Mittwoch, 28. November 2018
So war das, Teil 11
Aber auch ich wusste nicht, was werden sollte. Merseburg, das war vorbei. Knut in Berlin. Erik und Johanna immer öfter zu zweit unterwegs. Kerstin hatte sich erledigt, wie es schien. Was blieb, war meine Arbeit, in die ich zufällig geraten war und die zufällig gut funktionierte. Daran hielt ich mich fest, denn ich spürte, dass alles andere zu rutschen begann. Die ganze DDR begann zu rutschen, da hatte Knut schon Recht. Deshalb war er ja weg. Mir machte das Angst. Erik erzählte begeistert, dass an der Hochschule plötzlich unzensiert gestaltete Wandzeitungen möglich waren, dass sich die Parteileute dafür interessierten, was die Studenten zu sagen hatten, und dass altstalinistische Professoren auf einmal verängstigt schwiegen. Ich wollte nichts davon wissen. Ich suchte nicht nach Offenheit, ich suchte das Leben.

Deshalb musste ich weg von Merseburg. Aber was sollte ich tun? Alles, was ich hatte, das war hier, das war meine Arbeit, das war meine geliebte Altstadtwohnung. Und dann kam sogar Kerstin zurück. Was ich davon halten sollte, das wusste ich gar nicht. Sie bat mich, ihr bei der Renovierung der Wohnung zu helfen, die sie mit Knuts Hilfe gefunden hatte, zwei Zimmern mit Klo, ganz bei mir in der Nähe.

Es war ein ärmliches, dunkles Fachwerkhaus, in dem nur noch ein offizieller Mieter wohnte, ein Haus, das sehr danach roch, bald abgerissen zu werden – nachfragen konnte man nicht, da es galt, sich illegal einzuschleichen. Kerstin bat mich um Hilfe, und natürlich sagte ich nicht nein. Das neue Schloss hatte sie ja schon vor Wochen eingebaut, jetzt hieß es Malern, es ging um die Frage, wie sich ein Kochplatz einrichten ließ, und das Fenster nach hinten raus war ziemlich undicht. Genau genommen stand die Entscheidung an, ob die Wohnung überhaupt ernsthaft bewohnbar war. Ein bisschen muffig roch es schon. Aber die Zimmer hatten offensichtlich auch länger leer gestanden, und es war Winter, ein milder, nasser Winter.

Kerstin tat so, als gäbe es die Zweifel nicht. Sie war voll Elan, besorgte Farbe und Malerrollen, auch einen zweiflammigen Campingkocher mit Propangasflasche, denn einen Gasanschluss hatten wir nicht gefunden. Ich erinnere mich an einen Samstag, den wir in der kalten Wohnung damit verbrachten, die alten Tapeten mit Weiß zu überpinseln. Rein optisch überzeugte das Ergebnis, trotzdem stieg meine Skepsis. Und sie übertrug sich von der Wohnung auf Kerstin. Was war das zwischen ihr und Merseburg, zwischen ihr und mir? Eine vielleicht schon verpasste Chance? Ein sentimentaler Reflex? Als Erik bei mir einzog, da hatte ich mich nach der Hochschule gesehnt, ich hatte Studentinnen spannend gefunden, auch Kerstin hatte ich hinterhergeglotzt auf der Straße. Jetzt kannte ich Kerstin, und ich wusste, sie würde mir fremd bleiben. Was schön war an ihr, und das war fast alles, das war nicht für mich schön, das zeigte mir jede ihrer Gesten. Auch wenn ihr Mund etwas anderes sagte. Auch wenn die Situation nach außen hin anders aussah.

"Ein Innenklo!" sagte Johanna anerkennend, als ich in Arbeitssachen nach Hause kam und Erik und sie beim Abendbrot saßen. "Mensch, ich freu mich so für Kerstin. Dass sie endlich aus diesem Wohnheim rauskommt. Und wie ihr das zusammen macht, das find ich auch gut." Sie lächelte vielsagend. Sicher wollte sie jetzt hören, dass wir doch noch ein Paar geworden waren. Dann hätte alles seine Ordnung gehabt. Aber nichts hatte seine Ordnung in diesem Jahr 1989.

Als ich mich im März einmal nach einer Saufnacht im Bett von Eva wiederfand – da war es sehr schön, übrigens – da dachte ich beim Nachhausegehen morgens, in der Vormittagseinöde von Leuna: „Das hätte jetzt eigentlich Kerstin sein müssen.“ War sie aber nicht. Eva war die Falsche und Kerstin war nicht die Richtige, jedenfalls nicht geworden. Vor allem stank mir ihr Studentenstatus. Ich wurde richtig wütend, wenn ich daran dachte: War ich nicht eigentlich der Intellektuelle? Warum hatte sie Abitur und ich nur eine abgebrochene Ausbildung? Und wieso hatte sie kein Problem damit, nach dem Studium ins Werk übernommen zu werden? Was wollte sie da? Ihre Ironie, ihre blasse Skepsis, ihre verstockte Lust am Schweigen, alles, was ich an ihr mochte, das würde sie dort hinter sich lassen. Wieso war sie bereit, das zu tun? Ich hatte keine Lust mehr, ihr weiter bei der Wohnung zu helfen, dieser Alibiwohnung, mit der sie beweisen wollte, dass sie doch irgendwo unkonventionell sei. Aber trotzdem fand ich mich am nächsten Tag wieder in Arbeitssachen bei ihr ein.

Einmal, wir hatten gut was geschafft in ihrer Wohnung, saßen wir noch auf einen Tee bei mir und schwiegen. Eigentlich eine idyllische Situation. Aber es stimmte nichts. Da versuchte ich es ein letztes Mal und nahm ihre Hand. Kerstin krampfte sich zusammen und sagte leise: "Nicht." Ich ließ ab, erschrocken, beschämt. "Warum jetzt?", sagte sie, plötzlich aufbrausend, "Warum jetzt noch? Damals auf der Brücke. Oder als wir uns abends den Wein geholt haben. Aber du willst ja nicht.“ Sie nahm ihre Sachen. Ich ließ sie gehen.

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In meiner Geschichte hab ich ja versucht, die Themen "Wende" und "Männlichkeit" miteinander zu verknüpfen. Jetzt hab ich eben nach langer Zeit mal wieder bei wondergirl (danke an klagefall, dessen blogroll mich an sie erinnerte) vorbeigeguckt, und da steht ein sehr kluger Artikel dazu. Dringende Leseempfehlung!

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