Mittwoch, 5. Februar 2025
DDR-Kunst, wiedergesehen
In Potsdam wurde vor einigen Jahren das Terrassenrestaurant „Minsk“, ein Vorzeigebau der DDR-Moderne, vor dem Abriss gerettet, und zwar durch einen reichen westdeutschen Kunstsammler, den SAP-Mitgründer Hasso Plattner, der die Ruine kaufte, aufwendig renovieren ließ und als Kunsthaus „Das Minsk“ wiedereröffnete. Das Haus sollte sich der Kunstwelt Ostdeutschlands öffnen, wie schon die Eröffnungsausstellung zeigte: eine Doppelschau mit Werken des berühmten Leipziger Malers Wolfgang Mattheuer und des amerikanischen Fotografen Stan Douglas, der sich mit klugen Einblicken in Potsdamer Schrebergärten präsentierte.

Die folgenden Ausstellungen hatten dann meist weniger mit ostdeutscher Kunst zu tun – die beste davon, eine Werkschau des amerikanischen Malers Noah Davis, gar nichts mehr. Es ist zu vermuten, dass das Plattner nicht gefiel, denn kurz darauf verließ die Leiterin Paola Malavassi nach erst 2 Jahren das Haus. Seit dem 2. Februar kann man nun im „Minsk“ zunächst einmal DDR-Kunst aus der Sammlung Plattner sehen, in einer Ausstellung mit dem Titel „Im Dialog“.

Das Konzept der Ausstellung orientiert sich an einem Interview-Band des Kunstkritikers Henry Schumann aus dem Jahr 1976. Schumann hatte versucht, die Bildende Kunst seines Landes als subjektiv und individuell zu präsentieren, indem er KünstlerInnen in langen Interviews zu Wort kommen ließ, und das ausgerechnet in dem berühmten Jahr 1976, als die Kulturpolitik noch einmal repressiver, die staatliche Kontrolle umfassender wurde. Wahrscheinlich hat Schumanns Konzept schon damals nicht funktioniert. Das Minsk zeigt ein entlarvend realistisches Schumann-Portrait von dem Maler Arno Rink. Mit der scharfkantigen Genauigkeit der Leipziger Schule portraitiert dieser das verkniffene Gesicht des Kritikers in einer Atelier-Situation - es wird klar: Ehrlich, frei ging es nicht zu zwischen Kritiker und KünstlerInnen.

Entsprechend vorsichtig, traditionell und privat, geben sich die Bilder der Zeit um 1976: ein eindringlich impressionistisches Interieur mit seiner Frau von Wolfgang Mattheuer, ein stimmungsvoller Blick auf Alexisbad im Harz von Willi Sitte, ein skurril-humoriger Parkspaziergang von Peter Herrmann.

In einem zweiten Raum versucht die Ausstellung, Schumanns Dialog-Idee mit etwas provokanteren Werken aufzugreifen, überwiegend aus der Zeit nach 1976. Offenbar geht es hier darum, zeittypische Positionen, kulturhistorische Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Grundidee dabei: staatsnahe Kunst der staatsskeptischen gegenüberzustellen. Einleuchtend wirkt die Gegenüberstellung jedoch nicht, im Gegenteil. So fragt man sich zum Beispiel, wieso die mit Abstand schärfste Kritik an den realsozialistischen Zuständen ausgerechnet vom anerkannten Staatsmaler Mattheuer kommt, während die Bilder der Widerständigen Kerbach, Schleime, Herrmann ziemlich sprach- und aussagelos wirken. Könnte es vielleicht sein, dass sich gerade in diesen Werken der Zweifler und Angefeindeten der Erfolg der staatlichen Denk- und Sprechverbote am deutlichsten manifestiert?

