Donnerstag, 29. November 2018
So war das, Teil 12
Danach sahen wir uns erstmal nicht mehr. Dass ich nicht mehr bei der Wohnung helfe, teilte ich ihr schriftlich mit, auf einem ebensolchen Zettel, wie sie sie zu verteilen pflegte. Zeichnen konnte ich zwar nicht, aber die richtigen Worte zu finden, das gelang mir immer ganz gut, und hier waren kalte Worte die richtigen.

Ich hörte dann, dass andere ihr halfen mit der Wohnung. Es gab auch eine Einweihungsparty. Johanna und Erik gingen hin. Auch ich hatte ein Zettelchen mit so einer Kerstin-Kritzelei erhalten. Ich sah es mir lange an, es war schon genial, wie sie in wenigen schwarzen Federstrichen auf einem winzigen Papier eine zauberhafte Atmosphäre entstehen lassen konnte, die Idee einer Kerstin im Aufbruch, an der Schwelle eines selbstbestimmten Lebens. Eine Idee, von der ich glaubte, sie stimmt nicht.

Kerstin war nicht die einzige, die dieser Idee anhing im Frühjahr 1989. Erik engagierte sich neuerdings an der Uni, es ging um die Legalisierung von Schwarzwohnungen. Den Parteichef der Uni habe er schon auf seiner Seite, erzählte er mir stolz. „Und die Baupolizei kriegen wir auch noch überzeugt!“ Alle paar Tage saß nun eine Gruppe von Studenten bei uns in der Wohnung, außer Erik allesamt Schwarzwohner. Natürlich auch Johanna und Kerstin. Sie stellten eine Liste leer stehender Wohnungen zusammen, die Studenten zur Verfügung gestellt werden könnten – im Wesentlichen handelte es sich um die Wohnungen, in denen sie selbst illegal schon wohnten. Aber sie suchten noch weitere. So jedenfalls erzählte mir es Johanna, denn ich nahm an den Treffen nicht teil. Wenn die Leute kamen, verließ ich die Wohnung. Johanna war stolz, dass alle es wagten, ihre Schwarzwohnungsadressen preiszugeben: „Es sind wirkliche Verhandlungen, Mario,“ sagte sie, „und es geht um wirkliche Dinge. Nicht so ein Blödsinn wie der Friedenskreis. Und du musst nicht weggehen, wenn wir uns treffen in deiner Wohnung. Du gehörst zu uns.“

Und dann fuhr Kerstin überraschend nach Berlin. Auch das verriet Johanna mir. Und sie hatte Recht damit: Es war mir nicht egal. Ich spürte das in der Magengrube. Aber ich sagte nichts.

Als Kerstin aus Berlin zurückkam, kam sie zuerst zu mir. Jedenfalls klingelte sie an unserer Tür zur Abendbrotszeit. „Erik ist nicht da.“ sagte ich zur Begrüßung. „Ich weiß“, antwortete sie. „Lässt du mich trotzdem rein?“ Wir aßen Butterbemmen, ich hatte eine Flasche Wein dazugestellt. „Nur einen Tee, bitte.“, sagte Kerstin. – „Meinetwegen.“, erwiderte ich, „Wie wars in Berlin?“ – „Ganz okay. Knut geht’s gut. Aber was er eigentlich macht, weiß ich gar nicht.“ – „Und du?“ – „Ja, was soll ich sagen? Du weißt, dass Knut alle Frauen rumkriegt. Und das macht er gut. War ganz in Ordnung. Es ist erledigt.“ Ich sagte gar nichts. So direkt hatte ich das gar nicht gemeint, aber so direkt hat sie geantwortet. Wir saßen dann noch eine Weile zusammen und redeten über andere Sachen, und es war angenehm, so wie es mit Kerstin immer angenehm war, wenn sie mal nicht schwieg. Auch an die Inhalte von diesem Gespräch kann ich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur, wie es aussah: Kerstins Hose, ein rötlich-graues Pfeffer-und-Salz-Muster, die Teetassen mit dem längst kalt gewordenem, süßen Tee, die schwarze Haarsträhne über ihren graugrünen Augen. Und ich erinnere mich an unsere Abschiedsumarmung, die gut war, vertraut, leidenschaftslos. Ja, es war erledigt.

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