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Donnerstag, 29. November 2018
So war das, Teil 12
damals, 18:57h
Danach sahen wir uns erstmal nicht mehr. Dass ich nicht mehr bei der Wohnung helfe, teilte ich ihr schriftlich mit, auf einem ebensolchen Zettel, wie sie sie zu verteilen pflegte. Zeichnen konnte ich zwar nicht, aber die richtigen Worte zu finden, das gelang mir immer ganz gut, und hier waren kalte Worte die richtigen.
Ich hörte dann, dass andere ihr halfen mit der Wohnung. Es gab auch eine Einweihungsparty. Johanna und Erik gingen hin. Auch ich hatte ein Zettelchen mit so einer Kerstin-Kritzelei erhalten. Ich sah es mir lange an, es war schon genial, wie sie in wenigen schwarzen Federstrichen auf einem winzigen Papier eine zauberhafte Atmosphäre entstehen lassen konnte, die Idee einer Kerstin im Aufbruch, an der Schwelle eines selbstbestimmten Lebens. Eine Idee, von der ich glaubte, sie stimmt nicht.
Kerstin war nicht die einzige, die dieser Idee anhing im Frühjahr 1989. Erik engagierte sich neuerdings an der Uni, es ging um die Legalisierung von Schwarzwohnungen. Den Parteichef der Uni habe er schon auf seiner Seite, erzählte er mir stolz. „Und die Baupolizei kriegen wir auch noch überzeugt!“ Alle paar Tage saß nun eine Gruppe von Studenten bei uns in der Wohnung, außer Erik allesamt Schwarzwohner. Natürlich auch Johanna und Kerstin. Sie stellten eine Liste leer stehender Wohnungen zusammen, die Studenten zur Verfügung gestellt werden könnten – im Wesentlichen handelte es sich um die Wohnungen, in denen sie selbst illegal schon wohnten. Aber sie suchten noch weitere. So jedenfalls erzählte mir es Johanna, denn ich nahm an den Treffen nicht teil. Wenn die Leute kamen, verließ ich die Wohnung. Johanna war stolz, dass alle es wagten, ihre Schwarzwohnungsadressen preiszugeben: „Es sind wirkliche Verhandlungen, Mario,“ sagte sie, „und es geht um wirkliche Dinge. Nicht so ein Blödsinn wie der Friedenskreis. Und du musst nicht weggehen, wenn wir uns treffen in deiner Wohnung. Du gehörst zu uns.“
Und dann fuhr Kerstin überraschend nach Berlin. Auch das verriet Johanna mir. Und sie hatte Recht damit: Es war mir nicht egal. Ich spürte das in der Magengrube. Aber ich sagte nichts.
Als Kerstin aus Berlin zurückkam, kam sie zuerst zu mir. Jedenfalls klingelte sie an unserer Tür zur Abendbrotszeit. „Erik ist nicht da.“ sagte ich zur Begrüßung. „Ich weiß“, antwortete sie. „Lässt du mich trotzdem rein?“ Wir aßen Butterbemmen, ich hatte eine Flasche Wein dazugestellt. „Nur einen Tee, bitte.“, sagte Kerstin. – „Meinetwegen.“, erwiderte ich, „Wie wars in Berlin?“ – „Ganz okay. Knut geht’s gut. Aber was er eigentlich macht, weiß ich gar nicht.“ – „Und du?“ – „Ja, was soll ich sagen? Du weißt, dass Knut alle Frauen rumkriegt. Und das macht er gut. War ganz in Ordnung. Es ist erledigt.“ Ich sagte gar nichts. So direkt hatte ich das gar nicht gemeint, aber so direkt hat sie geantwortet. Wir saßen dann noch eine Weile zusammen und redeten über andere Sachen, und es war angenehm, so wie es mit Kerstin immer angenehm war, wenn sie mal nicht schwieg. Auch an die Inhalte von diesem Gespräch kann ich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur, wie es aussah: Kerstins Hose, ein rötlich-graues Pfeffer-und-Salz-Muster, die Teetassen mit dem längst kalt gewordenem, süßen Tee, die schwarze Haarsträhne über ihren graugrünen Augen. Und ich erinnere mich an unsere Abschiedsumarmung, die gut war, vertraut, leidenschaftslos. Ja, es war erledigt.
Ich hörte dann, dass andere ihr halfen mit der Wohnung. Es gab auch eine Einweihungsparty. Johanna und Erik gingen hin. Auch ich hatte ein Zettelchen mit so einer Kerstin-Kritzelei erhalten. Ich sah es mir lange an, es war schon genial, wie sie in wenigen schwarzen Federstrichen auf einem winzigen Papier eine zauberhafte Atmosphäre entstehen lassen konnte, die Idee einer Kerstin im Aufbruch, an der Schwelle eines selbstbestimmten Lebens. Eine Idee, von der ich glaubte, sie stimmt nicht.
Kerstin war nicht die einzige, die dieser Idee anhing im Frühjahr 1989. Erik engagierte sich neuerdings an der Uni, es ging um die Legalisierung von Schwarzwohnungen. Den Parteichef der Uni habe er schon auf seiner Seite, erzählte er mir stolz. „Und die Baupolizei kriegen wir auch noch überzeugt!“ Alle paar Tage saß nun eine Gruppe von Studenten bei uns in der Wohnung, außer Erik allesamt Schwarzwohner. Natürlich auch Johanna und Kerstin. Sie stellten eine Liste leer stehender Wohnungen zusammen, die Studenten zur Verfügung gestellt werden könnten – im Wesentlichen handelte es sich um die Wohnungen, in denen sie selbst illegal schon wohnten. Aber sie suchten noch weitere. So jedenfalls erzählte mir es Johanna, denn ich nahm an den Treffen nicht teil. Wenn die Leute kamen, verließ ich die Wohnung. Johanna war stolz, dass alle es wagten, ihre Schwarzwohnungsadressen preiszugeben: „Es sind wirkliche Verhandlungen, Mario,“ sagte sie, „und es geht um wirkliche Dinge. Nicht so ein Blödsinn wie der Friedenskreis. Und du musst nicht weggehen, wenn wir uns treffen in deiner Wohnung. Du gehörst zu uns.“
Und dann fuhr Kerstin überraschend nach Berlin. Auch das verriet Johanna mir. Und sie hatte Recht damit: Es war mir nicht egal. Ich spürte das in der Magengrube. Aber ich sagte nichts.
Als Kerstin aus Berlin zurückkam, kam sie zuerst zu mir. Jedenfalls klingelte sie an unserer Tür zur Abendbrotszeit. „Erik ist nicht da.“ sagte ich zur Begrüßung. „Ich weiß“, antwortete sie. „Lässt du mich trotzdem rein?“ Wir aßen Butterbemmen, ich hatte eine Flasche Wein dazugestellt. „Nur einen Tee, bitte.“, sagte Kerstin. – „Meinetwegen.“, erwiderte ich, „Wie wars in Berlin?“ – „Ganz okay. Knut geht’s gut. Aber was er eigentlich macht, weiß ich gar nicht.“ – „Und du?“ – „Ja, was soll ich sagen? Du weißt, dass Knut alle Frauen rumkriegt. Und das macht er gut. War ganz in Ordnung. Es ist erledigt.“ Ich sagte gar nichts. So direkt hatte ich das gar nicht gemeint, aber so direkt hat sie geantwortet. Wir saßen dann noch eine Weile zusammen und redeten über andere Sachen, und es war angenehm, so wie es mit Kerstin immer angenehm war, wenn sie mal nicht schwieg. Auch an die Inhalte von diesem Gespräch kann ich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur, wie es aussah: Kerstins Hose, ein rötlich-graues Pfeffer-und-Salz-Muster, die Teetassen mit dem längst kalt gewordenem, süßen Tee, die schwarze Haarsträhne über ihren graugrünen Augen. Und ich erinnere mich an unsere Abschiedsumarmung, die gut war, vertraut, leidenschaftslos. Ja, es war erledigt.
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Mittwoch, 28. November 2018
So war das, Teil 11
damals, 19:03h
Aber auch ich wusste nicht, was werden sollte. Merseburg, das war vorbei. Knut in Berlin. Erik und Johanna immer öfter zu zweit unterwegs. Kerstin hatte sich erledigt, wie es schien. Was blieb, war meine Arbeit, in die ich zufällig geraten war und die zufällig gut funktionierte. Daran hielt ich mich fest, denn ich spürte, dass alles andere zu rutschen begann. Die ganze DDR begann zu rutschen, da hatte Knut schon Recht. Deshalb war er ja weg. Mir machte das Angst. Erik erzählte begeistert, dass an der Hochschule plötzlich unzensiert gestaltete Wandzeitungen möglich waren, dass sich die Parteileute dafür interessierten, was die Studenten zu sagen hatten, und dass altstalinistische Professoren auf einmal verängstigt schwiegen. Ich wollte nichts davon wissen. Ich suchte nicht nach Offenheit, ich suchte das Leben.
Deshalb musste ich weg von Merseburg. Aber was sollte ich tun? Alles, was ich hatte, das war hier, das war meine Arbeit, das war meine geliebte Altstadtwohnung. Und dann kam sogar Kerstin zurück. Was ich davon halten sollte, das wusste ich gar nicht. Sie bat mich, ihr bei der Renovierung der Wohnung zu helfen, die sie mit Knuts Hilfe gefunden hatte, zwei Zimmern mit Klo, ganz bei mir in der Nähe.
Es war ein ärmliches, dunkles Fachwerkhaus, in dem nur noch ein offizieller Mieter wohnte, ein Haus, das sehr danach roch, bald abgerissen zu werden – nachfragen konnte man nicht, da es galt, sich illegal einzuschleichen. Kerstin bat mich um Hilfe, und natürlich sagte ich nicht nein. Das neue Schloss hatte sie ja schon vor Wochen eingebaut, jetzt hieß es Malern, es ging um die Frage, wie sich ein Kochplatz einrichten ließ, und das Fenster nach hinten raus war ziemlich undicht. Genau genommen stand die Entscheidung an, ob die Wohnung überhaupt ernsthaft bewohnbar war. Ein bisschen muffig roch es schon. Aber die Zimmer hatten offensichtlich auch länger leer gestanden, und es war Winter, ein milder, nasser Winter.
