Samstag, 12. Juni 2010
Warum ist es schön, in Deutschland zu leben?
Warum ist es schön, an einem Freitagmorgen im Juni bei bedecktem Himmel über das Kopfsteinpflaster der Leverkusenstraße zu radeln? Der schöne Farbklang von Himmelsgrau, Laubgrün und Backsteinrot kann doch nicht über die triste Atmosphäre von Arbeitervorort mit Grillstübchen und Zeitungskiosk hinweg täuschen, auf den schon der Straßenname deutlich genug hinweist. Nebenan liegen Boschstraße, Ruhrstraße und Leunastraße, und so sieht das Viertel auch aus. Dass das schön ist, kann mir keiner erzählen: Meine Großeltern kommen selber aus einem dieser Industriestädtchen, wo man früher SPD wählte, später Pauschalreisen (bzw. FDGB-Reisen) buchte und Schönheit immer als Dekadenz verachtete.

Also muss es am Wetter liegen. Richtig. Ich mag diese milde, leicht diesige Frische. Ich erinnere mich an Urlaubstage an der Ostsee, wo dieses Wetter die Unterbrechung des Schwimm- und Badealltags und das Aufkommen faulenzerischen Glücks anzeigte. Wir waren damals jedes Jahr an der Ostsee, in Ahrenshoop, wo in der Nachfolge Johannes R. Bechers allerlei Semiprominenz urlaubte. Zu denen gehörten wir zwar nicht, da wir weder Westgeld hatten noch einen klingenden Nachnamen à la Maron oder Havemann. Aber mein Vater hatte eine gute Freundin, die über das Etikett „Altkommunistin“ und VVN ein Ferienhäuschen dort gesponsort bekam, sich dafür schämte und das Haus alljährlich kostenlos reihum ihren Freunden übergab. Mein Vater hielt Abstand zu den Besitzern der Nachbarhäuser, die er als faul und neureich verachtete. Wir liefen jeden Morgen schon vor dem Frühstück im Bademantel zum Strand runter, um mit ihm eine Runde zu schwimmen. Ab 14 Grad Wassertemperatur war das Pflichtprogramm. Außer bei Regen. Da konnte man den Vater beim Schwimmen begleiten (und wurde als besonders standhaft belobigt), man konnte aber auch zu Hause bleiben und war doch kein Faulenzer. Regen, das waren lange Frühstücke und kurze Spaziergänge, gut eingepackt, und vor allem: stundenlanges Lesen.
Das alles ist lange her. Mein Vater ist alt und immer noch kämpferisch gesinnt. Und ich liebe ihn mehr trotzdem als deshalb. Ich liebe auch dieses nördliche Deutschland, in dem es so viel regnet, niemand mehr SPD wählt und selbst der Bundespräsident keine Lust mehr hat. Ich finde, die Depression steht dem Land gut zu Gesicht.

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Mittwoch, 2. Juni 2010
Die Wut des Herrn Minkmar
Gestern habe ich mich bei Don Alphonso und Damenwahl an Diskussionen über den Rücktritt von Horst Köhler beteiligt und dabei ist mir eine peinliche Sache passiert: Ich warf dem FAZ-Kommentator Nils Minkmar vor, die alte militaristische Floskel vom „gerechten Krieg“ wieder zu etablieren. Dabei war das Ironie! So weit kann’s gehen mit der Politisierei. Aber warum war mir Minkmars Kommentar so unangenehm, dieser doch engagierte, elegante, selbst beim Griff zur Umgangssprache fast immer treffsichere und inhaltlich fundierte Text? Minkmars Text überzeugt, er ist von einer Wut getragen, die für den Leser klar nachvollziehbar ist. Sie speist sich aus der Enttäuschung über ein Staatsoberhaupt, das „nie durch eigene Ideen aufgefallen war“ und sich darauf beschränkte, Gesetze beamtenhaft auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen. Und dann „das berüchtigte Interview“, in dem Köhler „seine Interpretation des gerechten Krieges in globalisierten Zeiten“ dargestellt hat. Das ist doch irgendwie merkwürdig: Der uninspiriert, konventionell, tatenlos gescholtene Köhler tritt als eigenmächtiger Interpret der Regierungspolitik auf und lässt leichtfertig Zweifel an deren Verfassungstreue aufkommen. Schwer glaubhaft. Aber darum geht es dem Autor auch gar nicht. Es geht ihm um die Frechheit, dass Köhler einfach kündigt, während „wir uns selbst beschwören ... die Ansprüche zu senken, sich fit zu halten, mobil zu bleiben ...“. Tun wir das wirklich? Nehmen wir jede Erniedrigung in Kauf, „um durch die Zeiten zu kommen“? Köhler hat getan, was jeder von uns darf. Jeder darf kündigen und niemand darf gezwungen werden, eine Arbeit zu tun, die er nicht aushält. Nicht einmal ein HartzIV-Empfänger. So steht es in der Verfassung, von der hier schon öfter die Rede war. Und wir sollten nicht so tun, als würde sie nicht mehr gelten. Ja, aber, entgegnet nun Herr Minkmar: „Und wie will man beispielsweise in den ostdeutschen Provinzen Kandidaten für die Kommunalwahlen finden“? Tja, das ist eure Sorge in Berlin und bei der FAZ. Ihr bestimmt die Politik. Wir haben das Recht, nicht mitzumachen. Nils Minkmar nennt das „illoyal“. Wieso das? „illoyal, weil er der Bundeskanzlerin, die ihn gefördert ...hat, den Boden unter den Füßen wegzieht.“ Aha. Hatte er nicht anfangs an Köhler kritisiert, dass er brav im Sinne seiner „Gönner“ agiert? Und wenn er das nicht mehr tut, ist es auch wieder verkehrt? Offenbar macht Minkmar gar nicht wütend, dass Köhler vorher so zurückhaltend war. Wirklich wütend macht ihn, dass er nicht mehr im Sinne der Politikmaschinerie funktioniert. Da muss ich schadenfroh lächeln: Denn so gesehen, hat Köhler gerade mit seinem Rücktritt bewiesen, dass er doch ein guter Präsident war. Köhler, der Fahnenflüchtling, das hat Minkmar treffend beobachtet. Köhler, der die Richtlinien der Bundeswehr ausplaudert, möchte man ergänzen. Ingeborg Bachmann wollte einen Orden verleihen „für die Flucht vor den Fahnen, ... für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.“ So, und zum Schluss noch die „Verschwörungstheorie“: Könnte es nicht sein, dass man versucht, unsere ganz andere Wut, die Wut über die klammheimliche Umwandlung der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- und Verteidigungsarmee zu einer Berufs- und Interventionsarmee, geschickt auf einen ehemaligen Bundespräsidenten umzulenken, um die wahrhaft dafür Verantwortlichen aus der Schusslinie zu bekommen? Das wäre doch einigen sehr bequem. P.S. Kann mir jemand mal verraten, wie man einen optisch vernünftigen Link setzt?

