Dienstag, 6. Mai 2008
Jörgs Geschichte, Teil 2
Am nächsten Tag. Jörg sieht schon besser aus, spricht aber immer noch nicht. Ich werde zur behandelnden Ärztin gebeten. Wir sitzen in einem engen Zimmerchen voll medizinischer Geräte. Sie ist ungefähr so alt wie ich, blond mit einem runden Gesicht, sehr gutaussehend und spricht einen südlichen Dialekt. „Und Sie sind der Freund?“ - „?“ - „... ich meine, der Partner.“ Die Verwechslung ist mir peinlich Ihr nicht. Sie erklärt sachlich, was los ist, daß er wirklich nicht sprechen kann. Toxoplasmose, heißt das und ruft irgendwelche Lähmungen hervor. Er hatte mal wieder die vorbeugenden Medikamente nicht genommen, und dann muß es wohl ganz plötzlich gekommen sein. Wie es weitergeht, könne keiner voraussagen: ob und wie weit er sich erholt. Zum Schluß frage ich sie, wo sie herstammt. Sie lacht. „Aus München.“

Einmal die Woche fahr ich jetzt immer hin, meistens dienstags, da paßt es mir ganz gut. „Ach, ich gucke meistens aus dem Fenster“, erzählt er mir (dann nach ein paar Tagen medikamenten-Einnahme war die Sprache natürlich wieder da), „z. B. die Lampen da auf dem Astra-Schild am Brauereihochhaus, weißt du, daß die sich gestern von der Mitte nach oben bewegt haben irgendwie? Ich würd auch gern wissen, was eigentlich auf dem Bild da drüben an der Wand drauf ist. Ich finde, es sieht aus wie Donald Duck.“ In Wirklichkeit ist ein Stilleben mit Blumen.