Kerstin tat so, als gäbe es die Zweifel nicht. Sie war voll Elan, besorgte Farbe und Malerrollen, auch einen zweiflammigen Campingkocher mit Propangasflasche, denn einen Gasanschluss hatten wir nicht gefunden. Ich erinnere mich an einen Samstag, den wir in der kalten Wohnung damit verbrachten, die alten Tapeten mit Weiß zu überpinseln. Rein optisch überzeugte das Ergebnis, trotzdem stieg meine Skepsis. Und sie übertrug sich von der Wohnung auf Kerstin. Was war das zwischen ihr und Merseburg, zwischen ihr und mir? Eine vielleicht schon verpasste Chance? Ein sentimentaler Reflex? Als Erik bei mir einzog, da hatte ich mich nach der Hochschule gesehnt, ich hatte Studentinnen spannend gefunden, auch Kerstin hatte ich hinterhergeglotzt auf der Straße. Jetzt kannte ich Kerstin, und ich wusste, sie würde mir fremd bleiben. Was schön war an ihr, und das war fast alles, das war nicht für mich schön, das zeigte mir jede ihrer Gesten. Auch wenn ihr Mund etwas anderes sagte. Auch wenn die Situation nach außen hin anders aussah.
"Ein Innenklo!" sagte Johanna anerkennend, als ich in Arbeitssachen nach Hause kam und Erik und sie beim Abendbrot saßen. "Mensch, ich freu mich so für Kerstin. Dass sie endlich aus diesem Wohnheim rauskommt. Und wie ihr das zusammen macht, das find ich auch gut." Sie lächelte vielsagend. Sicher wollte sie jetzt hören, dass wir doch noch ein Paar geworden waren. Dann hätte alles seine Ordnung gehabt. Aber nichts hatte seine Ordnung in diesem Jahr 1989.
Als ich mich im März einmal nach einer Saufnacht im Bett von Eva wiederfand – da war es sehr schön, übrigens – da dachte ich beim Nachhausegehen morgens, in der Vormittagseinöde von Leuna: „Das hätte jetzt eigentlich Kerstin sein müssen.“ War sie aber nicht. Eva war die Falsche und Kerstin war nicht die Richtige, jedenfalls nicht geworden. Vor allem stank mir ihr Studentenstatus. Ich wurde richtig wütend, wenn ich daran dachte: War ich nicht eigentlich der Intellektuelle? Warum hatte sie Abitur und ich nur eine abgebrochene Ausbildung? Und wieso hatte sie kein Problem damit, nach dem Studium ins Werk übernommen zu werden? Was wollte sie da? Ihre Ironie, ihre blasse Skepsis, ihre verstockte Lust am Schweigen, alles, was ich an ihr mochte, das würde sie dort hinter sich lassen. Wieso war sie bereit, das zu tun? Ich hatte keine Lust mehr, ihr weiter bei der Wohnung zu helfen, dieser Alibiwohnung, mit der sie beweisen wollte, dass sie doch irgendwo unkonventionell sei. Aber trotzdem fand ich mich am nächsten Tag wieder in Arbeitssachen bei ihr ein.
Einmal, wir hatten gut was geschafft in ihrer Wohnung, saßen wir noch auf einen Tee bei mir und schwiegen. Eigentlich eine idyllische Situation. Aber es stimmte nichts. Da versuchte ich es ein letztes Mal und nahm ihre Hand. Kerstin krampfte sich zusammen und sagte leise: "Nicht." Ich ließ ab, erschrocken, beschämt. "Warum jetzt?", sagte sie, plötzlich aufbrausend, "Warum jetzt noch? Damals auf der Brücke. Oder als wir uns abends den Wein geholt haben. Aber du willst ja nicht.“ Sie nahm ihre Sachen. Ich ließ sie gehen.
Deshalb musste ich weg von Merseburg. Aber was sollte ich tun? Alles, was ich hatte, das war hier, das war meine Arbeit, das war meine geliebte Altstadtwohnung. Und dann kam sogar Kerstin zurück. Was ich davon halten sollte, das wusste ich gar nicht. Sie bat mich, ihr bei der Renovierung der Wohnung zu helfen, die sie mit Knuts Hilfe gefunden hatte, zwei Zimmern mit Klo, ganz bei mir in der Nähe.
Es war ein ärmliches, dunkles Fachwerkhaus, in dem nur noch ein offizieller Mieter wohnte, ein Haus, das sehr danach roch, bald abgerissen zu werden – nachfragen konnte man nicht, da es galt, sich illegal einzuschleichen. Kerstin bat mich um Hilfe, und natürlich sagte ich nicht nein. Das neue Schloss hatte sie ja schon vor Wochen eingebaut, jetzt hieß es Malern, es ging um die Frage, wie sich ein Kochplatz einrichten ließ, und das Fenster nach hinten raus war ziemlich undicht. Genau genommen stand die Entscheidung an, ob die Wohnung überhaupt ernsthaft bewohnbar war. Ein bisschen muffig roch es schon. Aber die Zimmer hatten offensichtlich auch länger leer gestanden, und es war Winter, ein milder, nasser Winter.
Kerstin tat so, als gäbe es die Zweifel nicht. Sie war voll Elan, besorgte Farbe und Malerrollen, auch einen zweiflammigen Campingkocher mit Propangasflasche, denn einen Gasanschluss hatten wir nicht gefunden. Ich erinnere mich an einen Samstag, den wir in der kalten Wohnung damit verbrachten, die alten Tapeten mit Weiß zu überpinseln. Rein optisch überzeugte das Ergebnis, trotzdem stieg meine Skepsis. Und sie übertrug sich von der Wohnung auf Kerstin. Was war das zwischen ihr und Merseburg, zwischen ihr und mir? Eine vielleicht schon verpasste Chance? Ein sentimentaler Reflex? Als Erik bei mir einzog, da hatte ich mich nach der Hochschule gesehnt, ich hatte Studentinnen spannend gefunden, auch Kerstin hatte ich hinterhergeglotzt auf der Straße. Jetzt kannte ich Kerstin, und ich wusste, sie würde mir fremd bleiben. Was schön war an ihr, und das war fast alles, das war nicht für mich schön, das zeigte mir jede ihrer Gesten. Auch wenn ihr Mund etwas anderes sagte. Auch wenn die Situation nach außen hin anders aussah.
"Ein Innenklo!" sagte Johanna anerkennend, als ich in Arbeitssachen nach Hause kam und Erik und sie beim Abendbrot saßen. "Mensch, ich freu mich so für Kerstin. Dass sie endlich aus diesem Wohnheim rauskommt. Und wie ihr das zusammen macht, das find ich auch gut." Sie lächelte vielsagend. Sicher wollte sie jetzt hören, dass wir doch noch ein Paar geworden waren. Dann hätte alles seine Ordnung gehabt. Aber nichts hatte seine Ordnung in diesem Jahr 1989.
Als ich mich im März einmal nach einer Saufnacht im Bett von Eva wiederfand – da war es sehr schön, übrigens – da dachte ich beim Nachhausegehen morgens, in der Vormittagseinöde von Leuna: „Das hätte jetzt eigentlich Kerstin sein müssen.“ War sie aber nicht. Eva war die Falsche und Kerstin war nicht die Richtige, jedenfalls nicht geworden. Vor allem stank mir ihr Studentenstatus. Ich wurde richtig wütend, wenn ich daran dachte: War ich nicht eigentlich der Intellektuelle? Warum hatte sie Abitur und ich nur eine abgebrochene Ausbildung? Und wieso hatte sie kein Problem damit, nach dem Studium ins Werk übernommen zu werden? Was wollte sie da? Ihre Ironie, ihre blasse Skepsis, ihre verstockte Lust am Schweigen, alles, was ich an ihr mochte, das würde sie dort hinter sich lassen. Wieso war sie bereit, das zu tun? Ich hatte keine Lust mehr, ihr weiter bei der Wohnung zu helfen, dieser Alibiwohnung, mit der sie beweisen wollte, dass sie doch irgendwo unkonventionell sei. Aber trotzdem fand ich mich am nächsten Tag wieder in Arbeitssachen bei ihr ein.
Einmal, wir hatten gut was geschafft in ihrer Wohnung, saßen wir noch auf einen Tee bei mir und schwiegen. Eigentlich eine idyllische Situation. Aber es stimmte nichts. Da versuchte ich es ein letztes Mal und nahm ihre Hand. Kerstin krampfte sich zusammen und sagte leise: "Nicht." Ich ließ ab, erschrocken, beschämt. "Warum jetzt?", sagte sie, plötzlich aufbrausend, "Warum jetzt noch? Damals auf der Brücke. Oder als wir uns abends den Wein geholt haben. Aber du willst ja nicht.“ Sie nahm ihre Sachen. Ich ließ sie gehen.
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Dienstag, 27. November 2018
So war das, Teil 10
damals, 21:25h
Kerstin sah ich bald wieder. Ich traf sie auf dem Weihnachtsmarkt, als ich leicht gestresst mein Rad zwischen Buden und Menschen durchschob. Einer dieser Menschen war sie. Ich erkannte es an der ganz typischen Krümmung ihres Nackens, mit der sie sich über ein heißes Getränk beugte und pustete. Offenbar war sie allein. Ihr schwarzes Haar quoll unter einer Strickmütze hervor und lag wie vergessen als loser Zopf auf dem Kragen ihrer Jacke. Als ich sie ansprach, wandte sie sich um. Aus ihren Augen blitzte etwas Böses, ihre Mundwinkel zuckten. Ich versuchte es mit banalen Nettigkeiten, ich wollte nicht anknüpfen an neulich. Kerstin sagte nichts, während ich redete und dabei mit starren Augen versuchte, einen Kontakt herzustellen. „Ich werde umziehen.“ sagte Kerstin plötzlich. „Du willst weg?“ Ich war erstaunt, das war das Letzte, das ich erwartet hätte. „Nein, wieso? Ich hab eine Wohnung gefunden, hier in Merseburg.“ Ihre Haltung straffte sich, sie sah mich direkt an. „Ich verstehe. Du denkst, ihr habt hier die Hoheit über die Schwarzwohnungen. Und ich, wenn ich nicht mehr im Wohnheim wohnen will, ich soll verschwinden. Ich verschwinde aber nicht. Knut hat mir einen Tipp gegeben: ein fast leer stehendes Haus. Gleich hier um die Ecke. Wir haben schon ein Schloss eingebaut. Der Nachbar, der da noch wohnt, ist auch einverstanden.“ Es entstand eine Pause. „Hast du eigentlich meinen Brief bekommen?“, meinte sie dann. „Den Zettel in meinem Briefkasten? Ja.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unmut stieg in mir hoch. „Eine hübsche Geschichte. Schade, dass es so nicht gewesen ist.“ - „Ja, schade.“, sagte Kerstin.