Dazu würde passen, dass die künstlerisch freiesten unter den Werken der Widerständigen die Mail-Art-Objekte von Wolf-Rehfeld und Schulz sind, die mit ihrem minimalistischen Dadaismus wie unter dem Radar fliegen und deren ausdrückliche Verweigerung von Sinn und Ernst es ihnen ermöglicht, im spielerischen Kritzeln und Herumtippen auf der Schreibmaschine zu einer freien Sinnentfaltung zu kommen.

Jedenfalls machen diese kleinen Objekte Spaß, verströmen einen Geist von Freiheit, der den großen Leinwänden von Kerbach, Ebersbach oder Firit abgeht, die ebenso verkopft und verkrampft daher kommen wie die im selben Raum ausgestellten großen Schinken von Sitte.

Vielleicht gibt es ihn gar nicht, den Gegensatz zwischen Staatskünstlern und Widerständigen – die zeichenhafte, fast comicartig ruppige Malweise zum Beispiel, mit der Mattheuer den „Koloss II“ gestaltet, sie findet sich genauso in Günter Firits „Selbstzerstörung“.

Als ich durch die Ausstellung ging, musste ich zurückdenken an die Gemälde von Noah Davis, die ich vor kurzem in denselben Räumen gesehen habe, auch er ein Widerständiger. Als schwarzer US-Amerikaner malte er wütend gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit an. Offenbar war es in seinem Land möglich, das klar auszudrücken und zur großen Form werden zu lassen. Bei den DDR-Künstlern der aktuellen Ausstellung des Minsk erlebte ich eher ein unwürdiges Versteckspiel, ein Verstecken hinter intellektuellen Formeln wie bei Mattheuer, hinter aufgesetztem Pathos wie bei Ebersbach und Sitte oder in einem nebulösen Irgendwo wie bei Händler.

Ich verließ die Ausstellung mit einem Gefühl von Kälte und Tristesse. War die DDR-Kunst wirklich so trostlos oder ist das dem persönlichen Geschmack und der Ankaufpolitik des Mäzens zu verdanken? Oder gar der Auswahl des Kurators Daniel Milnes aus Plattners doch umfangreicher Sammlung? Und wieso sammelt ein reicher Unternehmer aus dem Westen überhaupt mit solcher Ausdauer diese Kunst und errichtet ihr sogar ein eigenes Museum?

Vielleicht werden uns ja die kommenden Minsk-Ausstellungen unter der neuen Leitung Aufschluss darüber geben. Das könnte dann noch spannend werden.

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Samstag, 1. Februar 2025
Dialog über Kunst
"Weißt du", sag ich vorhin zu meiner Schwester, "die Leute haben mit Fluxus zu tun. Mag ich nicht so." - "Verstehe", antwortet sie, "so viel Kunststoff."

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Freitag, 10. Januar 2025
Kürzestrezension: "Grandhotel Budapest"
... den hab ich jetzt auch endlich gesehen. Merkwürdiger Film, sicher unterhaltsam und mit schönen Schauplätzen, aber was das soll, fragte ich mich schon. Wahrscheinlich müssen wir Europäer so exotisch auf Amerikaner wirken.

Mir schien, dass hier ein Amerikaner von merkwürdigen Völkerschaften weit weg hinterm Ozean erzählt, bei denen es massenwiese alte Schlösser und vergammelte Hotels, Nazis und Balaleikas und böhmische Wälder gibt.

"Und wieso haben sie für den indisch-asiatischen Haupthelden in seiner Verkörperung als alter Mann denn gar keinen indisch aussehenden Schauspieler gefunden?" Ich: "Wahrscheinlich wäre das zu viel des Realismus gewesen: ein indisch aussehender Liftboy, das geht, aber als er dann am Ende das ganze Hotel geerbt hat, muss er natürlich weiß aussehen."

Na ja, vielleicht war das einfach nicht unser Humor.