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Jörgs Geschichte, Teil 1
Wochentags am Nachmittag mit dem Moped in Hamburg. Ich hab nicht viel Zeit, muß in die StUB wegen Fachliteratur für meine 11. Klasse in Geschichte. Aber zwei Stunden für Jörg sind schon drin - ich hab über einen Monat nichts von ihm gehört. Ich kauf zwei Astra an meinem alten Kiosk in der Silbersackstraße - sie kosten immer noch nur 1,65. Jörg reagiert nicht auf das vereinbarte Zeichen: dreimal Klingeln, auch beim zweiten Mal nicht. Von seinen Ausflügen ist er doch sonst abends immer wieder da. Zumal jetzt, wo er nicht mehr radfahren kann. Als ich grad das Moped wieder abschließe, öffnet sich die Tür. Im ersten Moment erkenn ich ihn gar nicht: das Gesicht eingefallen, die Augen tief in die Höhlen zurückgetreten. Unter dem Bademantel und den Jogginghosen skeletthaft abgemagerte Füße. Solche Menschen hab ich bisher nur in Dokumentarfilmen über KZs gesehen. Er muß sich die halbe Treppe zur Wohnung mühsam am Geländer hochhangeln. Plumpst wortlos in einen Sessel im Wohnzimmer. Ich bin verwirrt, sage irgendwelche Floskeln. Dann: „Willst du nicht sprechen oder kannst du nicht?“ Bei Jörg weiß man nie. Er lächelt höhnisch. Ich mach vor Verlegenheit erstmal die Biere auf. Jörg hat enorme Mühe, die Flasche zu halten, ist aber offensichtlich glücklich über das Bier. Ich trinke und überleg dabei, was eigentlich los ist. Offenbar hat er lange nichts zu sich genommen. Ich erinnere mich an seine Resignation. Vielleicht wollte er einfach sterben, als er merkte, daß es schlimmer wird, und ich bin ihm dazwischengekommen.
„Ich brauch noch was zu essen.“ sag ich „Soll ich dir was mitbringen?“ Seine Augen leuchten. Ich nehm den Schlüssel und lauf los zur Reeperbahn. Was ist zu tun? Auf jeden Fall kann ich ihn heut abend nicht alleinlassen. Also Marina anrufen und sagen, daß ich morgens nicht zum Kollegiumsausflug komme. Erst in der dritten Kneipe kann ich telefonieren. Marina nicht zu Hause. Ich ruf Olaf an: „Ruf Marina an, sag, daß ich nicht kommen kann - ein Freund liegt im Sterben.“ Er ist so verwirrt wie ich. Jetzt Essen kaufen. Giros für mich, aber was kann Jörg überhaupt kauen? Ein Straßenverkäufer bietet Salzbrezeln an, maßlos teuer, aber was solls.
Jörg ist ziemlich enttäuscht über die Brezel, weitergetrunken hat er auch nicht, er konnte die Flasche nicht mehr halten. Gierig guckt er auf mein Giros. Also lauf ich in die Küche und schneid ihm die Hälfte von dem Zeug schön in kleine Stücke auf einen Teller und brings ihm. Jetzt kann er auch die Gabel nicht mehr halten. Als ich ihn füttern will, wehrt er ab, dann siegt der Hunger, und ich kann einiges reinstopfen. Dann treff ich Vorbereitungen für die Nacht. Hol die Gästematratze für mich. Sein Bett ist eingepißt, ich bezieh es neu und bring ich ihn ins Bett. Liege noch ewig wach und denke nach. Kein vernünftiger Gedanke außer: das Bier - was wenn er wieder einpinkelt? Gott sei Dank hör ich, wie er sich irgendwann zum Klo schleppt.
Morgens ist mir klar, daß ich doch einen Krankenwagen holen muß. Ich meine, ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen, auch wenn er es vielleicht will und nur weil er Krankenhäuser haßt. Natürlich frag ich ihn, ob das in Ordnung ist. Er nickt.
Die Leute vom Rettungswagen sind unmöglich: „Aber das ist doch ein Pflegefall, kein Notfall! Den dürfen wir nicht mitnehmen.“ - „Aber was soll ich mit ihm machen. Ich muß heut mittag nach Hause. Ich kann ihn doch nicht hier liegenlassen.“ Die Leute haben die Idee, im Zimmer nach der Adresse seines Arztes zu suchen, finden sie auch, aber der Arzt ist im Urlaub, und es läuft nur der Anrufbeantworter. Auf mein Betteln erklären sie sich bereit, ins Hafenkrankenhaus zu fahren, vielleicht daß die was mit ihm anfangen können. Und so ist es auch: Das Hafenkrankenhaus weiß, daß drei Häuser weiter im Tropeninstitut eine Aids-Ambulanz ist. Wir fahren hin, und es stellt sich heraus, daß Jörg dort in der Kartei steht und aufgenommen werden kann. Die Rettungsleute werfen ihn mit nacktem Unterkörper auf ein Bett dort, die Bettdecke nehmen sie wieder mit. Und ich verschwinde unter Zurücklassung meiner Telefonnummer sowie des Versprechens, morgen wiederzukommen. In Harburg komm ich grad noch rechtzeitig zur Geschichtsexkursion, wo mich Armin und Olaf löchern, was eigentlich los gewesen ist.

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Weiter mit Resteverwertung
Es ist doch zum Kotzen, ich arbeite ständig, um gerade mal das Nötigste zu verdienen! Und selbst ein harmloses Hobby wie dieses Blog kann nicht adäquat mit Texten bestückt werden, weil ich keine Zeit hab, auch nur irgendwas Sinnvolles zu schreiben. Daher erstmal weiter mit Resteverwertung. Auf meinem Computer liegt im Ordner "Alte Texte" noch ein Bericht über das Sterben von meinem Freund Jörg. Er war mein Nachbar in meinem ersten Hamberger Jahr 1990, und wir blieben befreundet, auch als ich dann wegzog.
Jörg hatte durch Drogensucht alles verloren, war aus einer Thearapieeinrichtung abgehauen und hatte als Obdachloser mit noch funktionierendem Hirn schnell eine kleine Sozialwohnung in St. Pauli bekommen. Dort lebte er zurückgezogen und HIV-positiv und wurde immer kauziger. Als er starb (das war Mitte der neunziger, es gab noch die D-Mark und das Hafenkrankenhaus), wohnte ich in Stade bei Hamburg. Er war 42 Jahre. Um seinen Namen der Vergessenehit zu entreißen, habe ich ihn nicht geändert. Er hieß wirklich Jörg Heuer.

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