Zu dieser Wohnungsgeschichte hätte ich Knut gern mal befragt. Aber die Gelegenheit ergab sich nicht, Knut war nie wirklich da, immer auf dem Sprung. „Was machst du eigentlich, wenn du weg bist?“, fragte ich ihn einmal in der Frühstückspause, zu seinen Diensten erschien er regelmäßig. Er antwortete nicht sofort. „Du kennst mich.“, meinte er dann, „ich halt das manchmal nicht aus, euer Schneckentempo hier. Weißt du, was in Dresden los ist grade?! Und in Berlin? Ich muss da einfach vorbeigucken manchmal … aber weißt du, das ist nur eine Phase. Eigentlich will ich in Merseburg bleiben. Ich muss das auch mit einer eigenen Wohnung endlich in Angriff nehmen, das geht doch so nicht weiter.“ Ich sah ihn fragend an. „Lass mir ein paar Wochen Zeit, Mario. Dann sehn wir klarer.“
Das tat ich. Aber anders wurde es nicht. Eher schlimmer: Knut war weniger und weniger da. So schmerzhaft, wie vorher manchmal seine Präsenz gewesen war, war jetzt seine Abwesenheit. Dabei wohnte er immer noch bei Erik und mir. Aber man wusste überhaupt nicht mehr, wann er da war und wann nicht. Häufig kam er irgendwann nachts, ging am Morgen zur Arbeit und verschwand danach wieder. Ich erinnere mich an einen Morgen, als ich ihn überraschend morgens in der Küche traf. Im Halbschlaf hatte ich ihn wohl nachts rumpeln gehört, als er kam, aber das hatte mein Bewusstsein nicht erreicht. „Guten Morgen!“ erscholl es, als ich die Küchentür öffnete. Er saß mit einer Tasse in der Hand am Fenster, er wirkte ernst, ganz anders als seine Stimme. Ich murmelte einen verschlafenen Gruß. „Knut an seinem freien Tag frühmorgens in der Küche – da staunst du!“ Das tat ich tatsächlich, war aber zu müde, es zu zeigen. „Ich hab einen Termin beim Chef, Mario. Wollen wir nachher zusammen losgehen?“
Und so geschah es. Es war ein eisiger Morgen, und da ich nicht redete, verstummte bald auch Knut. Erst am Nachmittag, nach der Schicht, verriet er mir, was los ist. Er saß da schon wieder in der Küche und Erik saß neben ihm. Erik war aufgekratzt, Knut eher still. Beides wohl eine Wirkung der Nachricht – Knut hatte gekündigt. Er deutete an, dass in Berlin neue Projekte warteten. „Schade.“, sagte ich, aber eigentlich war ich erleichtert. Das war im Februar 1989, dem später berühmt gewordenen Jahr, in dem sich alle unsere Wege trennen sollten.
Danach ging es auch mit dem Friedenskreis nicht mehr so richtig weiter. Als bekannt wurde, dass Knut plante, sich daraus zurückzuziehen, war es vorbei. Ohne Knut, ohne seine Energie, ging kein Friedenskreis. Wir hatten ja nicht wirklich ein Anliegen, ein Thema, nur diese vage Unzufriedenheit. Wir wussten nichts, hier in Merseburg. Was passierte, worauf wir reagierten, das war in Berlin, wohin Knut jetzt zurückging. Wahrscheinlich sah er es ein. Nach seinem Weggang trafen wir uns noch dreimal. Es waren quälende Abende, ich kann das bestätigen, denn ich war bis zum Schluss dabei.
Zu dieser Wohnungsgeschichte hätte ich Knut gern mal befragt. Aber die Gelegenheit ergab sich nicht, Knut war nie wirklich da, immer auf dem Sprung. „Was machst du eigentlich, wenn du weg bist?“, fragte ich ihn einmal in der Frühstückspause, zu seinen Diensten erschien er regelmäßig. Er antwortete nicht sofort. „Du kennst mich.“, meinte er dann, „ich halt das manchmal nicht aus, euer Schneckentempo hier. Weißt du, was in Dresden los ist grade?! Und in Berlin? Ich muss da einfach vorbeigucken manchmal … aber weißt du, das ist nur eine Phase. Eigentlich will ich in Merseburg bleiben. Ich muss das auch mit einer eigenen Wohnung endlich in Angriff nehmen, das geht doch so nicht weiter.“ Ich sah ihn fragend an. „Lass mir ein paar Wochen Zeit, Mario. Dann sehn wir klarer.“
Das tat ich. Aber anders wurde es nicht. Eher schlimmer: Knut war weniger und weniger da. So schmerzhaft, wie vorher manchmal seine Präsenz gewesen war, war jetzt seine Abwesenheit. Dabei wohnte er immer noch bei Erik und mir. Aber man wusste überhaupt nicht mehr, wann er da war und wann nicht. Häufig kam er irgendwann nachts, ging am Morgen zur Arbeit und verschwand danach wieder. Ich erinnere mich an einen Morgen, als ich ihn überraschend morgens in der Küche traf. Im Halbschlaf hatte ich ihn wohl nachts rumpeln gehört, als er kam, aber das hatte mein Bewusstsein nicht erreicht. „Guten Morgen!“ erscholl es, als ich die Küchentür öffnete. Er saß mit einer Tasse in der Hand am Fenster, er wirkte ernst, ganz anders als seine Stimme. Ich murmelte einen verschlafenen Gruß. „Knut an seinem freien Tag frühmorgens in der Küche – da staunst du!“ Das tat ich tatsächlich, war aber zu müde, es zu zeigen. „Ich hab einen Termin beim Chef, Mario. Wollen wir nachher zusammen losgehen?“
Und so geschah es. Es war ein eisiger Morgen, und da ich nicht redete, verstummte bald auch Knut. Erst am Nachmittag, nach der Schicht, verriet er mir, was los ist. Er saß da schon wieder in der Küche und Erik saß neben ihm. Erik war aufgekratzt, Knut eher still. Beides wohl eine Wirkung der Nachricht – Knut hatte gekündigt. Er deutete an, dass in Berlin neue Projekte warteten. „Schade.“, sagte ich, aber eigentlich war ich erleichtert. Das war im Februar 1989, dem später berühmt gewordenen Jahr, in dem sich alle unsere Wege trennen sollten.
Danach ging es auch mit dem Friedenskreis nicht mehr so richtig weiter. Als bekannt wurde, dass Knut plante, sich daraus zurückzuziehen, war es vorbei. Ohne Knut, ohne seine Energie, ging kein Friedenskreis. Wir hatten ja nicht wirklich ein Anliegen, ein Thema, nur diese vage Unzufriedenheit. Wir wussten nichts, hier in Merseburg. Was passierte, worauf wir reagierten, das war in Berlin, wohin Knut jetzt zurückging. Wahrscheinlich sah er es ein. Nach seinem Weggang trafen wir uns noch dreimal. Es waren quälende Abende, ich kann das bestätigen, denn ich war bis zum Schluss dabei.
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Montag, 26. November 2018
So war das, Teil 9
damals, 19:19h
An diesen Satz musste ich in den folgenden Tagen oft denken. Der Herbst hatte unvermittelt auf Regen umgeschaltet, und ich verschob den Gang zum Studentenwohnheim. Ehe ich michs versah, war es Wochenende. Knut war in Berlin, Erik wollte nach Weimar. Am Samstagvormittag kam Johanna vorbei und holte ihn ab. „Falls Du Sehnsucht hast, Mario“, sagte sie mit einem komischen Lächeln, „Kerstin ist dieses Wochenende nicht in Merseburg Aber ich glaube, da liegt ein Brief in euerm Briefkasten.“ Auch das noch! Als die beiden weg waren, ging ich runter zum Briefkasten. Es war kein Brief, nur ein Zettel, bedeckt mit typischen Kerstin-Kritzeleien. Zu sehen war da ein Paar mit Weingläsern an einem Bistrotisch, mit einem Sternenhimmel darüber, und in einem nächsten Bild sah man den Mann auf äußerst zaghafte Weise mit der Entkleidung der Frau beschäftigt. War das wirklich ich? Und sollte das sie sein, die da so belustigt lächelt? Was sollte ich davon halten?
Ich ging wieder hoch in die Wohnung, aber auch da wurde ich nicht froh. Ich sah aus dem Fenster und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. In der Mitte stand mein Satz: „Ich hab dich lieb.“ Stimmte das oder war das nur aus der Situation geboren? Und warum hatten wir uns so verkrampft dabei? Hatte ich mich so lächerlich benommen oder sie? Oder ging es gar nicht darum? Mir fiel plötzlich ein, dass sie erklärt hatte, ihr Studium in Merseburg abschließen zu wollen. Sie nahm also mit, was am Wegrand lag, und wenn das ich war ... Aber ich, hatte ich nicht sowieso gesagt, dass ich weg will? War es mir denn ernst?
Ich nahm meine Jacke und ging raus. Nur wohin? Lange konnte man sich draußen nicht aufhalten bei dem Wetter. Die Hochschulbibliothek hatte geöffnet. Eigentlich hatte ich da nichts zu schaffen. Trotzdem ging ich hin. Es war der 30. November, auch mittags nicht richtig hell. Die Hochschulgebäude, Bauten aus den fünfziger Jahren, zogen mich an. Auch im Regen strahlten diese Häuser, langgestreckte, hell verputzte Schachteln mit flachen Satteldächern, etwas naiv Optimistisches aus. Als meine Eltern jung gewesen waren, hatten sie das wahrscheinlich schön gefunden, mein Vater hatte da mal einen Lehrauftrag gehabt. Ich ging in den Lesesaal, in dem ich schon lange nicht mehr gewesen war und wo ich nie etwas gefunden hatte. Nur die Sehnsucht, dort Lösungen zu finden, die war immer noch in mir lebendig. Es fühlte sich richtig an, wie ich den Raum betrat und vor den Katalogen stand, schmalen Schränken aus hellem Holz, ich kramte einfach in den Schubkästen und erfreute mich an den penibel getippten Karteikarten.
Dann ging ich ans Regal und nahm mir ein Buch aus dem Lesesaalbestand, einen Fotoband über Merseburg, setzte mich damit an einen der Tische. Es war still, sehr still, außer mir nur zwei oder drei Menschen im Lesesaal. Ich lehnte mich zurück und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. Der Fotoband langweilte mich schon nach ein paar Seiten. Ich zog Kerstins Zeichnung hervor und sah sie mir in Ruhe an. Was sie da aufgekritzelt hatte, in wenigen spröden Strichen, das war die Wahrheit, das musste man ihr lassen. Das war mein Happy End in Merseburg. Aber das wollte ich nicht. Ich steckte den Zettel ein und verließ die Bibliothek. Der Regen draußen gab mir Recht. Es war meine Heimat, aber es war nicht mehr mein Zuhause. Ich rannte rüber in meine Wohnung, ich war froh, dass niemand da war, und verkroch mich in meinem Bett.
