Montag, 12. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 4
In den folgenden Wochen wird es dringlich, es geht ihm so weit gut, das Krankenhaus will ihn loswerden. Der Psychologe beharkt Jörg, ich auch. Alles, was ich zu hören bekomme, ist, daß er nicht in ein Heim will. Aber auch keinen Pflegedienst. „Fremde Leute laß ich nicht in meine Wohnung - Martin, wenn du vielleicht ...?“ Aber wie denn, aus fünfzig Kilometer Entfernung, ohne Auto. Ja, wenn ich noch in Hamburg wohnen würde. Er schickt mich in die Wohnung, Blumen gießen - es sind ja nur zehn Minuten zu Fuß. Dort finden sich schon Spuren des Pflegedienstes: ein halbvoller Müllsack, Reinigungssachen, gebrauchte Aids-Handschuhe. Wohl etwas übertrieben, denke ich. Es ist gespenstisch.

Jörg lebt jetzt praktisch unter der Drohung: Wenn er nicht bald seinen Willen demonstriert, noch einmal ein eigenständiges Leben zu führen, morgens aufzustehen wie ein normaler Mensch und dann seinen Interessen nachzugehen, dann kommt die Einweisung ins Heim. Also verläßt er jetzt tagsüber sein Bett im Krankenhaus. Wenn ich komme, sitzt er meistens bei den anderen mobilen Patienten in der Fernsehecke, hält sich die Ohren zu und liest Zeitung. Einmal gelingt es mir nicht mehr, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Er sieht mich nur groß an und kehrt dann zu seiner „Morgenpost“ zurück. Nach der letzten Seite fängt er von vorne an. Die Mitpatienten, dankbar über die Abwechslung, verfolgen meine Bemühungen mit fröhlichen Kommentaren, etwa in dem Sinne, daß an den sowieso keiner mehr rankommt. Ich fliehe, nämlich zu Claudia, die neuerdings in St. Pauli wohnt und bei der ich mich ausheulen kann. Drei Stunden später geh ich noch mal ins Tropeninstitut, da liest er immer noch dieselbe Zeitung. Ich gebe auf.

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