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Sonntag, 24. November 2024
Kürzestrezension: „Glück“ von Jackie Thomae
Wunderbares Buch! (jedenfalls, wenn es zum Schluss nicht noch ganz schlimm wird, ich bin erst zu 2 Dritteln durch) Ich hatte von Thomae schon „Brüder“ gelesen und auch das gemocht, wegen der flotten Sprüche und der treffsicheren Beschreibungen, etwa wie sie als Kennzeichen der 90er beschreibt, dass an völlig unpassender Stelle plötzlich Flipcharts mit Business-Plänen auftauchen …

„Glück“ ist noch besser, ich habe so viel gelacht und wiedererkannt. Natürlich keine Literatur, die man noch in hundert Jahren den Schülern als Thema für Aufsätze geben wird. Das Buch spielt heute und zeigt, wie es heute ist. Thema: Kinderwunsch und Mutterschaft. Dargestellt an ein paar Frauen, die mitsamt ihrer jeweils gesamten Familie bissig-ironisch vorgestellt werden, ohne dass jemals irgendeine Figur denunziert wird. Das muss man erstmal hinkriegen! Und die Platitüden, ohne die so ein Buch natürlich nicht auskommt bzw. ohne die es nie das nötige Tempo kriegen würde, die schiebt die Autorin immer schön gehässig einzelnen Figuren in den Mund. (Und was sie wem in den Mund schiebt, ist wiederum äußerst treffsicher.)

Natürlich ist es mal wieder eine Geschichte aus der oberen Mittelschicht, aber die Autorin weiß das auch und macht sehr deutlich, dass es gesellschaftlich unterhalb, aber auch oberhalb ihrer Figuren sehr viele Menschen gibt, die sehr anders leben. Überhaupt verstecken sich Klugheit und ein enormes Überblickswissen und durchaus auch Ernst unter ihrem fröhlichen Journalisten-Geschnacke.

Kurzum: ein Buch, das glücklich macht.

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Samstag, 6. April 2024
Kunstrezension: Stolpersteine oder schwarzer Block
Angesichts von Ereignissen, die nichts damit zu tun haben, wird ja dieser Tage auch wieder über das Holocaust-Gedenken diskutiert, und es kann sein, dass die Tatsache, dass ich heute über ein Denkmal „für die verschwundenen Juden Altonas“ schreibe, auch damit etwas zu tun hat, vielleicht aber auch nicht.

Jedenfalls zeigte mir vor ein paar Jahren ein Bekannter dieses Kunstwerk und meinte, das sei mal eine gelungene Form des Gedenkens, so minimalistisch und eindringlich. Ich stand eher ratlos vor dem schwarzen Klotz, ich verstand nicht, was das sollte.



Inzwischen habe ich das Denkmal öfter wiedergesehen, aber erst dieser Tage, als ich es mal in Ruhe betrachtete und auch die zugehörige Platzgestaltung mit Treppenanlage bemerkte, ging mir ein Licht auf: Ja, da spürte ich die Eindringlichkeit schon: Der Klotz steht ziemlich massiv im Raum und stört – und er will ja auch stören, verstören.



Aber wie das Ding erhaben mit einer Treppenanlage versehen, wie es staatstragend in eine Achse mit dem dahinterliegenden Rathaus gesetzt ist (nicht anders als das dahinter stehende alberne Kaiserdenkmal, das den dortigen „Platz der Republik“ verunziert) – nein, also, das gefällt mir nicht. Zumal derselbe Staat, dieselbe Kommune wenige hundert Meter entfernt ermöglichte, dass ein Einkaufszentrum auf einem von den Nazis verwüsteten jüdischen Friedhof mitsamt dort noch herumliegenden Toten errichtet wurde (nur eine versteckte Tafel im Kellergeschoss erinnert daran) – eine solche Öffentlichkeit sollte dann nicht vor dem Rathaus anfangen, Gedenken zu spielen.

Wie anders dagegen das Konzept der Stolpersteine, die mich so oft im Alltag innehalten lassen! Die Dinger blitzen auf, wenn mensch sich in der Selbstverständlichkeit des Alltagstrotts verliert, und erinnern: Mensch, denk nach! Bei mir jedenfalls funktioniert das, besser als bei dem dicken Denkmal dort in der Zentralachse.