Ich ging wieder hoch in die Wohnung, aber auch da wurde ich nicht froh. Ich sah aus dem Fenster und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. In der Mitte stand mein Satz: „Ich hab dich lieb.“ Stimmte das oder war das nur aus der Situation geboren? Und warum hatten wir uns so verkrampft dabei? Hatte ich mich so lächerlich benommen oder sie? Oder ging es gar nicht darum? Mir fiel plötzlich ein, dass sie erklärt hatte, ihr Studium in Merseburg abschließen zu wollen. Sie nahm also mit, was am Wegrand lag, und wenn das ich war ... Aber ich, hatte ich nicht sowieso gesagt, dass ich weg will? War es mir denn ernst?
Ich nahm meine Jacke und ging raus. Nur wohin? Lange konnte man sich draußen nicht aufhalten bei dem Wetter. Die Hochschulbibliothek hatte geöffnet. Eigentlich hatte ich da nichts zu schaffen. Trotzdem ging ich hin. Es war der 30. November, auch mittags nicht richtig hell. Die Hochschulgebäude, Bauten aus den fünfziger Jahren, zogen mich an. Auch im Regen strahlten diese Häuser, langgestreckte, hell verputzte Schachteln mit flachen Satteldächern, etwas naiv Optimistisches aus. Als meine Eltern jung gewesen waren, hatten sie das wahrscheinlich schön gefunden, mein Vater hatte da mal einen Lehrauftrag gehabt. Ich ging in den Lesesaal, in dem ich schon lange nicht mehr gewesen war und wo ich nie etwas gefunden hatte. Nur die Sehnsucht, dort Lösungen zu finden, die war immer noch in mir lebendig. Es fühlte sich richtig an, wie ich den Raum betrat und vor den Katalogen stand, schmalen Schränken aus hellem Holz, ich kramte einfach in den Schubkästen und erfreute mich an den penibel getippten Karteikarten.
Dann ging ich ans Regal und nahm mir ein Buch aus dem Lesesaalbestand, einen Fotoband über Merseburg, setzte mich damit an einen der Tische. Es war still, sehr still, außer mir nur zwei oder drei Menschen im Lesesaal. Ich lehnte mich zurück und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. Der Fotoband langweilte mich schon nach ein paar Seiten. Ich zog Kerstins Zeichnung hervor und sah sie mir in Ruhe an. Was sie da aufgekritzelt hatte, in wenigen spröden Strichen, das war die Wahrheit, das musste man ihr lassen. Das war mein Happy End in Merseburg. Aber das wollte ich nicht. Ich steckte den Zettel ein und verließ die Bibliothek. Der Regen draußen gab mir Recht. Es war meine Heimat, aber es war nicht mehr mein Zuhause. Ich rannte rüber in meine Wohnung, ich war froh, dass niemand da war, und verkroch mich in meinem Bett.
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Sonntag, 25. November 2018
So war das, Teil 8
damals, 18:34h
Und dabei blieb es. Am nächsten Abend war Friedenskreis, wie jeden Mittwoch. Diesmal konnte auch Erik nicht kommen. Dabei war es spannend. Knut platzte fast vor Unruhe, und er kam gleich zum Thema. Viel musste er nicht erklären, von den Verhaftungen hatten alle gehört. Aber niemand hatte geahnt, dass wir hier hinten in der Provinz da etwas tun konnten. Dabei war es so einfach: Man musste nur aufhören sich wegzuducken. Anfangen den Mund aufzumachen. Wir waren es nur noch nicht gewohnt. Mühsam begannen wir, einen Text zu formulieren, und je länger wir daran saßen, desto schneller kamen die Ideen. Ab und an half Knut, ungeschickte Formulierungen zu ändern. Manches war ihm zu direkt gesagt, anderes wiederum zu untertänig. Er hatte da die Erfahrung. Er war auch derjenige, der wusste, an wen wir eigentlich schreiben müssten, nämlich an die Eingabe-Stelle des Innenministeriums – da war mehr Aussicht auf Beachtung, als wenn wir gleich an Erich Honecker geschrieben hätten, wie manche von uns zuerst dachten. Nach gut zwei Stunden waren wir fertig und unterschrieben alle. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, während ich den Stift in der Hand hatte, aber danach, als ich meine Unterschrift da stehen sah, war mir wohl wie nie zuvor.
Also machte ich, was ich immer machte in solchen Situationen: Ich verließ die Gruppe, um draußen allein durch die dunklen Straßen zu streichen und das Gefühl zu genießen. Merseburg ist schön, sagte ich mir, als ich die Kleine Ritterstraße langging. Die Straße war menschenleer, ich konnte mitten auf der Fahrbahn gehen. Links und rechts die Häuser, kaum noch irgendwo ein Fenster erleuchtet, sie wirkten so friedlich, so intakt, sie ruhten so in sich, als hätten sie immer hier gestanden und würden immer hier stehen. Nein, Merseburg war stark. Sie würden nicht alles abreißen. Es würde sich etwas ändern.
In der Bahnhofstraße huschte etwas Dunkelhaariges an mir vorbei. "Kerstin!", rief ich. Sie war es tatsächlich. Stoppte und sah sich mit verirrtem Blick um. "Ach, du bist's.", sagte sie dann. "Warum musst du mich denn so erschrecken?" Ich begleitete sie ein Stück und sie taute zusehends auf, und ich sah ihr dabei zu, wie sie wuchs und sich mit Leben füllte. Nach 200 Metern war sie ganz die Kerstin, deren Charme ich so mochte. "Ich komm von der Volkshochschule." sagte sie und plauderte ein bisschen über die skurrilen Typen, mit denen sie da den Kurs im Aktzeichnen besuchte. „Die Möchtegernkünstler von Merseburg! Mit ihren Schnauzbärten und ihrem vernuschelten Sächsisch ...“ - „Warum gehst du dann hin?“ fragte ich (das mit dem Sächsisch hatte mich angepiekst, schließlich sprach ich es auch). „Du musst doch nicht.“ Kerstin sah mich groß an, machte eine abwehrende Geste. Einen Augenblick war es still. „Ich will was lernen.“, erwiderte sie dann. „Ich bin jetzt hier. Ich werde noch drei Jahre hier sein, und ich werde die Zeit nutzen.“ Sie stockte einen kleinen Moment, ihre Augen wirkten angriffslustig. Ich nahm sie sanft beim Arm. Sie lächelte. „Du hast Recht, jetzt ist Feierabend. Jetzt muss ich gar nichts mehr ... Weißt du", meinte sie dann und sah in den Nachthimmel, "jetzt müsste Sommer sein und noch ein bisschen Abendrot, und hier an der Ecke wär dann ein Straßencafé. Da könnten wir sitzen, ein Glas Wein trinken und gucken, ob schon Sterne zu sehen sind." - "Wir sind in Merseburg, Kerstin", sagte ich, ich war noch ein wenig grummelig, "es ist dunkel, und 'Die Rebe' hat mittwochs geschlossen. Aber wir können am Bahnhof eine Flasche Wein kaufen und uns hier auf eine Parkbank setzen." – „Mario!“ Sie sah mich strafend an. "Wie die Penner am Früh-und-Spät-Verkauf? Nein, nicht auf die Parkbank. Ich will nach Hause. Aber wenn du mich lieb bittest, kannst du mitkommen."
So war das damals, da war nichts zu machen. Also kauften wir die Flasche Wein und gingen untergehakt zum Studentenwohnheim. Unterwegs fingen wir zu knutschen an, denn darum ging es ja. Es verwunderte mich auch nicht, dass Kerstins Zimmergenossinnen beide nicht da waren an diesem Abend. Aber als wir halb ausgezogen in ihrem Bett lagen, ging es irgendwie nicht weiter. Kerstin verkrampfte sich, und ich – war davon genervt. „So geht das nicht.“, sagte Kerstin endlich. Ich richtete mich auf, regelrecht erleichtert, und nahm mir noch einen Schluck Wein. Kerstin sah mich verstört an, sie schien nicht weiter zu wissen. „Ich bin müde.“, sagte sie, obwohl sie gar nicht so wirkte. Ich durfte also gehen. Und diese Ansage, diese Erlaubnis löste irgendeine Sperre in mir, plötzlich durchflutete mich eine Welle der Zärtlichkeit für Kerstin, wie ich sie niemals vorher – und auch später nie mehr – erlebte. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie und sie erwiderte das und wir sanken zurück und blieben noch lange so liegen, ohne Worte, ohne Bewegungen, ineinander verschlungen. „Mehr geht nicht.“, sagte ich, als ich ging. „Aber ich hab dich lieb. Sehr.“
Also machte ich, was ich immer machte in solchen Situationen: Ich verließ die Gruppe, um draußen allein durch die dunklen Straßen zu streichen und das Gefühl zu genießen. Merseburg ist schön, sagte ich mir, als ich die Kleine Ritterstraße langging. Die Straße war menschenleer, ich konnte mitten auf der Fahrbahn gehen. Links und rechts die Häuser, kaum noch irgendwo ein Fenster erleuchtet, sie wirkten so friedlich, so intakt, sie ruhten so in sich, als hätten sie immer hier gestanden und würden immer hier stehen. Nein, Merseburg war stark. Sie würden nicht alles abreißen. Es würde sich etwas ändern.
In der Bahnhofstraße huschte etwas Dunkelhaariges an mir vorbei. "Kerstin!", rief ich. Sie war es tatsächlich. Stoppte und sah sich mit verirrtem Blick um. "Ach, du bist's.", sagte sie dann. "Warum musst du mich denn so erschrecken?" Ich begleitete sie ein Stück und sie taute zusehends auf, und ich sah ihr dabei zu, wie sie wuchs und sich mit Leben füllte. Nach 200 Metern war sie ganz die Kerstin, deren Charme ich so mochte. "Ich komm von der Volkshochschule." sagte sie und plauderte ein bisschen über die skurrilen Typen, mit denen sie da den Kurs im Aktzeichnen besuchte. „Die Möchtegernkünstler von Merseburg! Mit ihren Schnauzbärten und ihrem vernuschelten Sächsisch ...“ - „Warum gehst du dann hin?“ fragte ich (das mit dem Sächsisch hatte mich angepiekst, schließlich sprach ich es auch). „Du musst doch nicht.“ Kerstin sah mich groß an, machte eine abwehrende Geste. Einen Augenblick war es still. „Ich will was lernen.“, erwiderte sie dann. „Ich bin jetzt hier. Ich werde noch drei Jahre hier sein, und ich werde die Zeit nutzen.“ Sie stockte einen kleinen Moment, ihre Augen wirkten angriffslustig. Ich nahm sie sanft beim Arm. Sie lächelte. „Du hast Recht, jetzt ist Feierabend. Jetzt muss ich gar nichts mehr ... Weißt du", meinte sie dann und sah in den Nachthimmel, "jetzt müsste Sommer sein und noch ein bisschen Abendrot, und hier an der Ecke wär dann ein Straßencafé. Da könnten wir sitzen, ein Glas Wein trinken und gucken, ob schon Sterne zu sehen sind." - "Wir sind in Merseburg, Kerstin", sagte ich, ich war noch ein wenig grummelig, "es ist dunkel, und 'Die Rebe' hat mittwochs geschlossen. Aber wir können am Bahnhof eine Flasche Wein kaufen und uns hier auf eine Parkbank setzen." – „Mario!“ Sie sah mich strafend an. "Wie die Penner am Früh-und-Spät-Verkauf? Nein, nicht auf die Parkbank. Ich will nach Hause. Aber wenn du mich lieb bittest, kannst du mitkommen."