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Mittwoch, 19. Mai 2010
Lesen Sie auch diese Blogs?
Wenn ich mich abends zur zweiten Schicht an den Computer setze, stöbere ich immer erst mal die die Nachbarblogs, und da sind mir dieser Tage einige Frühlingsfotos aufgefallen, so dass auch ich nicht zurückstehen möchte. Wunderbar malerischer Frühling ist es offenbar gerade in Oberitalien, und versteckt in Kommentaren habe ich auch ein nicht weniger schönes Foto aus dem Oderbruch gesehen (auch wenn es da natürlich architektonisch weniger spektakulär zu geht – schließlich ist das Ostelbien). Trist wirken dagegen die jüngst eingestellte Flugplatzansicht aus dem inneren Afrika und die verlassenen Zechen und Bahnhöfe des Ruhrgebiets. Im Rheinland ist man mit dem Rennrad unterwegs und in Bremen sorgt die getreulich abfotografierte Klospülung für herrliches Chaos. Tja, und bei mir, da wird der Radweg zur Arbeit jeden Tag schöner, es könnten richtige glückliche Radtouren sein, wenn ich’s nur nicht immer so eilig hätte. Aber das Gehetze ist nun mal das Abzeichen der Unterschicht, wie man im gemütlichen Oberbayern richtig bemerkt. Und so ärgere ich mich jeden Morgen, kaum dass ich die ersten Momente Glück erradelt habe: weil da schon wieder so ein geschlechtsloses Wesen, Rennrad unterm Hintern, Kapuzenshirt über beide Ohren, ohne links und rechts zu gucken quer meine Bahn abschneidet. Und an der Fußgängerampel stehen fünf Leute und warten geduldig, dass es Grün werde, aber auf den Knopf drückt keiner und ich muss also auch absteigen. Ansonsten aber sind die Fahrten wunderbar. Wie es sich für den Unterschichtler gehört, knipse ich fröhlich mit der billigen Handykamera. Die kann zwar weder das Sonnenglitzern auf der Alster abbilden noch die herrlichen Kastanienblüten an der Christuskirche, aber wie unglaublich grün es ist, das wird schon deutlich. Denn grün wird es jeden Frühling wieder. Vielleicht haben ja die Leute an der Ampel Recht.

