Dienstag, 13. Juli 2010
Die Hamburger Schulreform und ihre Wahlplakate
In Hamburg gibt es in einigen Tagen eine Volksabstimmung über die Schulreform ... na ja, jedenfalls über einen Teil von ihr. Das Wesentliche ist natürlich schon beschlossen: Man will vom dreigliedrigen (bzw. viergliedrigen, wenn man die Gesamtschulen mitrechnet) zum zweigliedrigen Schulsystem übergehen. Notwendig geworden ist dieser Schritt, weil die Hauptschule, diese bedauernswerte Schulform, seit einigen Jahrzehnten derart schamlos in die Enge getrieben wurde, dass man sie ehrlicherweise aus dem allgemeinen Schulsystem ausgliedern, in „Maßnahmeträger“ umbenennen und den Jobcentern unterstellen müsste. Manche in der Bevölkerung würden sich das auch wünschen – man wäre dann ein Problem los, kostengünstiger wäre es auch – man würde Lehrergehälter sparen und könnte stattdessen Sozialpädagogen und ähnliches niederes Volk einstellen. Aber leider gilt die Schulpflicht immer noch für alle Schichten der Bevölkerung.
Und so erweist man der Hauptschule immerhin eine letzte Gnade, sie nämlich abzuschaffen zugunsten einer weiterführenden allgemeinen Schule, die alle Schüler umfasst mit Ausnahme der Gymnasiasten. Und dem Hamburger Wahlvolk bleibt die Entscheidung überlassen, ob man diese neue Schulform, „Stadtteilschule“ genannt, sowie die Gymnasien schon nach vier oder erst nach sechs Jahren Grundschule beginnen lassen will. Es geht also um die Frage, ob die Grundschule nur eine Art Vorschule sein soll, an der man schon mal Lesen, Schreiben und das Einmaleins erlernt, bevor anderswo komplexere Dinge gelehrt werden, oder ob es über die Grundbildung hinaus irgendeinen allgemeinen Bildungskanon für alle gibt, ungeachtet, ihrer sozialen, religiösen oder ethnischen Herkunft.
Wie Sie sehen, habe ich eine Meinung der Sache, die ich auch schon per Briefwahl kundgetan habe. Wenn man aber die aktuellen Wahlplakate zum Volksentscheid anguckt, dürfte man sich eigentlich überhaupt nicht beteiligen an der Auseinandersetzung, so blöd argumentieren beide Seiten. Die FDP ist natürlich für ein langes Gymnasium und daher gegen die sechsjährige Grundschule. Ihr überall plakatiertes Argument: „Jedes Kind ist anders. Warum also ein starres Schulsystem?“ Was für eine Logik! Als wäre ein Schulsystem, das nach Klasse 4 schon die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen wirft, auf irgendeine Weise weniger starr als eins, das dies nach sechs Jahren tut! Ob ein Schulsystem starr ist oder auf Individuen eingeht, das erweist sich doch daran, ob und wie durchlässig es für Schulwechsler ist, und nicht daran, ob die eigenen Kinder schon früh aufs Gymnasium dürfen. Mir scheint, die FDP verwechselt hier mal wieder „liberal“ mit „kapitalistisch“: Es geht nicht um irgendeine Freiheit für individuell unterschiedliche Kinder, sondern um das Besitzrecht der Eltern an ihren Kindern. Und komisch: Genau denselben Herrschaftsanspruch vertreten Hamburg und seine Schulbehörde, die uns per Plakat wissen lassen: „Wir wollen mehr als gute Werte – guten Unterricht.“ Hier steckt doch als Idee dahinter: Die Werte sind uns ziemlich egal, solange wir die Schulstruktur bestimmen, die Didaktiken schreiben lassen und die Aufgaben fürs Zentralabitur festlegen. Dazu passt auch das laut schreiende Mädchen auf dem offiziellen Pro-Schulreform-Plakat, das auf plumpeste Weise das linke Klischee vom aufmüpfigen Gör bedient (Oh, Irmgard Keun, was hast du angerichtet!) – während den Reformgegnern für ihr Plakat ein braver blonder Junge und ein kindisch lächelnder Schulranzen einfallen.
Dass Schule ein Dienstleistung ist, und zwar für die Kinder, nicht für die Eltern, das scheint den technokratischen Reformern so wenig bewusst zu sein wie den egomanen Reformgegnern.

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Näher heranrücken
an Bologna? Noch schneller hnein in den Wirtschaftskreislauf. Am besten bereits im Mutterleib. – «Liberal»? Die «neue» FDP übersetzt das nunmal nicht anders.

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Es geht ja auch gar nicht
um die Kinder als solche. Nach denen wird nicht gefragt. Es geht nur um unterschiedliche Vorstellungen von Schule/ Bildung, die politisch und historisch begründet sind, an den Tatsachen der Realität aber meist vorbei gehen. Und am Ende bleibt alles beim Alten: Die Guten bleiben gut, die Schlechten werden nicht besser, wobei gut und schlecht hier nicht unbedingt von den Kindern selbst, sondern vor allem auch von den Randbedingungen abhängt. Statt dort anzugreifen, möchte man sie lieber schon in der fünften Klasse getrennt sehen, die vermeintlich Guten von den vermeintlich Schlechten.

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zum weinen
wenn jemand wie ich ein kind hat, das es trotz bester anlagen nicht ab der fünften ins gymnasium schafft (gottseidank ist es in berlin anders und man hat in der siebenten noch eine chance), dann kann man nicht nur traurig sondern wütend werden. es scheint keinen bildungselitenachwuchs mit anfangsproblemen in der schule zu geben. und auch nicht, nachdem die politiker entschieden haben, dass unsere kinder in berlin mit fünf in die schule kommen? es ist was faul im staate. und nicht die kinder!

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Dazu habe ich ja schon alles gesagt.

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Alles?
Na ja- dazu würde mir noch einiges andere einfallen, z.B., dass die Gesamtschule als Schulform sich die Aufgabe gesetzt hat, genau hier anzusetzen. Es gibt nämlich nicht nur "Bildungselitennachwuchs mit Anfangsproblemen", sondern hunderttausende von jungen Leuten, die nicht per se "gymnasial" ab Stufe 1, 2, 3 oder 4, sondern ggf. erst ab 9, 10 oder 11 sind. Die Finnen z.B. haben genau das vor 35 Jahren von Hartmut v. Hentig in Bielefeld gelernt und ihr System entsprechend gebaut.

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Es gibt nichts 'Neoliberaleres' als Eltern. Vor allem solche mit Einzelkind ...

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