So war das damals, da war nichts zu machen. Also kauften wir die Flasche Wein und gingen untergehakt zum Studentenwohnheim. Unterwegs fingen wir zu knutschen an, denn darum ging es ja. Es verwunderte mich auch nicht, dass Kerstins Zimmergenossinnen beide nicht da waren an diesem Abend. Aber als wir halb ausgezogen in ihrem Bett lagen, ging es irgendwie nicht weiter. Kerstin verkrampfte sich, und ich – war davon genervt. „So geht das nicht.“, sagte Kerstin endlich. Ich richtete mich auf, regelrecht erleichtert, und nahm mir noch einen Schluck Wein. Kerstin sah mich verstört an, sie schien nicht weiter zu wissen. „Ich bin müde.“, sagte sie, obwohl sie gar nicht so wirkte. Ich durfte also gehen. Und diese Ansage, diese Erlaubnis löste irgendeine Sperre in mir, plötzlich durchflutete mich eine Welle der Zärtlichkeit für Kerstin, wie ich sie niemals vorher – und auch später nie mehr – erlebte. Ich nahm sie in den Arm und küsste sie und sie erwiderte das und wir sanken zurück und blieben noch lange so liegen, ohne Worte, ohne Bewegungen, ineinander verschlungen. „Mehr geht nicht.“, sagte ich, als ich ging. „Aber ich hab dich lieb. Sehr.“
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Samstag, 24. November 2018
So war das, Teil 7
damals, 20:14h
Der nächste Tag war ein ganz normaler Dienstag, ich hatte Frühdienst und kaum drei Stunden geschlafen. Aber es ging gut. Ich fand schnell in die Routine und freute mich, dass ich meinen Job beherrschte, auch mit Kopfschmerzen und Kater. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, richtig zu sein in dieser Arbeit, in die ich aus Not geraten war. Am Nachmittag löste mich Knut ab. Auch er war längst nicht mehr bei den Ereignissen vom Vortag, er erzählte wieder einmal von neuen Verhaftungen in Berlin. Er meinte, dass sich Günter Kunert dazu geäußert hätte und ob wir nicht im Friedenskreis auch etwas schreiben sollten, einen Protestbrief oder so. "Lass uns am Mittwoch reden.", sagte ich ausweichend. - "Morgen ist Mittwoch." - "Ich weiß." - "Was ist los, Mario, hast du den Wein nicht vertragen? Aus dir wird nie ein echter Revoluzzer." Knut ließ sein trompetenhaftes Lachen erschallen und boxte mir in die Brust. "Nein, alles okay. Genieß den Feierabend. Erik und ich haben schon aufgeräumt."
Das hatten sie tatsächlich, die Wohnung sah tadellos aus. Aber trotzdem konnte ich mich nicht schlafen legen. Ich fing an, meine Sachen durchzugehen. Da war ganz viel, das konnte einfach weg: Bücher, Aufzeichnungen, auch Klamotten. Ich bekam mein Abschlusszeugnis in die Hand. Die Aufzeichnungen aus dem Nietzsche-Kurs bei der Jungen Gemeinde schmiss ich weg. Was man im Kopf hat, muss man nicht in Ordnern sammeln. Am Ende hatte ich zwei große Kartons und einen Berg Wäsche beisammen. Ich räumte alles auf den Flur und dann legte ich mich doch noch schlafen.
Ich erwachte davon, dass Erik fluchte. "Was ist denn hier los?! Da kommt ja kein Mensch mehr durch." Er klopfte. "Mario! Bist du da?" Ich rappelte mich hoch und machte Licht, es war bereits dunkel. Ich fühlte mich benommen, versuchte, erstmal wieder die Orientierung zu bekommen. Als ich aus dem Zimmer kam, stand Erik in der Küche und goss Tee auf. "Mensch, Mario!", sagte er, als er mich hereinkommen sah, "Wir hatten so schön aufgeräumt. Was hast du denn vor?! Willst du ausziehen?" - "Eigentlich ja", murmelte ich verschlafen. Erik wurde blass. Aber er sagte nichts. "Trinkst du einen Tee mit?“, fragte er dann.
Es wurde ein seltsames Gespräch, vielleicht das erste wirklich persönliche, das wir geführt haben, denke ich jetzt manchmal im Nachhinein. Erik erzählte mir von seinen ersten Begegnungen mit mir, wie es ihm erst nur darum gegangen war, eine Wohnmöglichkeit außerhalb des Studentenwohnheims zu finden, und wie sich dann, als er bei mir wohnte, allmählich eine Idee eines anderen Lebens entwickelt hatte. Wie er es spannend gefunden hatte, irgendwie abseits des staatlichen Plans zu leben. „Natürlich war mir klar, was der Staat mit mir vorhat und wozu er mir diesen Studienplatz bezahlt, und natürlich passte mir das nicht, aber weißt du, so wie du, sein Leben einfach wegschmeißen, das wollte ich auch nicht.“
Er erzählte mir dann auch von seiner geheimen Verbindung mit Johanna, von der wir doch alle instinktiv wussten und die wir unausgesprochen akzeptierten. Was mich erstaunte, war, dass das nicht nur eine Affäre war, dass die beiden Pläne hatten, dass sie planten, den Abschluss zu machen, aber nicht daran dachten, wie vorgeschrieben ins Werk zu gehen. Und dass sie auch schon wussten, wie sie sich aus der Berufsverpflichtung rausmogeln konnten und was sie danach machen wollten. „Und du willst also auch weg von Merseburg?“, schloss Erik seine Beichte. Was sollte ich darauf sagen? „Das kann man nicht so sagen.“, antwortete ich ihm, „Ich weiß nicht. Ich fühl mich einfach nicht mehr wohl. Du hast gesagt, ich schmeiß mein Leben weg ...“ - „Stopp, Mario, das seh ich doch längst anders, weißt du, ich meine, zum Beispiel gestern, so eine Party, das ist jetzt nicht mehr nur deine Wohnung, das ist ... – ohne dich wär das doch ...“ - „Danke für die Blumen, aber irgendwie – das passt nicht mehr. Aber mach dir keine Sorgen, ich kündige jetzt nicht einfach und lass dich ohne Meldeadresse. Und Knut auch nicht.“
Das hatten sie tatsächlich, die Wohnung sah tadellos aus. Aber trotzdem konnte ich mich nicht schlafen legen. Ich fing an, meine Sachen durchzugehen. Da war ganz viel, das konnte einfach weg: Bücher, Aufzeichnungen, auch Klamotten. Ich bekam mein Abschlusszeugnis in die Hand. Die Aufzeichnungen aus dem Nietzsche-Kurs bei der Jungen Gemeinde schmiss ich weg. Was man im Kopf hat, muss man nicht in Ordnern sammeln. Am Ende hatte ich zwei große Kartons und einen Berg Wäsche beisammen. Ich räumte alles auf den Flur und dann legte ich mich doch noch schlafen.
Ich erwachte davon, dass Erik fluchte. "Was ist denn hier los?! Da kommt ja kein Mensch mehr durch." Er klopfte. "Mario! Bist du da?" Ich rappelte mich hoch und machte Licht, es war bereits dunkel. Ich fühlte mich benommen, versuchte, erstmal wieder die Orientierung zu bekommen. Als ich aus dem Zimmer kam, stand Erik in der Küche und goss Tee auf. "Mensch, Mario!", sagte er, als er mich hereinkommen sah, "Wir hatten so schön aufgeräumt. Was hast du denn vor?! Willst du ausziehen?" - "Eigentlich ja", murmelte ich verschlafen. Erik wurde blass. Aber er sagte nichts. "Trinkst du einen Tee mit?“, fragte er dann.
Es wurde ein seltsames Gespräch, vielleicht das erste wirklich persönliche, das wir geführt haben, denke ich jetzt manchmal im Nachhinein. Erik erzählte mir von seinen ersten Begegnungen mit mir, wie es ihm erst nur darum gegangen war, eine Wohnmöglichkeit außerhalb des Studentenwohnheims zu finden, und wie sich dann, als er bei mir wohnte, allmählich eine Idee eines anderen Lebens entwickelt hatte. Wie er es spannend gefunden hatte, irgendwie abseits des staatlichen Plans zu leben. „Natürlich war mir klar, was der Staat mit mir vorhat und wozu er mir diesen Studienplatz bezahlt, und natürlich passte mir das nicht, aber weißt du, so wie du, sein Leben einfach wegschmeißen, das wollte ich auch nicht.“
Er erzählte mir dann auch von seiner geheimen Verbindung mit Johanna, von der wir doch alle instinktiv wussten und die wir unausgesprochen akzeptierten. Was mich erstaunte, war, dass das nicht nur eine Affäre war, dass die beiden Pläne hatten, dass sie planten, den Abschluss zu machen, aber nicht daran dachten, wie vorgeschrieben ins Werk zu gehen. Und dass sie auch schon wussten, wie sie sich aus der Berufsverpflichtung rausmogeln konnten und was sie danach machen wollten. „Und du willst also auch weg von Merseburg?“, schloss Erik seine Beichte. Was sollte ich darauf sagen? „Das kann man nicht so sagen.“, antwortete ich ihm, „Ich weiß nicht. Ich fühl mich einfach nicht mehr wohl. Du hast gesagt, ich schmeiß mein Leben weg ...“ - „Stopp, Mario, das seh ich doch längst anders, weißt du, ich meine, zum Beispiel gestern, so eine Party, das ist jetzt nicht mehr nur deine Wohnung, das ist ... – ohne dich wär das doch ...“ - „Danke für die Blumen, aber irgendwie – das passt nicht mehr. Aber mach dir keine Sorgen, ich kündige jetzt nicht einfach und lass dich ohne Meldeadresse. Und Knut auch nicht.“
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Freitag, 23. November 2018
So war das, Teil 6
damals, 19:41h
Es war eine sternklare Nacht, eine Nacht, in der die Sterne so stark leuchteten, dass ihnen auch die Lichter der Stadt nichts anhaben konnten. Merseburg ist nicht groß, es gab keine Gebäude, die unser Mietshaus nennenswert überragt hätten. Umso hässlicher, umso kleinlicher erschien mir das gelbliche Lampenlicht, das von überall her den Himmel anfraß. Ich musste an Kerstins abfälligen Satz über Merseburg und über mich denken. Sie hatte Recht, das sah ich jetzt. Natürlich waren wir schon öfter hier auf dem Dach gewesen, bei Sonnenschein, im Sommer, und hatten Picknicks zelebriert. Das war gar nicht lang her, und wir hatten das cool und witzig gefunden, aber jetzt, im Kalten und im Dunkeln, wurde mir klar, dass es so nicht geht, jetzt nicht mehr.