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Dienstag, 11. Mai 2010
Vor 65 Jahren war der Krieg vorbei - kleine Gedenkrezension
Sozusagen in Gedenken an das 65 Jahre zurückliegende Kriegsende rezensiere ich (in schwarz-weiß-malerischer Absicht) zwei Texte darüber. Heute geht es um die Erzählung „Ein Kriegsende“ von Siegried Lenz aus dem Jahr 1983., die eher zufällig auf meinen Nachttisch geriet und mich sofort in ihren Bann zog, wenn auch nicht unbedingt im positiven Sinne. In der Geschichte berichtet ein Ich-Erzähler, wie er das Kriegsende auf einem Minensuchboot erlebte. Die Mannschaft fuhr gerade über die Ostsee, um irgendwo im Ostpreußischen Verwundete aufzunehmen (Anfang 1945 ein halsbrecherischer Auftrag, wie man sich denken kann), als die Nachricht von der Kapitulation kommt. Es entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob man die gefährliche Aktion abbrechen kann oder muss, um als Besiegter heimzukehren. Der Kapitän will weiterfahren, der Steuermann nicht und wird von einem auf das Boot strafversetzten Besatzungsmitglied zur Meuterei aufgestachelt. Man kehrt zurück, wird verhaftet, die beiden Aufrührer erschossen. Obwohl der Krieg eigentlich schon vorbei ist.
Das ist eine Geschichte, die ins Innerste militärischer Logik führt: Darf und muss man ab dem Zeitpunkt einer Kapitulation sofort jegliches militärische Handeln unterlassen? Wiegt die Rettung in Ostpreußen festsitzender Kameraden schwerer als das Leben der eigenen Mannschaft? Endlich: Darf die Entscheidung eines militärischen Vorgesetzten angezweifelt werden? Alles unschöne, hässliche, vielleicht notwendige Fragen. Aber es ist schon merkwürdig, wenn angesichts eines Kriegsendes immer noch Fragen des Krieges verhandelt werden und die Sehnsucht nach dem Ende, die Hoffnung, dass bald alles überstanden ist, erzählerisch eher die Rolle des Verführers spielt. Wenn der Strafversetzte vorsichtig negativ gezeichnet wird – im Gegensatz zu Steuermann und Kapitän, die uns als ehrliche Fischer vorgestellt werden, die eben, wenn es sein muss, ihren Dienst tun. Und besonders merkwürdig finde ich diesen Ich-Erzähler, der die Geschehnisse atmosphärisch sensibel beschreibt, in einer ganz unmilitärischen Sprache („Unser Minensucher glitt mit kleiner Fahrt durch den Sund ...“), und sich doch widerstandslos dem Sog dieser militärischen Logik hingibt. Er sieht alles, sagt nichts und hat immer Kopfschmerzen. Das einzige Mal, dass er als Figur in Erscheinung tritt, ist die Stelle, wie er vor dem Militärgericht den verehrten Steuermann zu retten versucht, indem er den ohnehin verlorenen Strafversetzten anschwärzt.
Und das Ganze dann 1983 geschrieben! Über dreißig Jahre nach „Die Mörder sind unter uns“, sogar noch nach der Filbinger-Entlarvung. Da kann doch eine Erzählung nicht mehr so enden: mit dem naiven Entsetzen darüber, dass uns unsere Vorgesetzten so enttäuschen und einfach zwei unserer Kameraden erschießen, obwohl ihre juristische Berechtigung dazu sehr in Frage steht. Das schmeckt mir sehr nach Untertanengeist (à la „ich bin ja ein Schöngeist, aber wenn nun mal Krieg ist ...“). Vielleicht wär ich auch nicht besser, ich erinner mich gut, wie stolz ich auf die Beherrschung der bescheuerten Kanone war, an die man mich mit 18 zwang. Aber schön ist das trotzdem nicht.

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Mittwoch, 5. Mai 2010
Warum ich nicht zum Chef tauge ...
... und auch nicht zum Revolutionär (denn das ist nur eine andere Ausformung derselben spezies): Ich hab irgendwie keinen Sinn für Macht. Und das ist nichts, worauf ich stolz sein könnte, denn da es Macht nun einmal gibt, führt das zu absurden Konstellationen: „Komisch“, meinte meine vorige Chefin (die kürzlich an ihrem eigenen Machtanspruch scheiterte und die Notbremse „Kündigung“ zog), „Wenn man dir Verantwortlichkeiten überträgt, gibt’s Probleme. Scheinbar fühlst du gar keinen Ehrgeiz, die auszufüllen. Aber wenn du kein Amt hast, handelst du umsichtig, übernimmst selbstständig Verantwortung ...“ Tja, und nun hab ich eine neue Chefin, eine toughe Osteuropäerin – Ihr kennt sicher den Typ – und es gibt einen Herrn X., einen alten 68er, den Typ kennt Ihr auch, der hat schon als junger Mann im Asta gegen die Schulbehörde geklagt (und sich die Fünf im Staatsexamen eingefangen als Dank) und jetzt lässt er sich immer noch nichts sagen.
In seinem Kurs (d.h. dem Kurs, in dem er freiberuflich unterrichtet und ich als Festangestellter der Seminarleiter bin) war eine Teilnehmerin, die hatte ihr Stundenkontingent fast aufgebraucht, ohne die Aussicht, die Abschlussprüfung zu bestehen (denn das schaffen in den Analphabetenkursen nur die Wunderkinder, von denen bestenfalls eins aufs Dutzend kommt). Und die wird nun krank, drei Wochen lang. X. bittet mich um eine Verlängerung für die Frau. Nun, das kann man schon machen, es liegt sogar nahe: Die Fehlzeit wird nicht abgerechnet, sie bekommt nochmal hundert Stunden, das ist ein Monat, den sie noch mit den andern im Kurs sitzen darf, der kostenlose Kindergartenplatz für die Tochter wird auch verlängert für die Zeit. Allemal besser als mit Hartz IV und dem Kind allein in der Wohnung sitzen. Jetzt kommt sie wieder und zehn Tage später stürzt sie, bricht sich die Hand – wieder wochenlang krank. „Was machen wir?“ fragt mich A. , die die Kurse abrechnet. „Nochmal verlängern, das hat doch keinen Sinn.“ sag ich „Sie kommt doch im Unterricht überhaupt nicht mehr mit, nach fast zwei Monaten! Und nur wegen dem Kindergartenplatz? Nee, das mach ich nicht.“ Und ich sag X., dass für Frau Hastdunichtgesehen der Kurs nun leider vorbei ist. „Kann man da gar nichts mehr machen?“ – „Nichts zu machen“, sag ich und bin zu feige zu sagen: „Das ist meine Entscheidung und ich hab meine Gründe.“ Zwei Tage später sagt mir X.: „Ach, wegen Frau ... – ich hab beim Bundesamt in Nürnberg angerufen.“ Und ich sag nicht: „Das geht dich gar nichts an. Das ist unsere Entscheidung.“ Sondern nur: „Wenn du meinst, bitte sehr!“ Natürlich war ich sauer, dass er mich nicht ernst nimmt. Aber ich fühlte mich im Recht und auf der sicheren Seite. Und irgendwie belächelte ich auch seine revoluzzerhafte Art, gleich bei der obersten Behörde anzurufen. Eine Woche später stürzt meine Chefin wutentbrannt aus ihrem Büro: „Wissen Sie, dass Herr X. ...? In Nürnberg!“ Ich sag: „Ja, er hat mich informiert, nachträglich.“ – „Er hat sich als Mitarbeiter unserer Firma ausgegeben! Also, das geht gar nicht!“ Kurz und gut, sie hat ihn sich einbestellt – aber wie gesagt, X. ist ein alter 68er und lässt sich nichts sagen – dann hat sie mich gefragt: „Ist er jetzt wirklich so ein toller Lehrer, dass wir nicht auf ihn verzichten können?“ und ich sage „So toll nun auch wieder nicht.“ (anstatt die differenziertere Wahrheit: großartiger Pädagoge, aber jetzt grad kein Alphabetisierungsspezialist). Und diesmal hab ich das nicht aus Feigheit gesagt, sondern weil ich immer noch sauer war auf X.
Tja, und jetzt ist er raus und ich hab ein schlechtes Gewissen. Wie gesagt, in der Sache hab ich Recht, glaube ich, nur hätt ich den Vorgesetzten raushängen lassen müssen, wo ich ja in der Tat auch Vorgesetzter war. ... da hab ich mir den Niedriglohnbereich ausgesucht und gedacht, da entgeh ich den Problemen. Tu ich aber nicht.

