so erweist man der Hauptschule immerhin eine letzte Gnade, sie nämlich abzuschaffen zugunsten einer weiterführenden allgemeinen Schule, die alle Schüler umfasst mit Ausnahme der Gymnasiasten. Und dem Hamburger Wahlvolk bleibt die Entscheidung überlassen, ob man diese neue Schulform, „Stadtteilschule“ genannt, sowie die Gymnasien schon nach vier oder erst nach sechs Jahren Grundschule beginnen lassen will. Es geht also um die Frage, ob die Grundschule nur eine Art Vorschule sein soll, an der man schon mal Lesen, Schreiben und das Einmaleins erlernt, bevor anderswo komplexere Dinge gelehrt werden, oder ob es über die Grundbildung hinaus irgendeinen allgemeinen Bildungskanon für alle gibt, ungeachtet, ihrer sozialen, religiösen oder ethnischen Herkunft.
Wie Sie sehen, habe ich eine Meinung der Sache, die ich auch schon per Briefwahl kundgetan habe. Wenn man aber die aktuellen Wahlplakate zum Volksentscheid anguckt, dürfte man sich eigentlich überhaupt nicht beteiligen an der Auseinandersetzung, so blöd argumentieren beide Seiten. Die FDP ist natürlich für ein langes Gymnasium und daher gegen die sechsjährige Grundschule. Ihr überall plakatiertes Argument: „Jedes Kind ist anders. Warum also ein starres Schulsystem?“ Was für eine Logik! Als wäre ein Schulsystem, das nach Klasse 4 schon die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen wirft, auf irgendeine Weise weniger starr als eins, das dies nach sechs Jahren tut! Ob ein Schulsystem starr ist oder auf Individuen eingeht, das erweist sich doch daran, ob und wie durchlässig es für Schulwechsler ist, und nicht daran, ob die eigenen Kinder schon früh aufs Gymnasium dürfen. Mir scheint, die FDP verwechselt hier mal wieder „liberal“ mit „kapitalistisch“: Es geht nicht um irgendeine Freiheit für individuell unterschiedliche Kinder, sondern um das Besitzrecht der Eltern an ihren Kindern. Und komisch: Genau denselben Herrschaftsanspruch vertreten Hamburg und seine Schulbehörde, die uns per Plakat wissen lassen: „Wir wollen mehr als gute Werte – guten Unterricht.“ Hier steckt doch als Idee dahinter: Die Werte sind uns ziemlich egal, solange wir die Schulstruktur bestimmen, die Didaktiken schreiben lassen und die Aufgaben fürs Zentralabitur festlegen. Dazu passt auch das laut schreiende Mädchen auf dem offiziellen Pro-Schulreform-Plakat, das auf plumpeste Weise das linke Klischee vom aufmüpfigen Gör bedient (Oh, Irmgard Keun, was hast du angerichtet!) – während den Reformgegnern für ihr Plakat ein braver blonder Junge und ein kindisch lächelnder Schulranzen einfallen.
Dass Schule ein Dienstleistung ist, und zwar für die Kinder, nicht für die Eltern, das scheint den technokratischen Reformern so wenig bewusst zu sein wie den egomanen Reformgegnern.

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Samstag, 3. Juli 2010
Kleine Anmerkung zur Bundespräsidentenwahl
Ich hab ja mit Gauck sympathisiert. Nicht dass das jetzt eine Heldenfigur wäre für mich, nein, alles andere als das. Aber eben auch nicht so ein aalglatter Typ wie Wulff, dem ich – ich weiß, das ist ungerecht – nicht über den Weg traue, nur seines Aussehens wegen. So sahen halt die Streber in meiner Jugend auch aus, die DSF-Kassierer und Träger des Abzeichens für gutes Wissen in Gold ...
Aber dies nur vorausgeschickt, um meine Unsachlichkeit gleich einzugestehen. Was mich wirklich aufgeregt hat bei dieser Wahl, das ist, wie sich viele Parteigänger der Linken (einer Partei, die ich um ein Haar gewählt hätte neulich, ich Naivling!), gerade hier im Internet aufgeführt haben, wie viel Gift sie über Gauck ausgegossen haben, während man über Wulff sogar ab und an ein „ganz okay“ hören konnte. Ach so? Wieso ist bei es Gauck „stockkonservativ“, wenn er den Kriegseinsatz in Afghanistan vorsichtig mainstream mit dem Hinweis auf die UNO befürwortet, bei Wulff (der nicht anders denkt) aber nicht? Man gucke sich die beiden Kandidaten an, nur die Gesichter: Ich finde, man sieht sofort, welcher von beiden der „Neoliberale“, der „fanatische Antikommunist“ ist, oder? Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich, dass wir euch das glauben sollen?! Dass wir glauben sollen, ihr hasst Gauck wegen einer irgendwie exponierten politischen Haltung und nicht, weil bei der Aufdeckung einiger Untaten eurer Kumpel mitgewirkt hat.
Na, und überhaupt das Wort „neoliberal“, das ist völlig zum Denunziantenbegriff verkommen. Früher hieß es bei euch immer „kleinbürgerlich“, wenn man sein Gegenüber niedermachen wollte. Denn man kam aus kleinen Verhältnissen, träumte vom Aufstieg und wollte den anderen dahin zurückstoßen, wo er vielleicht auch herkam. Heute also „neoliberal“. Man ist selber Nutznießer der Verhältnisse, aber sauer darüber, dass einem die alte Seilschaft nur eine kleine GmbH verschaffen konnte, während ein Gerhard Schröder sich bei Gazprom dumm und dämlich verdient. Dann ist der also „neoliberal“ und man findet es total ungerecht, dass man nicht auch so viel verdient. Dann mauschelt man in Hinterzimmern und wütet, weil es nur für eine Anstellung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung reicht, während die drüben über den Seeheimer Kreis noch ganz andere Posten abfassen. Und man findet den ganzen Neoliberalismus eine einzige Ungerechtigkeit. Ja, das stimmt. Aber ich gönn es euch.