Da rumpelte es hinter mir, ich fuhr herum. Ein dunkler Haarschopf erschien in der Luke. Aber nicht der von Kerstin, wie ich im ersten Moment dachte. Es war ein anderes Mädchen, jemand Fremdes, ihr folgten Johanna und einige Männer. Von unten waren laute, fröhliche Stimmen zu hören, auch die von Knut. Offenbar hatte man die Leiter entdeckt. Ich ließ sie alle hochkommen, dann stieg ich selbst nach unten.
Die Wohnung war jetzt fast leer, nur zwei Grüppchen saßen noch herum. In der Küche redete ein schmaler Student auf Eva ein: Er befragte sie tatsächlich, wie das sei mit dem Sex, so als dicke, große Frau. Sie antwortete ernst, zunächst. Als er das Thema vertiefen wollte, kanzelte sie ihn grob ab.
Ich mischte mich gar nicht ein, ich verließ die Wohnung und das Haus. Als ich auf die Straße trat, sah ich Kerstin an der nächsten Straßenecke in Richtung Stadt verschwinden. Eigentlich wollte ich in die andere Richtung, hinunter zum Neumarkt. Ich zögerte einen Moment, dann lief ich ihr nach.
Kerstin machte sich ein Spiel draus, das war klar. Sie verschwand immer so hinter einer Straßenecke, dass ich nachkommen konnte, ohne zu rennen. Denn rennen ging nicht, natürlich. Ich musste es anders schaffen. Nach ein paar Ecken fiel mir ein Schleichweg ein. Ich bog ab und kurz darauf stand ich, in der Parkanlage am Teich, wieder vor ihr. „Was willst du?“, fragte Kerstin. „Das war ein schönes Spiel“, sagte ich. Und sie: „Ich spiele nicht.“ Wir ließen es dabei bewenden, es war auch nicht wichtig. Kerstin wollte erzählen. Wir gingen am Wasser entlang und sie erklärte mir, warum sie in Merseburg gelandet war. Sie machte eine lange Erzählung daraus, mit einem schön gedehnten Spannungsbogen, und in vier, fünf kurzen Sätzen zwischendurch fragte sie, wie das bei mir ist. Mich erschreckte, wie gut sie mich mit den paar kurzen Fragen erkannte: Jede meiner Antworten fühlte sich ungewollt wie ein Treffer an. Wir standen noch lange vor ihrem Wohnheim, dann war irgendwann klar: Es ist alles gesagt. Aber wie konnte man sich jetzt trennen, nach dem, was gesagt war? „Es muss jetzt nicht mit Küssen enden.“, sagte Kerstin. „Schade“, sagte ich. Wir nahmen uns in den Arm, dann ging jeder seiner Wege.
Da rumpelte es hinter mir, ich fuhr herum. Ein dunkler Haarschopf erschien in der Luke. Aber nicht der von Kerstin, wie ich im ersten Moment dachte. Es war ein anderes Mädchen, jemand Fremdes, ihr folgten Johanna und einige Männer. Von unten waren laute, fröhliche Stimmen zu hören, auch die von Knut. Offenbar hatte man die Leiter entdeckt. Ich ließ sie alle hochkommen, dann stieg ich selbst nach unten.
Die Wohnung war jetzt fast leer, nur zwei Grüppchen saßen noch herum. In der Küche redete ein schmaler Student auf Eva ein: Er befragte sie tatsächlich, wie das sei mit dem Sex, so als dicke, große Frau. Sie antwortete ernst, zunächst. Als er das Thema vertiefen wollte, kanzelte sie ihn grob ab.
Ich mischte mich gar nicht ein, ich verließ die Wohnung und das Haus. Als ich auf die Straße trat, sah ich Kerstin an der nächsten Straßenecke in Richtung Stadt verschwinden. Eigentlich wollte ich in die andere Richtung, hinunter zum Neumarkt. Ich zögerte einen Moment, dann lief ich ihr nach.
Kerstin machte sich ein Spiel draus, das war klar. Sie verschwand immer so hinter einer Straßenecke, dass ich nachkommen konnte, ohne zu rennen. Denn rennen ging nicht, natürlich. Ich musste es anders schaffen. Nach ein paar Ecken fiel mir ein Schleichweg ein. Ich bog ab und kurz darauf stand ich, in der Parkanlage am Teich, wieder vor ihr. „Was willst du?“, fragte Kerstin. „Das war ein schönes Spiel“, sagte ich. Und sie: „Ich spiele nicht.“ Wir ließen es dabei bewenden, es war auch nicht wichtig. Kerstin wollte erzählen. Wir gingen am Wasser entlang und sie erklärte mir, warum sie in Merseburg gelandet war. Sie machte eine lange Erzählung daraus, mit einem schön gedehnten Spannungsbogen, und in vier, fünf kurzen Sätzen zwischendurch fragte sie, wie das bei mir ist. Mich erschreckte, wie gut sie mich mit den paar kurzen Fragen erkannte: Jede meiner Antworten fühlte sich ungewollt wie ein Treffer an. Wir standen noch lange vor ihrem Wohnheim, dann war irgendwann klar: Es ist alles gesagt. Aber wie konnte man sich jetzt trennen, nach dem, was gesagt war? „Es muss jetzt nicht mit Küssen enden.“, sagte Kerstin. „Schade“, sagte ich. Wir nahmen uns in den Arm, dann ging jeder seiner Wege.
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Donnerstag, 22. November 2018
So war das, Teil 5
damals, 19:19h
Knut war einverstanden. Wir stiefelten quer durch unser Viertel, aber nicht nach Hause, sondern runter zum Schloss, vorbei an Ruinen ärmlicher Mietshäuser, an frischen Baugruben, den ersten Betonfundamenten künftiger Plattenbauten. Knut beguckte sich den Raben, der in einem Vogelhaus vorm Schloss hockt, weil vor Jahrhunderten einer seiner Artgenossen einen fürstlichen Ring gestohlen hat. "Ich lass ihn frei!", rief Knut, "Wenn hier alles anders kommt: Ihn lass ich zuerst frei!" Und dann standen plötzlich Johanna und Kerstin hinter uns.
Sie sahen fast aus wie ein Liebespaar, gar nicht mehr so gegensätzlich, wie ich sie wahrgenommen hatte. Kerstin hatte beinahe etwas Verwegenes, Johanna war entspannt. „Was ist denn mit euch los?“ – „Das willst du gar nicht wissen, Knut!“, schnippte Kerstin zurück. Jedenfalls wollte ich es nicht wissen. „Wir gehen noch ins ‚Haus des Handwerks‘“, sagte ich, „wollt ihr ...“ – „Nö.“ kam von Johanna prompt als Antwort. Und doch war es klar, dass wir die nächsten Stunden zusammen verbringen, zusammen die Zeit totschlagen. Wie und was, da hatte auch Johanna keinen Plan, und was wir dann tatsächlich gemacht haben, das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nichts Bedeutsames. Ich weiß nur noch, dass wir an der Saale waren, dass ich in ihr breites, langsames Strömen starrte, während Knut versuchte, Kerstin aus der Reserve zu locken, die bald schon wieder in ihr übliches Schweigen zurückgefallen war, und ich erinnere mich an ein Gespräch mit Johanna, an der Imbissbude am Bahnhof, das irgendwie klug und gut war. Worum es ging, hab ich vergessen. Wir müssen irrsinnig viel gelaufen sein an dem Nachmittag, und am Ende landeten wir natürlich bei uns, in unserer Wohnung.
Erik sah uns erstaunt an, er war auf eine Art nervös, die ich gar nicht von ihm kannte, und offenbar damit beschäftigt, das Eintreffen von Gästen vorzubereiten. Da fiel es mir wieder ein: „Du hast ja Geburtstag, Erik!“ – „Richtig, 25. Da hab ich gedacht, ich feiere einfach mal.“ kam es ironisch zurück. „Ich hab ein paar Leute eingeladen. Euch übrigens auch. Wisst ihr nicht mehr? Aber trotzdem schön, dass ihr da seid. Ihr könnt mir ein bisschen helfen.“
Das taten wir und die Peinlichkeit war bald vergessen. Die Wohnung füllte sich mit Menschen, der Alkohol floss und es wurde debattiert. Bald kristallisierten sich zwei Grüppchen heraus. Rings um Erik und Knut sprach man von Politik; die andere Gruppe, Johanna fungierte als geheime Königin, betratschte geringere Probleme, die allgegenwärtige Männer-Frauen-Problematik, Intrigen an der Hochschule, ... Ich saß einige Zeit abseits. Eva aus Leuna hatte sich mir zugesellt, die jetzt auch studierte, ich kannte sie aber von früher. Wir müssen komisch ausgesehen haben, denn Eva war 15 Zentimeter größer als ich, und deutlich zugenommen hatte sie auch, seit unserer gemeinsamen Zeit in der Schule. Jedenfalls rief Kerstin eine ziemlich freche Bemerkung durch den Raum, aber sie kam nicht zu uns herüber, sondern blieb bei Erik und Knut sitzen.