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Dienstag, 6. April 2010
Die untote Ossi (Filmkritik zu "Yella")
Es gibt ein schönes Denkmal für den deutschen Autorenfilmer, und zwar ist das die Figur, die Florian Lukas in „Good bye, Lenin“ verkörpert: ein eigenbrötlerischer Bastler und Spinner, der amerikanische Filme liebt und zu Hause originelle und abstruse Filmideen verwirklicht.
Ein solcher Film ist mir mal wieder begegnet: kein großes Kino, dazu sind die Bilder zu simpel, mitunter bringen linke Ideologismen den Dialog zum Holpern und die symbolisch eingesetzten Soundeffekte wirken auch manchmal ein bisschen künstlich. Man spürt dem Film das Selbstgebastelte an. Dafür hat er aber auch alle Vorteile des Selbstgebastelten: Er ist originell, klug, teilweise richtig raffiniert. Nirgends mainstream, keine Minute langweilig (und außerdem sind die Schauspieler wirlich professionell).
Ich spreche von „Yella“, einem Film von Christian Petzold aus dem Jahr 2007. Ich sehne mich schon lang nach dem Film. Immerhin ist er vom Regisseur von „Innere Sicherheit“ und er spielt teilweise in Wittenberge, in der ostdeutschen Provinz – zwei Gründe, die reflexartig Sehnsucht in mir auslösen.
Yella (was für ein exotischer Name in so einer banalen Gegend) lebt in Wittenberge. Es ist Frühling, man sieht leere Straßen, leere Häuser, frisches Grün und kann Yella nur zu gut verstehen, die die gescheiterte Firmengründung und den von Wessis übertölpelten Ex-Freund zurücklassen will, um im sprichwörtlich hässlichen Hannover ein neues Leben zu beginnen. Aber ebendieser Exfreund stürzt sich und sie mit dem Auto von einer Brücke in die Elbe und fortan stolpert sie (nach dem Vorbild des herrlichen amerikanischen B-Movies „Karneval der Seelen“) als Untote durch Westdeutschland, betrügt als Assistentin eines Finanzgauners so geistesabwesend wie cool irgendwelche Investoren und wird verfolgt vom Geist ihres Exfreunds. Und natürlich muss sie ihm endlich ins Totenreich folgen.
Aber anders als die Hauptfigur aus „Karneval der Seelen“, die einfach leben will und sich deshalb dem Tod verweigert, versteht man bei Yella nicht so recht, was sie in der Welt der Lebenden eigentlich noch sucht. Lebendigkeit jedenfalls kann es nicht sein, wie magisch ist sie angezogen vom Finanzmilieu, in dem emotionslos und mit falschen Gesten um Werte gepokert wird, die es gar nicht gibt. Super erkannt vom Regisseur: Es ist ein Milieu der Untoten. Toter als diese Geschäftsverhandlungen ist eigentlich nur noch eins: der Schemen des Exfreunds Ben, wenn er schattenhaft in ihrem Hotelzimmer erscheint und von einer Normalo-Ehe fabuliert: „Ich werde wieder arbeiten gehen, als Installateur. Wir nehmen uns eine Wohnung. Du kannst doch so hübsch einrichten.“
Was will Yella in dieser Zombie-Welt, in der sie sich wahrhaft traumwandlerisch behauptet? Man wird den Verdacht nicht los, dass es um Rache geht, ein eher todessüchtiger als lebensbejahender Grund. Darauf deutet hin, dass ihr die Erkenntnisse aus dem Wittenberger Konkurs-Erlebnis die Idee zu ihrem ersten Trick auf dem West-Parkett verhelfen. Ein zweiter Hinweis: Ihr letzter Geschäftsgegner hat eine Ehefrau und ein Zuhause, die dem von Yellas erstem Hannoveraner Chef zum Verwechseln ähneln. Der Hannoveraner hatte Yella persönlich aufs Gemeinste entwürdigt. Sein Dessauer Nachahmer oder Wiedergänger, obwohl persönlich eher sympathisch, wird von ihr stellvertretend in den Tod getrieben (herrlich: Burkhard Klausner als Wasserleiche). Erst damit scheint ihr Auftrag erfüllt und sie kann von Ben nach Wittenberge und in den Tod heimgeholt werden.
Das leuchtet ein, erzähllogisch wie auch politisch: Nicht Helmut Kohl, sondern Günter Krause, nicht Wolfgang Schäuble, sondern Lothar de Maizière trafen der Hass und die Verachtung der Ostdeutschen. „Yella“ analysiert eindringlich, wie diese ostdeutschen Untoten entstanden sind - egal ob sie nun zur depressiven Untergruppe gehören wie ich (phlegmatisch und jammerfreudig) oder zur umtriebig aktiven wie Kai Pflaume oder Angela Merkel (handwerklich perfekt, aber affekt- und seelenlos).
Unbeantwortet bleibt aber die Frage, warum eigentlich der westdeutsche Kapitalismus so zombiehaft agiert. Es gibt eine Szene, da entführt Yella ihren Chef und Räuberhauptmann an den Ort ihres Todes, die Wittenberger Elbbrücke. Der Zuschauer erzittert, und tatsächlich öffnet der Wessi hier endlich seine Seele. Und es zeigt sich – eine Geschäftsidee.
Diese schreckliche Leere war der schlimmste Moment in dem Film. Und ehrlich gesagt: Ich glaube ihn nicht. Sollte der westdeutsche Geschäftsmann wirklich so hohl und seelenlos sein, wie das linkes Feindbild und neoliberales Selbstverständins einträchtig behaupten?! Dann wäre er ja auch ein Untoter und es müsste eine Elbbrücke geben, von der er einst gestürzt ist. Hm. Die Seele der westdeutschen Nachkriegselite ist offenbar noch nicht enträtselt.