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Samstag, 26. Juni 2010
Vor 65 Jahren war der Krieg vorbei - kleine Gedenkrezension, Teil 2: Darf eine „Anonyma“ anonym bleiben und wer hindert sie eigentlich daran?
Ich weiß, ich bin mal wieder zu spät: Der Gedenktag ist lang vorbei, meine erste Rezension zm Thema "Kriegsende" hab ich auch schon vor einem Monat geschrieben; ich referiere eine Debatte aus dem Jahr 2004 und auch die unvermeidliche Verfilmung der "Anonyma" ist schon nicht mehr ganz aktuell. Aber ich gehe davon, dass sich meine Leser (seid gegrüßt, Ihr 5 -6 Getreuen!) dennoch an meinem Text erfreuen. Er ist das Ergebnis der Tatsache, dass ich letzte Woche ein bisschen Zeit und Muße hatte, um mal dem Tipp von K.Modick nachzugehen, dass es mit der Authentizität des Textes nicht allzu weit her sei.
Das Internet ist ja herrlich, es gab mir prompt einige Auskünfte, und danach stellt sich die Sache so dar: Eine Journalistin erlebt das Kriegende in Berlin, und das war für eine junge Frau ein grausiges Erlebnis, wie wir heute wissen. Sie notiert die Geschehnisse in einem Tagebuch, also für sich. Das Tagebuch zur Veröffentlichung freizugeben, dazu überredet sie zehn Jahre später ein guter Freund. Dieser Freund, ebenfalls Journalist, hat sich in den Kriegsjahren als propagandistischer Kriegsberichterstatter hervorgetan, es gelang ihm aber, nach dem Krieg eine zweite Karriere als Autor und Rowohlt-Lektor aufzubauen. Der Freund übernimmt das Manuskript (und überarbeitet es?), zunächst für eine amerikanische Ausgabe. Offenbar hat er – wie schon in den vierziger Jahren – einen guten Riecher für erfolgversprechende Trends: In den USA der 50er Jahre lassen sich russische Vergewaltiger gut verkaufen. Das Buch wird ein Erfolg. Davon angespornt bereitet der Mann auch eine deutsche Ausgabe vor. Diese aber floppt: In Deutschland ist Schweigen über die Vergangenheit angesagt. Hier haben einige einiges zu vertuschen, und damit das nicht so auffällt, schweigt man überhaupt, über Täter ebenso wie über Opfer. Und über Frauen sowieso.
Das Blatt wendet sich ein paar Jahrzehnte später. Die Kriegsgeneration ist alt, Lebensrückschau, sentimentales Erinnern angesagt. Diesmal ist es H. M. Enzensberger, der den guten Riecher hat: Er veranstaltet in seiner „Anderen Bibliothek“ (im Eichborn-Verlag) eine Neuausgabe des Buches – ein Riesenerfolg. Ob und inwiefern der Text nachbearbeitet oder nicht ganz echt sein könnte, prüft er nicht, wozu auch. Dann erhebt sich aber doch Protest. Jens Bisky weist in der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Nazivergangenheit des Herausgebers hin, Gustav Seibt schließt sich ihm an. Da auch sie nicht wissen, ob bzw. wie authentisch der Text ist, werden sie stark angegriffen. Endlich kommt ein Journalist der ZEIT auf die Idee, die Witwe und Nachlassverwalterin des Herausgebers zu kontaktieren. Zum vereinbarten Treffen mit ihr ist aber ein Mitarbeiter des Eichborn-Verlags anwesend, der den Einblick in das Originalmanuskript verhindert.
Klar, dass das der Verlag nicht auf sich sitzen lassen kann – er bestellt einen Gutachter: Walter Kempowski. Das ist eine gute Wahl, Kempowski hat in derselben Zeit wie die Anonyma ebenfalls genug Schlimmes durch die Russen erlebt, so dass man sich seines Antikommunismus sicher sein kann. Allerdings ist er nicht nur Antikommunist, sondern auch korrekt. So erledigt er erstmal seinen Auftrag und erklärt, dass alle Geschehnisse im Buch authentisch sind und auf den Originialaufzeichnungen basieren. (Daran hat allerdings auch nie jemand gezweifelt, wie J. Güntner in NZZ richtig anmerkt.) Der in knappem Stil gehaltene, teilweise unfertige Text des Tagebuchs wurde später lediglich etwas literarisiert. Auch das ist ja normal. Interessant wäre die Frage, wer hier überarbeitet hat. Kempowski sagt (auftragsgemäß), er hätte keinen Hinweis auf das Eingreifen des Herausgebers finden können. Er sagt aber auch, warum: Es gebe, so hat er erfahren, neben abgetipptem Originalmanuskript und Buchausgabe noch ein drittes Manuskript, über das sich alle Beteiligten ausschweigen.
Fazit: Zwei Frauen (eine Autorin, eine Nachlassverwalterin) und viele Männer, eine schlimmes Schicksal und viele, die damit rumgetrickst haben. Und sicher ist nur eins: Was derzeit über die Leinwände flimmert (und von Max Färberböck sicherlich akkurat in Szene gesetzt wurde), basiert auf einer Literarisierung im Geist der 50er (oder sogar der frühen 40er?) Jahre. Und passt damit hervorragend in unsere Zeit.

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