Eva erzählte von Leuna. Sie wohnte immer noch bei den Eltern, fuhr jeden Nachmittag nach den Seminaren nach Hause. „Ich mag das Studium nicht.“, sagte sie, „Das ist kein richtiges Studium, das ist keine Universität. Wir sollen nur nachher alle als Vorarbeiter ins Werk. Und mehr als ein Vorarbeiter brauchen wir nicht zu wissen.“ – „Wirst du abbrechen?“ – „Wahrscheinlich. Wenn ich nur wüsste, was stattdessen.“ Und dann ergänzte sie: „Mein Freund will ja nach Berlin. Aber ich weiß nicht, was wir da sollen. Wir kennen da niemanden, und ich hätte dann keine Ausbildung ...“ Wir wurden unterbrochen, Eriks Stimme drang schrill durch den Raum: „Natürlich ist das keine originelle Lösung, so ein Selbstmord! Verdammt, aber Leben gabs doch auch schonmal.“ Auch Johanna horchte auf, sie kam zu ihm rüber: „Spiel doch hier nicht den Dekadenten. Das hast du von Jessenin geklaut. Das sind gar nicht deine Gedanken.“ Erik widersprach lautstärker, als es angemessen war, und das war gut so. Denn in dem Moment, als die beiden Streithähne aufeinander zugingen und wild gestikulierend zu diskutieren begannen, zerbrach die bisherige Grüppchenkonstellation, ein allgemeines Durcheinander entstand, das mich erheiterte, mich erleichterte. Ich sah mir das eine Weile an, und als ich merkte, dass Erik und Johanna schon wieder versöhnt waren und einander ironisch zuzwinkerten, als sie sich in die Küche zurückzogen, um den Kartoffelsalat zu holen, da schnappte ich mir eine halbleere Weinflasche und ging in den Flur, hakte die Leiter aus, zu der Dachluke zum Flachdach.
Sie sahen fast aus wie ein Liebespaar, gar nicht mehr so gegensätzlich, wie ich sie wahrgenommen hatte. Kerstin hatte beinahe etwas Verwegenes, Johanna war entspannt. „Was ist denn mit euch los?“ – „Das willst du gar nicht wissen, Knut!“, schnippte Kerstin zurück. Jedenfalls wollte ich es nicht wissen. „Wir gehen noch ins ‚Haus des Handwerks‘“, sagte ich, „wollt ihr ...“ – „Nö.“ kam von Johanna prompt als Antwort. Und doch war es klar, dass wir die nächsten Stunden zusammen verbringen, zusammen die Zeit totschlagen. Wie und was, da hatte auch Johanna keinen Plan, und was wir dann tatsächlich gemacht haben, das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nichts Bedeutsames. Ich weiß nur noch, dass wir an der Saale waren, dass ich in ihr breites, langsames Strömen starrte, während Knut versuchte, Kerstin aus der Reserve zu locken, die bald schon wieder in ihr übliches Schweigen zurückgefallen war, und ich erinnere mich an ein Gespräch mit Johanna, an der Imbissbude am Bahnhof, das irgendwie klug und gut war. Worum es ging, hab ich vergessen. Wir müssen irrsinnig viel gelaufen sein an dem Nachmittag, und am Ende landeten wir natürlich bei uns, in unserer Wohnung.
Erik sah uns erstaunt an, er war auf eine Art nervös, die ich gar nicht von ihm kannte, und offenbar damit beschäftigt, das Eintreffen von Gästen vorzubereiten. Da fiel es mir wieder ein: „Du hast ja Geburtstag, Erik!“ – „Richtig, 25. Da hab ich gedacht, ich feiere einfach mal.“ kam es ironisch zurück. „Ich hab ein paar Leute eingeladen. Euch übrigens auch. Wisst ihr nicht mehr? Aber trotzdem schön, dass ihr da seid. Ihr könnt mir ein bisschen helfen.“
Das taten wir und die Peinlichkeit war bald vergessen. Die Wohnung füllte sich mit Menschen, der Alkohol floss und es wurde debattiert. Bald kristallisierten sich zwei Grüppchen heraus. Rings um Erik und Knut sprach man von Politik; die andere Gruppe, Johanna fungierte als geheime Königin, betratschte geringere Probleme, die allgegenwärtige Männer-Frauen-Problematik, Intrigen an der Hochschule, ... Ich saß einige Zeit abseits. Eva aus Leuna hatte sich mir zugesellt, die jetzt auch studierte, ich kannte sie aber von früher. Wir müssen komisch ausgesehen haben, denn Eva war 15 Zentimeter größer als ich, und deutlich zugenommen hatte sie auch, seit unserer gemeinsamen Zeit in der Schule. Jedenfalls rief Kerstin eine ziemlich freche Bemerkung durch den Raum, aber sie kam nicht zu uns herüber, sondern blieb bei Erik und Knut sitzen.
Eva erzählte von Leuna. Sie wohnte immer noch bei den Eltern, fuhr jeden Nachmittag nach den Seminaren nach Hause. „Ich mag das Studium nicht.“, sagte sie, „Das ist kein richtiges Studium, das ist keine Universität. Wir sollen nur nachher alle als Vorarbeiter ins Werk. Und mehr als ein Vorarbeiter brauchen wir nicht zu wissen.“ – „Wirst du abbrechen?“ – „Wahrscheinlich. Wenn ich nur wüsste, was stattdessen.“ Und dann ergänzte sie: „Mein Freund will ja nach Berlin. Aber ich weiß nicht, was wir da sollen. Wir kennen da niemanden, und ich hätte dann keine Ausbildung ...“ Wir wurden unterbrochen, Eriks Stimme drang schrill durch den Raum: „Natürlich ist das keine originelle Lösung, so ein Selbstmord! Verdammt, aber Leben gabs doch auch schonmal.“ Auch Johanna horchte auf, sie kam zu ihm rüber: „Spiel doch hier nicht den Dekadenten. Das hast du von Jessenin geklaut. Das sind gar nicht deine Gedanken.“ Erik widersprach lautstärker, als es angemessen war, und das war gut so. Denn in dem Moment, als die beiden Streithähne aufeinander zugingen und wild gestikulierend zu diskutieren begannen, zerbrach die bisherige Grüppchenkonstellation, ein allgemeines Durcheinander entstand, das mich erheiterte, mich erleichterte. Ich sah mir das eine Weile an, und als ich merkte, dass Erik und Johanna schon wieder versöhnt waren und einander ironisch zuzwinkerten, als sie sich in die Küche zurückzogen, um den Kartoffelsalat zu holen, da schnappte ich mir eine halbleere Weinflasche und ging in den Flur, hakte die Leiter aus, zu der Dachluke zum Flachdach.
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Mittwoch, 21. November 2018
So war das, Teil 4
damals, 21:25h
Ich nahm ihm das nicht krumm. Ein paar Tage später fuhr auch ich mit ihm mit der Straßenbahn, in die andere Richtung, nach Leuna, in meine Heimatstadt. Ich hatte Knut von einem Zeitungskiosk erzählt, der vielleicht bereit wäre, halboffizielles Schriftgut auszulegen. Ich kannte den Kiosk aus meiner Kindheit, mein Großvater hatte dort immer den „Eulenspiegel“ gekauft; den jetzigen Betreiber kannte ich auch, einen einfachen, ehrlichen Menschen, der sicher kein großer DDR-Fan war und vielleicht bereit, in seinem Laden ein paar Kirchenblätter auszulegen.
Also fuhren wir hin. Hinter Merseburg führt die Strecke kilometerweit durch Vorstadtkuddelmuddel, wir hatten Zeit zum Reden. Ich erzählte von Leuna, von meinen Eltern, von der Bäckerei unten im Haus, dem Eisladen und dem Waldbad auf der andern Saaleseite. "Richtiges Kleinstadtidyll", meinte Knut. - "Na ja, wie man's nimmt. Als Kind sieht man ja alles von der positiven Seite. Ich könnte auch von der Flugasche erzählen, die mein Großvater als Ehrenamtlicher von den Parkbänken fegte - völlig sinnlos, weil sie gleich wieder dreckig waren, oder von den Schlieren auf der Saale in allen Regenbogenfarben, die fand ich als Kind so schön. Oder wie mein Vater plötzlich verschwand, als ich 14 war." - "Klingt ja mysteriös." - "Nein, ganz normale Ehescheidung. Die beiden hatten sich ja nichts mehr zu sagen, seit ich denken kann. Ich hatte das immer normal gefunden. Aber dass er dann einfach wegging und gar keinen Kontakt mehr wollte, auch zu mir nicht ..." Wir schwiegen. "Und wie ist das bei dir?", fragte ich dann. "Bist du ein richtiger Berliner?" - "Straußberger, streng genommen. Mein Alter wohnt immer noch da, er arbeitet beim Oberkommando. Meine Mutter ist irgendwann wieder nach Berlin gezogen. Ich auch, als ich 18 war. Aber nicht zu ihr." Er kicherte. "Ja, seitdem bin ich ein richtiger Berliner. Aber jetzt ... im Moment find es total spannend hier in der Provinz." Knut schwieg und sah aus dem Fenster. "Habt ihr eigentlich auch Bonanza geguckt?", fragte er dann. Ich antwortete nicht Natürlich hatten wir, aber ich mochte mich jetzt nicht sentimental verbrüdern, das passte nicht.
Aber mit dem Zeitungskiosk, das wurde ein Flop. Wir durften nichts auslegen, der Betreiber hatte seine Vorschriften. Er guckte mich schief an, als ich mit meinem Anliegen kam, und Knut guckte mich auch schief an, weil nichts klappte, wie ichs versprochen hatte. Es war einfach nur peinlich. Wir trabten wieder ab. Auf der Rückfahrt regte sich Knut auf: "Ich versteh nicht, was der hatte. Das ist doch alles total harmlos. Infobrief von der Sixtigemeinde! Da kann nun wirklich keiner was gegen haben. Wenn nicht mal das geht bei euch! Weißt du, wenn es wenigstens der Infobrief von der Umweltbibliothek gewesen wäre oder ... Moment mal." Er kramte in seiner Tasche und zog eine Broschüre hervor. "Was hätte der Mann denn gesagt, wenn ich damit gekommen wäre?" Er hatte tatsächlich einen "Grenzfall" in der Hand, das berühmt-berüchtigte Blatt der Opposition aus Berlin. Das kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Und aus dem Westfernsehen. Ich sah mich instinktiv um, aber natürlich: Es war niemand weiter im Straßenbahnwagen, sonst hätte Knut das nicht hier in der Öffentlichkeit ... "Hab ich von Ralph Hirsch. Lies es dir einfach mal durch und gibs mir morgen zurück."
"Knut", sagte ich, als die Straßenbahn nach Ewigkeiten wieder durch Merseburger Stadtgebiet zuckelte, "lass uns noch ein Bier trinken gehen im Haus des Handwerks." Ich wollte ihm wenigstens irgendwas anbieten, wenn das mit Leuna schon so danebengegangen war. Seine Anbiederfloskel mit "total spannend in der Provinz" – auf meine Weise nahm ich sie auf.