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Montag, 15. März 2010
Handybild: Vermisstenanzeige
Seltsam auch, was man so am Wegrand mit der Handykamera knipsen kann, wenn man mit dem Rad von der Arbeit kommt:

Da ist ist also einem die Katze entlaufen und der andere sucht seine Freundin. Oder wie soll ich das deuten? Ich hatte jedenfalls ein ganz ungutes Gefühl, als ich die junge Ausländerin so am Laternenpfahl plakatiert sah. Dachte an den komischen alten Mann, der in Begleitung eines jungen muskulösen Helfers und Übersetzers in unser Büro kam - mit folgendem Anliegen: "Meine Frau soll angeblich hier zum Deutschkurs gehen. Stimmt das? Dann würde ich sie gern mal sprechen." Ganz zu schweigen von der jungen Frau, die in unserer Anwesenheitsliste unter einem Decknamen geführt wurde, auf Antrag des Frauenhauses, in dem sie lebte. Wie dem auch sei: Ich bevorzuge Staaten, in denen die Polizei zuständig ist für Vermisstenanzeigen.

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Handybild vom Porzellanteller
Neulich ging es bei Don Alphonsos FAZ-Blog um Porzellan als Garant von Stil (http://faz-community.faz.net/blogs/stuetzen/archive/2010/02/28/famille-rose-oder-die-schwiegermuetter-der-porzellankiste.aspx). Als ich das las, dachte ich an meine Eltern (die auch die Schränke voll mit schönem Porzellan haben), musste zustimmen, aber auch schmunzeln: Die ganzen alten Dinge aufzuheben, das ist sicher stilvoll - und sogar noch mehr: historisch interessant - aber es ist auch ein bisschen seltsam. Das beste Beispiel knipste ich jetzt schnell und unscharf beim Wochenendbesuch:

Den Katzenteller in der Küche schmücken ein Goldrand und die Aufschrift "Zur Erinnerung an den 18. August 1870". Da frage ich leicht belustigt meine Mutter: "Was war denn am 18. August 1870?" und sie antwortet unbeirrt: "Da wurde meine Urgroßmutter geboren." Was sagt man dazu?

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Sonntag, 28. Februar 2010
Meine Lieblingsliste ...
...umfasst (wenn ich nichts vergessen habe) 45 Titel, fast ausschließlich Belletristik, ich habe auch ein paar Sachbuchtitel reingeschmuggelt. Es sind fast alles längere oder kürzere Einzeltexte, im Ausnahmefall habe ich auch mal einen ganzen Erzählband genannt. Dramatik dagegen fehlt, denn das interessiert mich weniger. Schade ist das nur wegen Schiller, Horvath und Büchner – und wegen der „Trilogie des Wiedersehens“ von Botho Strauß. Und Lyrik habe ich ganz rausgelassen – ich verrate hier nur, dass meine Lieblingsgedichte Nr. 1 -3 von Hofmannsthal sind, ansonsten liebe ich (wie vermutlich jeder vernünftige Mensch) die Gedichte von Morgenstern und Ringelnatz – und von den Ausländern Alexander Blok und Emily Dickinson.
Auch meine Belletristik-Liste ist deutschlastig. Voilà !