P.S. ... und wie immer funktionieren meine Fotos nicht: Das Denkmal sieht auf meinen Schnappschüssen elegant, angemessen, stimmig aus, gar nicht so klotzig, wie ich es vor Ort erlebte.
Na ja, vielleicht ist es ja auch so - und ich mag einfach Stimmigkeit und Angemessenheit nicht - ich will überrascht, bewegt sein.

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Donnerstag, 25. Januar 2024
Weg mit den Märtyrerfotos!
Ich habe endlich mal wieder ein "Kleines Fernsehspiel" gesehen (damals, als ich noch ein einsamer Student war und alle Zeit der Welt hatte, vor allem nachts, da hab ich keins verpasst): "Stille Post".
Das war jetzt künstlerisch nicht so die größte Meisterleistung, aber natürlich alles andere als plump oder gar klischeehaft, nein, nur ein bisschen simpel und ungelenk in der Machart, dafür aber klug und sympathisch - eben typisch "Kleines Fernsehspiel".

Also: Ein Berliner Kurde bekommt 2015 Videos aus Erdogans Bürgerkrieg im Kurdengebiet zugespielt, die die Verbrechen der türkischen Armee hautnah zeigen. In der Kamerafrau erkennt er - an der Stimme, an dem Leberfleck an ihrem Bein, ... - seine totgeglaubte Schwester - und lässt sich auf einen Deal mit dem mysteriösen Überbringer ein: Wenn es ihm gelingt, mit Hilfe seiner Freundin, einer Fernsehjournalistin, die Bilder ins deutsche Fernsehen zu bringen, wird ihm der Kontakt zu seiner Schwester vermittelt. Seiner Schwester, die damals, als seine Eltern ermordet wurden, ihren Tod fingierte, um unterzutauchen, und die nun als Kamerafrau für die PKK agiert.

Natürlich traut die deutsche Redaktion den Bildern mit unischerer Herkunft nicht, und zwar vor allem, weil sie unspektakulär sind: Die Szene mit der Leiche ist viel zu verwackelt, und eine jammernde Frau mit Kopftuch in einer Ruinenlandschaft ist ihr auch nicht aussagekräftig genug, und in dem Moment, da in die demonstrierende Menge geschossen wird, sind nur lauter Beine im Bild.

Also frisiert die Freundin die Aufnahmen ein bisschen auf: mixt noch Flugzeuglärm und ein paar Detonationen in die Tonspuren, macht das Demostrantengeschrei lauter und schneidet das Ganze geschickt zusammen. Und schon erscheint das Material den Deutschen glaubhaft und schafft es in die Nachrichten und auch Claudia Roth im Bundestag zeigt sich erschüttert.

Als Gegenleistung gibt es einen Videocall mit der Schwester (die Freundin lädt ihn live ins Internet) - und es stellt sich heraus, dass diese auch nicht ganz echt ist, es ist eine andere Kämpferin, der Protagonist wurde gelinkt, damit er die Nachricht lanciert ...

Am Ende holt dieser enttäuscht und erbittert die Märtyrerfotos seiner Eltern, seiner Schwester von der Wand im Berliner Kurdenklub. Und tut damit das beste, was er in seiner Situation tun kann!

So simpel die Geschichte ist, so wahr ist sie auch - die Videos aus Kurdistan sind es jedenfalls: Es sind echte Videos, die der Regisseur persönlich dort eingesammelt hat. Und weil solche Videos, die so ergreifend unspektakulär, verwackelt und authentisch sind, hierzulande kein Mensch sehen will, hat er dann diesen kleinen Spielfilm um sie herum gestrickt. Und selbst das reicht dann nur fürs "Kleine Fernsehspiel" und irgendwelche Winkel-Filmfestspiele. Das große Publikum will die Wahrheit nicht sehen. Oder allenfalls industriell zubereitet als Kitschfilm.

