Sonntag, 10. November 2019
Meine merkwürdigen Sozialkontakte, Teil 6
Es war sein gehasster Bruder, ein Banker, der ihn rettete, den Rausschmiss aus der Wohnung verhinderte, für die mehrere Monate Miete ausstanden, überhaupt per Vollmacht das Finanzielle regelte - wozu L. nicht mehr in der Lage war. Nur mit dem Hartz-IV-Antrag, das musste L. irgendwie selbst hinkriegen, und das schaffte er auch, allerdings brauchte er ein halbes Jahr dafür. Jetzt stabilisiert sich die Lage langsam. Dennoch bin ich nach wie vor entsetzt, wie ein intelligenter, aktiver Mensch zu einem ein solchen hilflosen Nervenbündel werden kann.

Welche Rolle ich dabei spiele? Fragen Sie mich nicht! Ein aktiver Helfer in der Not, das bin ich nicht. Immerhin hab ich mich weiter mit ihm getroffen, als andere sich abwandten, hab ihm auch einen betragsfreien Versicherungsvertrag unterschrieben, damit er auf seine Akquisezahlen kommt, aber ansonsten hab ich einfach zugeguckt, zunehmend kopfschüttelnd, und tue es noch.

Aber irgendwie ist es zwischen Lachen und Weinen. Oder wie würden Sie das empfinden, wenn Ihnen ein erwachsener Mann von Mitte 50 beim Bier gut gelangt folgende Geschichte erzählt:

„Ich war so glücklich, als ich aus der Arbeitslosen-Beratung kam – das ist ja alles gar nicht so aussichtslos – und im Überschwang, da muss ich wohl vor der Tür irgendwo das Portemonnaie abgelegt haben beim Fahrradabschließen. Stell dir das mal vor: mit den hundert Euro, die mir mein Bruder zugesteckt hat! Ich hab gleich meine Mutter angerufen, dass sie mir was borgt – für ein Niedersachsenticket zu ihrem Altersheim reichte mein Geld noch. Aber nicht mehr für Zigaretten. Ich bin dann leider in den falschen Zug gestiegen. Zum Glück gilt das Niedersachsenticket ja überall. Ich musste in X. gar nicht lange warten auf den Zug zurück. Ich hab da einfach einen Bahnmitarbeiter um eine Zigarette angeschnorrt, das war richtig gut, der kam aus Ungarn und war ganz erstaunt, wie gut ich Bescheid weiß über die politischen Verhältnisse in Ungarn. Na ja, ich bin dann im Zug eingeschlafen, bin grade aufgewacht, als der Zug den Bahnhof verließ, wo ich aussteigen musste, und musste also von Y. aus zurückfahren. Ich hab mir noch von jemandem ein Handy erbeten und in dem Laden angerufen, in dem meine Mutter immer ihre Süßigkeiten kauft, dass sie ihr Bescheid sagen, dass ich später komme. Und das hat geklappt! Als ich ankam, saß meine Mutter gut gelaunt in ihrem Café und gab mir das Geld. Aber jetzt ist natürlich wieder Schluss, denn ich hab ja auch den Ausweis und die Bankkarte verloren. Kannst du mir was leihen? … Nein, bei der Polizei hab ich das noch nicht gemeldet, ich bin da in eine Polizeiwache rein, aber der Beamte war so frech, weißt du: so ein Schnauzbärtiger – einfach ätzend. Ich bin gleich wieder raus. Außerdem wurde der Ausweis ja nicht gestohlen – ich hab ihn einfach verloren.“

ENDE

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