1. Manfred Bieler, Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich
2. Georg Büchner, Der hessische Landbote
3. Lewis Carrol, Alice im Wunderland
4. Stig Dagermann, Deutscher Herbst `46
5. Fjodor Dostojewski, Weiße Nächte
6. Hans Fallada, Geschichten aus der Murkelei
7. Hans Fallada, Lüttenweihnachten
8. Anne Frank, Tagebuch
9. Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers
10. Maxim Gorki, Konowalow
11. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen
12. Christoph Hein, Der fremde Freund („Drachenblut“)
13. Christoph Hein, Der Tangospieler
14. Judith Hermann, Sonja
15. Judith Hermann, Zuhälter
16. Hermann Hesse, Unterm Rad
17. Wolfgang Hilbig, „Ich“
18. E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf
19. E.T.A. Hoffmann, Nussknacker und Mausekönig
20. Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief
21. Hugo von Hofmannsthal, Reitergeschichte
22. Ödön von Horvath, Sportmärchen und kleine Prosa
23. Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne
24. Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen
25. Eduard von Keyserling, Schwüle Tage
26. Thomas Mann, Buddenbrooks
27. Thomas Mann, Tonio Kröger
28. Gustav Meyrink, Des deutschen Spießers Wunderhorn
29. Hans Erich Nossack, Der Untergang
30. Orhan Pamuk, Istanbul
31. Orhan Pamuk, Schnee
32. Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.
33. Ulrich Plenzdorf, kein runter kein fern
34. Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs
35. Wilhelm Raabe, Hastenbeck
36. Wilhelm Raabe, Stopfkuchen
37. Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues
38. Philip Roth, Der menschliche Makel
39. Arthur Schnitzler, Fräulein Else
40. Wassili Schukschin, Kalina Krasnaja
41. Frank Schulz, Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien
42. Anna Seghers, Das siebte Kreuz
43. Anna Seghers, Transit
44. Botho Strauß, Wohnen Dämmern Lügen
45. Jens Wonneberger, Gegenüber brennt noch Licht

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In Bloggersdorf kursiert eine Literaturliste ...
... mit hundert bedeutsamen Buchtiteln. Ich habe schon bei einigen mit Interesse gelesen, was sie so gelesen haben - und wie es ihnen gefiel. Hier nun meine Version (alle Bücher, die ich mehr als angelesen habe - fett):
1. Der Herr der Ringe, JRR Tolkien

2. Die Bibel (teilweise, wird eher wie ein Lexikon benutzt)

3. Die Säulen der Erde, Ken Follett

4. Das Parfum, Patrick Süskind (banal)

5. Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry (zu oft gelesen, kanns nicht mehr hören)

6. Buddenbrooks, Thomas Mann (herrlich: bürgerlich-konservativer Biedersinn und die geistreiche Eleganz und Dekadenz der Jahrhundertwende in einem Buch kombiniert – fast die Quadratur des Kreises)

7. Der Medicus, Noah Gordon

8. Der Alchimist, Paulo Coelho

9. Harry Potter und der Stein der Weisen, JK Rowling

10. Die Päpstin, Donna W. Cross

11. Tintenherz, Cornelia Funke (nett: macht Spaß zu lesen, prägt sich aber nicht ein)

12. Feuer und Stein, Diana Gabaldon

13. Das Geisterhaus, Isabel Allende

14. Der Vorleser, Bernhard Schlink (klug konstruiertes und stilistisch schlechtes Diskutierbuch – ideale Schullektüre, im schlechtesten Sinne deutsch)

15. Faust. Der Tragödie erster Teil, Johann Wolfgang von Goethe (super. Aber nicht mein Stil)

16. Der Schatten des Windes, Carlos Ruiz Zafón (hab ich nach 20 Seiten weggelegt, roch verdächtig nach süffig-banaler Schmökerliteratur)

17. Stolz und Vorurteil, Jane Austen

18. Der Name der Rose, Umberto Eco

19. Illuminati, Dan Brown

20. Effi Briest, Theodor Fontane (fand ich sterbenslangweilig, als ichs in der Schule lesen musste, würde mir heute vermutlich besser oder sogar gut gefallen)

21. Harry Potter und der Orden des Phönix, JK Rowling

22. Der Zauberberg, Thomas Mann (hab ich mit 22 begeistert gelesen, würde ich heute vermutlich spießig finden)

23. Vom Winde verweht, Margaret Mitchell

24. Siddharta, Hermann Hesse

25. Die Entdeckung des Himmels, Harry Mulisch (ich kenne nur den Film, der ist nicht schlecht)

26. Die unendliche Geschichte, Michael Ende

27. Das verborgene Wort, Ulla Hahn (hab ich auch nach zwanzig Seiten wegeglegt, ihre Gedichte mag ich auch nicht)

28. Die Asche meiner Mutter, Frank McCourt

29. Narziss und Goldmund, Hermann Hesse

30. Die Nebel von Avalon, Marion Zimmer Bradley

31. Deutschstunde, Siegfried Lenz (enttäuschend: betulich, tendenziell die Nazizeit verharmlosend)

32. Die Glut, Sándor Márai (hab "Die Gräfin von Parma" von ihm gelesen: mit großem Genuss weggeschmökert und sofort vergessen)