Also, liebe Leser (soweit es Sie überhaupt gibt) - vergessen Sie die Wahrheit dieses Films nicht bei Ihrem täglichen Medienkonsum von Ereignissen, bei denen Sie nicht dabei waren.

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Freitag, 1. Dezember 2023
Zwei Bücher
Ach, wie schön, im Blog darf mensch, wie einst im Tagebuch, einfach drauflos schreiben, auch mit der privatesten, irrelevantesten Idee, und auch wenn ich die beiden zugrundeligenden Bücher grade mal angelesen habe …

Also, das kam so, dass ich dringend ein Buch brauchte, einen schönen, opulenten Roman zum Drinversinken am besten, denn wenn ich nichts zum Lesen habe, werd ich nervös und fühl mich leer (meine Frau behauptet, Bücher wären meine wahren und einzigen Freunde). Da fand ich ich in den FAZ-Papierstapeln meines Vaters eine Rezension zu Zadie Smith‘ neuem Roman „Betrug“. Ja, von Zadie Smith hatte ich schon gehört, vielleicht wärs an der Zeit, mal was von ihr zu lesen. Normalerweise greif ich als Geizhals und zum Antesten in einem solchen Fall zunächst zu einem früheren Roman der selben Person, die gibts im Internet in der Regel für fast umsonst, aber hier ergab die Internetrecherche, dass mich die früheren Romane von Zadie Smith nicht interessieren. Also fuhr ich vorbei bei der Buchhandlung und fand den aktuellen Roman dort tatsächlich vorrätig. Und im Rausgehen, beim schnellen Durchsehen der Auslagen (was man in meiner Buchhandlung, Christiansen in Ottensen, nie versäumen darf, die ist wirklich wohl sortiert), fiel mir noch ein kritisches Buch von Omri Boehm über Identitätspolitik auf, das ich kurz entschlossen gleich mitnahm. Da ich Omri Boehm wegen seiner Idee einer Haifa-Republik positiv, der Identitätspolitik dagegen kritisch gegenüberstehe, war es ja wahrscheinlich, dass das was bringt.

Dann begann ich gleich zu lesen – und wunderte mich selbst, dass es mich zunächst zu Boehm und gar nicht zu dem Roman zog. Also, das Buch, „Radikaler Universalismus jenseits von Identität“, ist großartig: klug und kenntnisreich, ich musste mich richtig anstrengen, um zu verstehen. Gleichzeitig von einem hohen Ethos getragen, das den Lesenden erschauern lässt durch seine Reinheit. Grundidee: Die erhabene Idee, dass alle Menschen als gleich zu betrachten sind, zu ihr gelangt man nicht durch verhandelten Konsens, nicht durch schnöden Pragmatismus (von Spinoza über Nietzsche bis hin zu den Denkern des Liberalismus und Neoliberalismus), der die Menschen zu „klugen Tieren“ degradiert, sie muss schon als metaphysisch, also göttlich, genau genommen mehr als göttlich (wie er mit einleuchtenden Beispielen aus der Bibel demonstriert) akzeptiert werden, sonst ist sie nichts wert.

Die Lektüre begeisterte mich, gab mir ein Gefühl von Reinheit, Schönheit, wahrhafter Gerechtigkeit. An einer Stelle jedoch fand ichs zu radikal: als er davon brichtet, wie nach der großen Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg in Gettysburg die Toten exhumiert wurden, um sie in Gut und Böse zu teilen: Die Nordstaatler wurden an Ort und Stelle und nun würdig wieder begraben, da das Schlachtfeld im Folgenden geheiligt wurde – die Südstaatler dagegen aussortiert und zur Beerdigung an ihre Heimatorte verbracht. Boehm fand das richtig, denn „die Wahrheit, dass alle Menschen zum Volk gehören müssen, wird durch den Ausschluss der konföderierten Soldaten hochgehalten“. Da fehlte mir dann ein bisschen die christliche Nächstenliebe, die Ungerechtigkeit hinnimmt, wenn sie dem armseligen Nächsten gegenüber Gnade walten lässt.

