Freitag, 9. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 3
Einmal paßt mich der Krankenhauspsychologe ab, bittet mich in mein Zimmer und läßt mich erstmal erzählen. Ihm scheint die Geschichte zu gefallen, wie wir uns kennengelernt haben trotz aller Unterschiedlichkeit. „Das ist ja schön, wie Sie sich da einfach gefunden haben.“ Dann erzählt er mir, was wirklich ansteht: Anderthalb Jahre Lebenserwartung hat der Mensch durchschnittlich nach dem Ausbruch von Aids, und für Jörg zählt die Zeit (was ich nicht wußte, obwohl ich es mir hätte zusammenreimen können) seit der schlimmen Lungenentzündung vor einem Jahr. Nun gut, es können auch schon mal drei Jahre werden, aber mehr ist sehr unwahrscheinlich. Auf seinen nahen Tod müßt ich mich gefaßt machen. Natürlich ist die nächste Frage, wie diese Monate aussehen könnten. Also wenn es weiter so rasant bergauf geht wie im Moment, meint der Psychologe, könnte er noch mal für eine Zeit nach Hause, ein Pflegedienst könnte täglich nach ihm sehen. Danach wäre ein Pflegeheim angebracht, es gibt da ein Haus in Elmshorn, das recht gut sein soll, da es überwiegend für jüngere Leute da ist.
Jörg selbst ist das Thema Zukunft nicht sehr lieb, von selbst spricht er nicht drüber. Und ich bin befangen. Der Psychologe meint ja, ich solle ihm einfach was erzählen, eine kleine Aufmunterung, ein Gespräch jede Woche, mehr müßte ich gar nicht tun, das wäre schon sehr viel. Aber wie, wenn er mich bloß noch mit großen Augen anstarrt, der von uns beiden immer derjenige mit den großen Sprüchen gewesen ist, und ich derjenige, der seine neuen Theorien beurteilen und seine neu erfundenen Gerichte probieren mußte? Da Jörg nichts sagt, fällt auch mir wenig ein. Was interessieren meine Schulgeschichten? Außerdem ist er ewig müde, antwortet einsilbig, nach einer Stunde spätestens mag er gar nicht mehr sprechen, manchmal dreht er plötzlich einfach den Kopf weg und macht die Augen zu. Und ich bin immer leicht beleidigt, schließlich bin ich eine gute Stunde mit dem Moped unterwegs gewesen durch den kalten Herbst, und der Rückweg im Dunkeln steht mir noch bevor. Die Sache bedrückt mich, ich schaff es einfach nicht, den Fröhlichen zu spielen.
„Sie müssen wissen“, sagt der Psychologe, „daß er stirbt. Sterben ist kein plötzliches Ereignis, sondern ein Prozeß, der sehr lange dauern kann. Er ist einfach nicht mehr der Mensch, den Sie kannten - das können Sie auch nicht verlangen - sondern er zieht sich langsam zurück auf immer einfachere Lebensfunktionen.“

Einmal, als ich gerade gehe, treff ich den Psychologen auf dem Flur, auch er in Eile. „Aber Ihnen geht´s soweit gut?“ fragt er im Vorübergehen. Ich bestätige. „Ja, man sieht’s.“ Dann steh ich in der dunklen Bernhard-Nocht-Straße und heule. Und weiß gar nicht, ob um mich oder um Jörg.

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