33. Homo faber, Max Frisch (hab ich gehasst – wie den ganzen Max Frisch)

34. Die Entdeckung der Langsamkeit, Sten Nadolny

35. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Milan Kundera (ein gut geschriebenes, kluges und wichtiges Buch, zumindest für Ostblockgeborene – wenn auch in der Haltung machohaft und unsympathisch)

36. Hundert Jahre Einsamkeit, Gabriel Garcia Márquez

37. Owen Meany, John Irving

38. Sofies Welt, Jostein Gaarder (ganz doof)

39. Per Anhalter durch die Galaxis, Douglas Adams

40. Die Wand, Marlen Haushofer (ging so)

41. Gottes Werk und Teufels Beitrag, John Irving

42. Die Liebe in den Zeiten der Cholera, Gabriel Garcia Márquez

43. Der Stechlin, Theodor Fontane

44. Der Steppenwolf, Hermann Hesse (schönes Buch, wohl eins der besseren von Hesse)

45. Wer die Nachtigall stört, Harper Lee

46. Joseph und seine Brüder, Thomas Mann

47. Der Laden, Erwin Strittmatter

48. Die Blechtrommel, Günter Grass (genial und widerlich gleichzeitig)

49. Im Westen nichts Neues, Erich Maria Remarque (einfach super)

50. Der Schwarm, Frank Schätzing

51. Wie ein einziger Tag, Nicholas Sparks

52. Harry Potter und der Gefangene von Askaban, JK Rowling

53. Momo, Michael Ende

54. Jahrestage, Uwe Johnson

55. Traumfänger, Marlo Morgan

56. Der Fänger im Roggen, Jerome David Salinger

57. Sakrileg, Dan Brown

58. Krabat, Otfried Preußler

59. Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgren

60. Wüstenblume, Waris Dirie

61. Geh, wohin dein Herz dich trägt, Susanna Tamaro

62. Hannas Töchter, Marianne Fredriksson

63. Mittsommermord, Henning Mankell

64. Die Rückkehr des Tanzlehrers, Henning Mankell

65. Das Hotel New Hampshire, John Irving

66. Krieg und Frieden, Leo N. Tolstoi

67. Das Glasperlenspiel, Hermann Hesse (bin irgendwann nach der Hälfte drin stecken geblieben – gute Grundidee, irgendwie zu abgehoben – und wesentlich zu lang)

68. Die Muschelsucher, Rosamunde Pilcher

69. Harry Potter und der Feuerkelch, JK Rowling

70. Tagebuch, Anne Frank (bewegend – aber weniger der Politik wegen, sondern wegen der authentisch geschilderten Pubertätsnöte, sie war der einzige Mensch, der mich verstand, als ich 14 war)

71. Salz auf unserer Haut, Benoite Groult

72. Jauche und Levkojen , Christine Brückner

73. Die Korrekturen, Jonathan Franzen (solide erzählter intellektueller Mainstream, mochte ich überhaupt nicht, hat mich teilweise regelrecht aggressiv gemacht)

74. Die weiße Massai, Corinne Hofmann

75. Was ich liebte, Siri Hustvedt

76. Die dreizehn Leben des Käpt’n Blaubär, Walter Moers

77. Das Lächeln der Fortuna, Rebecca Gablé

78. Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, Eric-Emmanuel Schmitt

79. Winnetou, Karl May

80. Désirée, Annemarie Selinko

81. Nirgendwo in Afrika, Stefanie Zweig

82. Garp und wie er die Welt sah, John Irving (nach zwanzig Seiten weggelegt, konnte ich nichts mit anfangen)

83. Die Sturmhöhe, Emily Brontë

84. P.S. Ich liebe Dich, Cecilia Ahern

85. 1984, George Orwell (auch ein wichtiges, sehr aufrichtiges Buch – aber viel, viel zu politisch, ich hab irgendwann in der zweiten Hälfte aufgegeben)

86. Mondscheintarif, Ildiko von Kürthy

87. Paula, Isabel Allende

88. Solange du da bist, Marc Levy

89. Es muss nicht immer Kaviar sein, Johanns Mario Simmel

90. Veronika beschließt zu sterben, Paulo Coelho

91. Der Chronist der Winde, Henning Mankell

92. Der Meister und Margarita, Michail Bulgakow (hab ich früher über alles geliebt, als ich neulich nochmal reinlas, war es mir sehr fremd)

93. Schachnovelle, Stefan Zweig (rasant, elegant, banal – wer war das gleich, der Zweig als „Literaturfabrikant“ bezeichnete?)

94. Tadellöser & Wolff, Walter Kempowski

95. Anna Karenina, Leo N. Tolstoi

96. Schuld und Sühne, Fjodor Dostojewski

97. Der Graf von Monte Christo, Alexandre Dumas

98. Der Puppenspieler, Tanja Kinkel

99. Jane Eyre, Charlotte Brontë

100. Rote Sonne, schwarzes Land, Barbara Wood

Mein eigene Lieblingsliste folgt demnächst.