Ich schwenkte um zu Smith, und auch die verwirrte mich: ein historischer Roman, sehr englisch, sehr bodenständig, historisch präzise und voll bissigem Spott. Messerscharf im Sezieren familiärer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, ohne ein gelassenes Lächeln angesichts der Lächerlichkeit der Protagonisten, bitter in seiner Wahrhaftigkeit.

Also letztendlich so gnadenlos wie Boehm. Nur auf einer anderen Ebene, nicht in den Höhen philosophischer Ideen, sondern in den Niederungen historisch konkreter Alltäglichkeit. Dabei – ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch - gefallen mir beide Bücher ganz außerordentlich. Sie sind halt heftig, gehen zur Sache. Und wo mir das englische 19. Jahrhundert doch zu beklemmend wird, schalte ich um zu Boehms menschheitsumarmenden Ideen – und wo mir der zu sehr abschwebt, zurück zur Bissgkeit von Zadie Smith. Ich freue mich auf schöne Leseabende.

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Mittwoch, 8. November 2023
Berlin Prepper
Durch Zufall begegnete mir der Thriller „Berlin Prepper“ von Johannes Groschupf, ein wunderbares Buch: klug, spannend, nah an der Realität. Es geht um prekäres Leben in Berlin, um Hasskommentare im Netz und natürlich um Prepper. Erschienen 2019, tagespolitisch natürlich nicht mehr ganz aktuell, umso mehr aber, was die Verhältnisse betrifft. Ich frage mich, wieso so ein Buch nicht rauf und runter durch die Feuilletons besprochen wurde - es ist jetzt vermutlich kein besonders herausragendes sprachliches Meisterwerk, aber welche von den in aller Munde seienden Büchern sind das schon? Und dieses hier - es ist nicht nur solide und ordentlich erzählt, es ist auch gesellschaftlich relevant. Unbedingte Leseempfehlung!

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Dienstag, 26. September 2023
Schein-Debatte
Wahrscheinlich haben Sie es gar nicht gehört, da es so nebensächlich ist und blieb – ich schon, denn ich interessiere mich für DDR und für Literatur, und so erfuhr ich auch, dass die in Westdeutschland geborene Autorin Charlotte Gneuß einen Roman geschrieben hat, der in der DDR der siebziger Jahre spielt.

Sandra Kegel nahm das zum Anlass, in der FAZ zu fragen „Darf sie das?“ - und sogleich laut „ja“ zu rufen, wohl wissend, dass auch niemand etwas anderes behauptet oder gefordert hat. Wie kam sie also auf die abwegige Frage? Nun, der ostdeutsche Schriftsteller Ingo Schulze hatte ihm Vorwege der Veröffentlichung und offenbar in bestem Einvernehmen mit der Autorin das Manuskript des Romans gelesen und als Zeitzeuge einige Anmerkungen gemacht. Diese Anmerkungen gelangten auf merkwürdigen Wegen an die Jury des Deutschen Buchpreises, wo Gneuß‘ Roman auf den vorderen Plätzen mitspielt. Jury-Mitglied Katharina Teutsch (FAZ) machte den Vorgang öffentlich, sodass Kegel das zum Anlass nehmen konnte, Schulzes Anmerkungen zu einer philiströsen Meckerei an einem Kunstwerk aufzublasen.

