Montag, 26. November 2018
So war das, Teil 9
An diesen Satz musste ich in den folgenden Tagen oft denken. Der Herbst hatte unvermittelt auf Regen umgeschaltet, und ich verschob den Gang zum Studentenwohnheim. Ehe ich michs versah, war es Wochenende. Knut war in Berlin, Erik wollte nach Weimar. Am Samstagvormittag kam Johanna vorbei und holte ihn ab. „Falls Du Sehnsucht hast, Mario“, sagte sie mit einem komischen Lächeln, „Kerstin ist dieses Wochenende nicht in Merseburg Aber ich glaube, da liegt ein Brief in euerm Briefkasten.“ Auch das noch! Als die beiden weg waren, ging ich runter zum Briefkasten. Es war kein Brief, nur ein Zettel, bedeckt mit typischen Kerstin-Kritzeleien. Zu sehen war da ein Paar mit Weingläsern an einem Bistrotisch, mit einem Sternenhimmel darüber, und in einem nächsten Bild sah man den Mann auf äußerst zaghafte Weise mit der Entkleidung der Frau beschäftigt. War das wirklich ich? Und sollte das sie sein, die da so belustigt lächelt? Was sollte ich davon halten?

Ich ging wieder hoch in die Wohnung, aber auch da wurde ich nicht froh. Ich sah aus dem Fenster und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. In der Mitte stand mein Satz: „Ich hab dich lieb.“ Stimmte das oder war das nur aus der Situation geboren? Und warum hatten wir uns so verkrampft dabei? Hatte ich mich so lächerlich benommen oder sie? Oder ging es gar nicht darum? Mir fiel plötzlich ein, dass sie erklärt hatte, ihr Studium in Merseburg abschließen zu wollen. Sie nahm also mit, was am Wegrand lag, und wenn das ich war ... Aber ich, hatte ich nicht sowieso gesagt, dass ich weg will? War es mir denn ernst?

Ich nahm meine Jacke und ging raus. Nur wohin? Lange konnte man sich draußen nicht aufhalten bei dem Wetter. Die Hochschulbibliothek hatte geöffnet. Eigentlich hatte ich da nichts zu schaffen. Trotzdem ging ich hin. Es war der 30. November, auch mittags nicht richtig hell. Die Hochschulgebäude, Bauten aus den fünfziger Jahren, zogen mich an. Auch im Regen strahlten diese Häuser, langgestreckte, hell verputzte Schachteln mit flachen Satteldächern, etwas naiv Optimistisches aus. Als meine Eltern jung gewesen waren, hatten sie das wahrscheinlich schön gefunden, mein Vater hatte da mal einen Lehrauftrag gehabt. Ich ging in den Lesesaal, in dem ich schon lange nicht mehr gewesen war und wo ich nie etwas gefunden hatte. Nur die Sehnsucht, dort Lösungen zu finden, die war immer noch in mir lebendig. Es fühlte sich richtig an, wie ich den Raum betrat und vor den Katalogen stand, schmalen Schränken aus hellem Holz, ich kramte einfach in den Schubkästen und erfreute mich an den penibel getippten Karteikarten.

Dann ging ich ans Regal und nahm mir ein Buch aus dem Lesesaalbestand, einen Fotoband über Merseburg, setzte mich damit an einen der Tische. Es war still, sehr still, außer mir nur zwei oder drei Menschen im Lesesaal. Ich lehnte mich zurück und ließ die Atmosphäre auf mich wirken. Der Fotoband langweilte mich schon nach ein paar Seiten. Ich zog Kerstins Zeichnung hervor und sah sie mir in Ruhe an. Was sie da aufgekritzelt hatte, in wenigen spröden Strichen, das war die Wahrheit, das musste man ihr lassen. Das war mein Happy End in Merseburg. Aber das wollte ich nicht. Ich steckte den Zettel ein und verließ die Bibliothek. Der Regen draußen gab mir Recht. Es war meine Heimat, aber es war nicht mehr mein Zuhause. Ich rannte rüber in meine Wohnung, ich war froh, dass niemand da war, und verkroch mich in meinem Bett.

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Ein Lesesaal war ein magischer, grenzenloser Ort. Ich glaube, dieses Gefühl kommt nicht zurück.

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Ja, das ist vorbei, leider, und ich vermisse die Stunden dort sehr. Aber vielleicht wollte ich mit der obigen Szene (neben manchem anderem) auch andeuten, wie sich diese Magie schon in den 1980ern zu entleeren begann.

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