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Freitag, 26. Februar 2010
Kleine Idiotien des Alltags
Ich habe heute wieder "Orientierungskurs" unterrichtet, die Vorbereitung auf den Politiktest, den kleinen Bruder des berühmten Einbürgerungstests. Was das für ein Blödsinn ist! 30% der Fragen sind völlig irrelevant, weitere 30 % versteht man nur, wenn man eh schon in der deutschen Sprache und Kultur orientiert ist. Zum Thema "Religöse Vielfalt" gibt es z. B. fünf Fragen - eine zur Religionsfreiheit und vier zum Christentum. Ähnlich spießig sind die Fragen zur Politik ("Was bedeutet die Abkürzung CSU in Deutschland?") und auch viele der historischen Fragen: "Wie waren die Besatzungszonen Deutschlands nach 1945 verteilt?"
Es ist mir peinlich vor meinen Schülern, die ja vor wenigen Monaten noch Analphabeten waren - und auch jetzt noch recht holperig lesen. Heute morgen auf dem Fahrrad hab ich mir einen Lesetext mit möglichst vielen der idiotisch schweren Politikwörter ausgedacht, der beginnt so: "Deutschland ist eine Demokratie. Es gibt seinen Bürgern viele Freiheiten. Auch für die Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit gelten die demokratischen Regeln. Leider haben diese Regeln meistens komplizierte Namen. Das ist so, weil die Juristen und Beamten eindeutige Begriffe für die Regeln festlegen müssen. Manche Beamte lieben diese Begriffe mehr als die demokratischen Regeln. Deshalb muss jeder Ausländer im Orientierungskurs lernen, was der Unterschied zwischen Bundesversammlung und Bürgerversammlung ist."

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Dienstag, 23. Februar 2010
Mein Beitrag zum Fall Hegemann
Na, da kommt man dieser Tage wohl nicht drumrum, auch einmal über Helene Hegemann zu schreiben. Ich stelle im Folgenden einen Leserbrief an Iris Radisch ein, die doch in der "Zeit" allem Ernstes den Eindruck vermitteln wollte, Helene Hegemann sei eine unabhängige junge Wilde, die vom patriarchalischen Feuilleton gehetzt wird, und sie entstamme einer Kultur, die "so herschaftsfrei, so gestzlos" sei. So naiv kann man doch nicht sein!

Sehr geehrte Frau Radisch,

ich antworte auf Ihren Kommentar „Die Alten Männer und das junge Mädchen“, weil er meines Erachtens zwar in der Sache richtig ist, aber dennoch die völlig falschen Signale aussendet.
Es ist sicher richtig, dass die aktuelle Debatte um Helene Hegemann sexistische Züge trägt und dass die geschmacklosen Angriffe auf ihre Person auch mit ihrem Geschlecht zu tun haben. Dass man (wie vorher bei der Ludhudelei) auch in der notwendig folgenden Niedermachung weniger das Werk als die Person im Blick hat und sich als moralischer Richter über eine Autorenpersönlichkeit aufspielt. So etwas wird in der Tat häufiger und heftiger an Autorinnen als an Autoren praktiziert. Erinnern Sie sich noch an die Debatte um Christa Wolf nach der Wende? Auch da wurde eine Autorin über Gebühr (und aus außerliterarischen Gründen) hochgelobt und, als der Zeitgeist umschlug, umso heftiger als Person niedergemacht, wobei ihr eigentliches Werk immer mehr aus dem Blick geriet. Oder Judith Hermann vor einigen Jahren – erst wie verrückt hochgelobt, und zwar vor allem für ihre Szenenähe, ihren Zigarettenkonsum und den modischen Ton ihrer Erzählungen - aber ihren zweiten, meines Erachtens deutlich besseren Erzählungsband hat man dann schon kaum noch wahrgenommen. Denn verkaufsträchtig war das Phänomen Judith Hermann, nicht ihre Literatur. Handelt es sich dagegen um einen männlichen Autor, dann argumentiert das Marketing mehr mit dem Begriff der literarischen Qualität als mit dem Verweis auf den Autor. Und entsprechend ist Uwe Tellkamp, als er entthront wurde, als Person recht glimpflich davon gekommen.
Aber wenn ein autoritäres Feuilleton Helene Hegemann angreift, dann kann man doch ihrem Buch nicht einfach im Umkehrschluss attestieren, dass es „so herrschaftsfrei, so gesetzlos“ sei. Ein Buch, das nach allen Regeln der Marktgesetze auf jede Ladentheke jeder Buchhandelskette gebracht wurde! Das ist doch einfach nicht glaubhaft. Seit wann bekommt eine junge, wilde Debütantin einen Vertrag mit Ullstein? Und warum unterschreibt sie so einen Vertrag? Aus reiner „Postpostauthentizität“?
Ich habe neulich in einem Kommentar gelesen, dass auf dem deutschen Buchmarkt derzeit mit 5% der Titel 90% des Umsatzes gemacht werden. Da fragt man sich doch, wie eine solche Gleichschaltung möglich ist. Und der Gedanke liegt nahe, dass das Hochloben von Hegemann ebenso zur Marketingstrategie gehört wie das Niedermachen, wenn es mit dem Hochloben aus irgendeinem Grund nicht mehr funktioniert: Hauptsache Aufmerksamkeit. Ich finde, da dürfen Sie als ZEIT-Autorin nicht mitmachen.
Frau Radisch, ich bitte Sie inständig, die in der Tat unappetitlichen, lächerlichen Meta-Debatten des Feuilletons einfach zu ignorieren, und lieber weiter Ihrer Arbeit als Kritikerin nachzugehen: uns Lesern die qualitätvollen Bücher vorzustellen, die von den 5% Blockbustern verdrängt werden und von denen wir ohne Ihre Mithilfe nicht erfahren würden. Helene Hegemann kommt schon ohne Sie klar.

... aus naheliegenden Gründen lege ich den Beitrag unter "Politk" ab ...

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