Also fuhren wir hin. Hinter Merseburg führt die Strecke kilometerweit durch Vorstadtkuddelmuddel, wir hatten Zeit zum Reden. Ich erzählte von Leuna, von meinen Eltern, von der Bäckerei unten im Haus, dem Eisladen und dem Waldbad auf der andern Saaleseite. "Richtiges Kleinstadtidyll", meinte Knut. - "Na ja, wie man's nimmt. Als Kind sieht man ja alles von der positiven Seite. Ich könnte auch von der Flugasche erzählen, die mein Großvater als Ehrenamtlicher von den Parkbänken fegte - völlig sinnlos, weil sie gleich wieder dreckig waren, oder von den Schlieren auf der Saale in allen Regenbogenfarben, die fand ich als Kind so schön. Oder wie mein Vater plötzlich verschwand, als ich 14 war." - "Klingt ja mysteriös." - "Nein, ganz normale Ehescheidung. Die beiden hatten sich ja nichts mehr zu sagen, seit ich denken kann. Ich hatte das immer normal gefunden. Aber dass er dann einfach wegging und gar keinen Kontakt mehr wollte, auch zu mir nicht ..." Wir schwiegen. "Und wie ist das bei dir?", fragte ich dann. "Bist du ein richtiger Berliner?" - "Straußberger, streng genommen. Mein Alter wohnt immer noch da, er arbeitet beim Oberkommando. Meine Mutter ist irgendwann wieder nach Berlin gezogen. Ich auch, als ich 18 war. Aber nicht zu ihr." Er kicherte. "Ja, seitdem bin ich ein richtiger Berliner. Aber jetzt ... im Moment find es total spannend hier in der Provinz." Knut schwieg und sah aus dem Fenster. "Habt ihr eigentlich auch Bonanza geguckt?", fragte er dann. Ich antwortete nicht Natürlich hatten wir, aber ich mochte mich jetzt nicht sentimental verbrüdern, das passte nicht.
Aber mit dem Zeitungskiosk, das wurde ein Flop. Wir durften nichts auslegen, der Betreiber hatte seine Vorschriften. Er guckte mich schief an, als ich mit meinem Anliegen kam, und Knut guckte mich auch schief an, weil nichts klappte, wie ichs versprochen hatte. Es war einfach nur peinlich. Wir trabten wieder ab. Auf der Rückfahrt regte sich Knut auf: "Ich versteh nicht, was der hatte. Das ist doch alles total harmlos. Infobrief von der Sixtigemeinde! Da kann nun wirklich keiner was gegen haben. Wenn nicht mal das geht bei euch! Weißt du, wenn es wenigstens der Infobrief von der Umweltbibliothek gewesen wäre oder ... Moment mal." Er kramte in seiner Tasche und zog eine Broschüre hervor. "Was hätte der Mann denn gesagt, wenn ich damit gekommen wäre?" Er hatte tatsächlich einen "Grenzfall" in der Hand, das berühmt-berüchtigte Blatt der Opposition aus Berlin. Das kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Und aus dem Westfernsehen. Ich sah mich instinktiv um, aber natürlich: Es war niemand weiter im Straßenbahnwagen, sonst hätte Knut das nicht hier in der Öffentlichkeit ... "Hab ich von Ralph Hirsch. Lies es dir einfach mal durch und gibs mir morgen zurück."
"Knut", sagte ich, als die Straßenbahn nach Ewigkeiten wieder durch Merseburger Stadtgebiet zuckelte, "lass uns noch ein Bier trinken gehen im Haus des Handwerks." Ich wollte ihm wenigstens irgendwas anbieten, wenn das mit Leuna schon so danebengegangen war. Seine Anbiederfloskel mit "total spannend in der Provinz" – auf meine Weise nahm ich sie auf.
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Dienstag, 20. November 2018
So war das, Teil 3
damals, 20:01h
Zwei Wochen später tauchte Knut wieder auf. Als wäre nichts gewesen, wohnte er wieder bei Erik und mir. Auch der Friedenskreis fand wieder regelmäßig statt, jetzt am Mittwoch. Und es kamen auch mehr Interessenten, die Sache sprach sich herum. Meistens lasen wir Texte, die Knut mitbrachte. Er hatte offenbar die entsprechenden Kontakte. Spannender als die Artikel von DDR-Dissidenten aus Westzeitschriften fand ich, dass er ein paarmal auch Künstlerbücher aus der Prenzlauer-Berg-Szene mitbrachte. Auf den ersten Blick waren das grauenhaft hässliche Heftchen, offenbar versuchten die widerborstig hingestrichelten Grafiken, mit Punk-Attitüde ihre eigene Unprofessionalität zu ironisieren. Aber die Gedichte hatten was. Auch sie verquer, mit Bierernst durchgeführte Sprachspielereien, aber manche von ihnen trafen mich direkt. Sie schienen so verzweifelt, verklemmt ehrlich oder zumindest auf der Suche nach einer Ehrlichkeit, die es in diesem Land nicht mehr gab.
Johanna kam nicht zu den Treffen, und Kerstin auch nicht. Aber der Rest ihrer Seminargruppe war zuverlässig da, auch ein paar Leute aus nichtstudentischen Kreisen. Wir redeten uns die Köpfe heiß, und es konnte nun nicht mehr lange dauern, bis wir tatsächlich etwas machten, eine Umweltinitiative war im Gespräch, mit Fröscherettung sollte es anfangen.
Wenn ich Spätschicht hatte, saßen wir oft zu dritt beim Frühstück zusammen. „So, wie du studierst, möchte ich mal Urlaub haben.“ sagte Knut zu Erik und der banale Spruch brachte uns auf ein weniger banales Problem: Wir brauchten eine Arbeit für Knut. Nicht, dass es an Geld gefehlt hätte, Geld war nie das Problem in der DDR, wenn es ums tägliche Leben ging. Knut brauchte eine bürgerliche Fassade. Streng genommen war seine arbeitsvertragslose Existenz sogar ein Straftatbestand, nach den Gesetzen des Landes. Jeder Nachbar hätte ihn anzeigen können. So spießig war das damals, und solche Nachbarn hatten wir auch. Also sprach ich mit meinem Chef. Der war erst gar nicht begeistert. „Leute ohne Ausbildung, ohne Erfahrung“, knurrte er, "die glauben, dass sie hier einen praktischen Arbeitsplatz finden. Mit viel Freizeit in der Woche ...“ So gesehen hatte er Recht.
Andererseits brauchte er dringend Leute. Und mich hatte er damals ja auch eingestellt, ohne Ausbildung - ich hatte nach der 10. Klasse eine Lehre abgebrochen, weil ich nicht mehr im Werk malochen wollte wie meine einstigen Klassenkameraden. "Ich kann mir den Burschen ja mal ansehen."
Damit hatte Knut den Job, das war klar. Denn wer Knut sah und nicht ganz verblödet war - und mein Chef war alles andere als verblödet - der musste sehen, dass das kein Faulenzer war, kein Rumhänger. Und es war schön, jemanden wie ihn zum Kollegen zu haben. Einen, der schonmal rausgekommen war aus Merseburg. Er war neugierig auf alles, die Bewohner liebten ihn. Nichts von Routine. Einmal, ich hatte Spätschicht, verbrachte ich den Vormittag damit, einen mannshohen Berg Briketts vom Bürgersteig durch die enge Luke in unser Kellerkabüffchen zu schaufeln. Wir hatten aus Kostengründen "frei Haus" bestellt, nicht "frei Gelass". Da kam Knut mit der ganzen Bande vorbei und ließ sie zugucken. "Wollt ihr das wirklich?" rief er. "Ganz normal leben? Das könnt ihr mir doch nicht erzählen! Ihr wollt doch weiter bei uns im Stift wohnen bleiben. Da kümmern sich andere." Er erntete johlenden Beifall. Dann gingen sie vor zur Straßenbahn und fuhren nach Halle in den Zoo.
Johanna kam nicht zu den Treffen, und Kerstin auch nicht. Aber der Rest ihrer Seminargruppe war zuverlässig da, auch ein paar Leute aus nichtstudentischen Kreisen. Wir redeten uns die Köpfe heiß, und es konnte nun nicht mehr lange dauern, bis wir tatsächlich etwas machten, eine Umweltinitiative war im Gespräch, mit Fröscherettung sollte es anfangen.
Wenn ich Spätschicht hatte, saßen wir oft zu dritt beim Frühstück zusammen. „So, wie du studierst, möchte ich mal Urlaub haben.“ sagte Knut zu Erik und der banale Spruch brachte uns auf ein weniger banales Problem: Wir brauchten eine Arbeit für Knut. Nicht, dass es an Geld gefehlt hätte, Geld war nie das Problem in der DDR, wenn es ums tägliche Leben ging. Knut brauchte eine bürgerliche Fassade. Streng genommen war seine arbeitsvertragslose Existenz sogar ein Straftatbestand, nach den Gesetzen des Landes. Jeder Nachbar hätte ihn anzeigen können. So spießig war das damals, und solche Nachbarn hatten wir auch. Also sprach ich mit meinem Chef. Der war erst gar nicht begeistert. „Leute ohne Ausbildung, ohne Erfahrung“, knurrte er, "die glauben, dass sie hier einen praktischen Arbeitsplatz finden. Mit viel Freizeit in der Woche ...“ So gesehen hatte er Recht.
Andererseits brauchte er dringend Leute. Und mich hatte er damals ja auch eingestellt, ohne Ausbildung - ich hatte nach der 10. Klasse eine Lehre abgebrochen, weil ich nicht mehr im Werk malochen wollte wie meine einstigen Klassenkameraden. "Ich kann mir den Burschen ja mal ansehen."
Damit hatte Knut den Job, das war klar. Denn wer Knut sah und nicht ganz verblödet war - und mein Chef war alles andere als verblödet - der musste sehen, dass das kein Faulenzer war, kein Rumhänger. Und es war schön, jemanden wie ihn zum Kollegen zu haben. Einen, der schonmal rausgekommen war aus Merseburg. Er war neugierig auf alles, die Bewohner liebten ihn. Nichts von Routine. Einmal, ich hatte Spätschicht, verbrachte ich den Vormittag damit, einen mannshohen Berg Briketts vom Bürgersteig durch die enge Luke in unser Kellerkabüffchen zu schaufeln. Wir hatten aus Kostengründen "frei Haus" bestellt, nicht "frei Gelass". Da kam Knut mit der ganzen Bande vorbei und ließ sie zugucken. "Wollt ihr das wirklich?" rief er. "Ganz normal leben? Das könnt ihr mir doch nicht erzählen! Ihr wollt doch weiter bei uns im Stift wohnen bleiben. Da kümmern sich andere." Er erntete johlenden Beifall. Dann gingen sie vor zur Straßenbahn und fuhren nach Halle in den Zoo.
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