Alle Feuilletons berichteten natürlich, aber niemand wollte sich so recht auf eine Debatte einlassen. Gerrit Bartels fragte im Tagesspiegel zu Recht, was das ganze Spiel nun sollte. Das frage ich mich auch. Ging es darum, wie es Bartels für möglich hielt, Gneuß‘ Buch von der Shortlist zu verdrängen (um Platz für den anderen zur Verfügung stehenden DDR-Roman zu schaffen, den mit der, so scheint es, konsequenteren Anti-DDR-Ideologie) oder doch umgekehrt darum, Gneuß‘ Roman die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen? Oder sollte nur der Ruf von Ingo Schulze ein bisschen beschädigt werden? Oder Dirk Oschmanns bitter wahres Diktum von Ostdeutschland als westdeutscher Erfindung?

Vielleicht ja gar nichts von alldem und es sollten nur die Seiten im Feuilleton gefüllt werden. Wenn dieses Letztere der Fall wäre, wäre das sehr schade, denn Sie sehen an meinem Text, wie viele hässliche Gedanken das unten in der Bevölkerung erzeugt, wenn oben nur ein ganz kleines bisschen gemogelt wird, um eine Debatte zu erfinden.

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Mittwoch, 30. August 2023
Zum Nachdenken für Pädagogen: Wissen ist Sein
Mal wieder ein Zitat aus der aktuellen Lektüre: Von Ann Cotten habe ich vor Jahren schon ein Buch gelesen, „Der schaudernde Fächer“, ein Buch mit Erzählungen und einigen eingestreuten Versen, das war ganz schön versponnen, originell, vieles habe ich gar nicht verstanden, oft aber gab es so treffende Formulierungen und Geschichtchen, z. B. bei dem Portrait von Berliner Hipsterfrauen als „Seekühe der Kunst“ habe ich herzlich gelacht, und klug war es auch.

Jetzt fiel mir in einem Buchladen „Die Anleitungen der Vorfahren“ in die Hände, ein großartiges Buch. Teils Kurzprosa, teils Gedichte, was das Leseerlebnis nochmal schöner macht, weil Cotten offenbar ein ziemliches dichterisches Talent hat - fast jedes zweites Gedicht eine richtige Perle. Und die Prosastücke, obwohl inhaltlich oft eher banal (Berichte über einen Studienaufenthalt in Hawaii) so originell und klug und umso klüger, je mehr sie ins Essayistische abschweifen – es ist einfach eine Freude!

Da begegnete mir vorgestern bei der Abendlektüre folgender Satz: „Wissen ist Sein, nicht ein Vorrat zum Wegpacken.“ Wie klug ist das denn! Es zeigt nicht nur, wie blöd das Bulimie-Lernen ist, das einfach Wissen reinstopft und vergisst. Es zeigt auch, dass die derzeit übliche Lernideologie falsch ist: dass man nämlich in der Schule eher nur Kompetenzen erwerben sollte, damit das Ich des Lernenden in die Lage versetzt wird, sich mithilfe der Kompetenzen für die eigenen persönlichen Ziele und Wünsche halt das Wissen selbst anzueignen, das es für seine individuellen Ziele und Wünsche benötigt. Nein, das ist letztendlich eine neoliberale, kapitalistisch besitzergreifende, ichbezogene Denkweise. Das Ich ist kein fertiges Ich, das weiß, was es will, und Wissen ist kein Vorrat, den mensch sich greift, um vorwärts zu kommen. Das Wissen selbst ist Bestandteil des Ichs, wo es lebt und das Sein, die Ziele und Wünsche mitbestimmt. Du musst die Welt kennen, um dich in ihr zu orientieren, um in ihr etwas wollen zu können.

Apropos Neoliberalismus: Zwei Seiten weiter heißt es bei Cotten: „Ob das auch eine Präfiguration einer Kamikaze-Melancholie darstellt, auch eine Präfiguration der Bescheuertheit, Muster des Ignorierens oder Beiseiteredens der brennenden Erde, um weiter den Kult der Notwendigkeitsillusionen, des koks- oder kaffeegestützten Gefühls der Kompetenz im Augenblick zu feiern?“

Treffender, schöner hab ich das noch nie gelesen.

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