Freitag, 23. November 2018
So war das, Teil 6
Es war eine sternklare Nacht, eine Nacht, in der die Sterne so stark leuchteten, dass ihnen auch die Lichter der Stadt nichts anhaben konnten. Merseburg ist nicht groß, es gab keine Gebäude, die unser Mietshaus nennenswert überragt hätten. Umso hässlicher, umso kleinlicher erschien mir das gelbliche Lampenlicht, das von überall her den Himmel anfraß. Ich musste an Kerstins abfälligen Satz über Merseburg und über mich denken. Sie hatte Recht, das sah ich jetzt. Natürlich waren wir schon öfter hier auf dem Dach gewesen, bei Sonnenschein, im Sommer, und hatten Picknicks zelebriert. Das war gar nicht lang her, und wir hatten das cool und witzig gefunden, aber jetzt, im Kalten und im Dunkeln, wurde mir klar, dass es so nicht geht, jetzt nicht mehr.

Da rumpelte es hinter mir, ich fuhr herum. Ein dunkler Haarschopf erschien in der Luke. Aber nicht der von Kerstin, wie ich im ersten Moment dachte. Es war ein anderes Mädchen, jemand Fremdes, ihr folgten Johanna und einige Männer. Von unten waren laute, fröhliche Stimmen zu hören, auch die von Knut. Offenbar hatte man die Leiter entdeckt. Ich ließ sie alle hochkommen, dann stieg ich selbst nach unten.

Die Wohnung war jetzt fast leer, nur zwei Grüppchen saßen noch herum. In der Küche redete ein schmaler Student auf Eva ein: Er befragte sie tatsächlich, wie das sei mit dem Sex, so als dicke, große Frau. Sie antwortete ernst, zunächst. Als er das Thema vertiefen wollte, kanzelte sie ihn grob ab.

Ich mischte mich gar nicht ein, ich verließ die Wohnung und das Haus. Als ich auf die Straße trat, sah ich Kerstin an der nächsten Straßenecke in Richtung Stadt verschwinden. Eigentlich wollte ich in die andere Richtung, hinunter zum Neumarkt. Ich zögerte einen Moment, dann lief ich ihr nach.

Kerstin machte sich ein Spiel draus, das war klar. Sie verschwand immer so hinter einer Straßenecke, dass ich nachkommen konnte, ohne zu rennen. Denn rennen ging nicht, natürlich. Ich musste es anders schaffen. Nach ein paar Ecken fiel mir ein Schleichweg ein. Ich bog ab und kurz darauf stand ich, in der Parkanlage am Teich, wieder vor ihr. „Was willst du?“, fragte Kerstin. „Das war ein schönes Spiel“, sagte ich. Und sie: „Ich spiele nicht.“ Wir ließen es dabei bewenden, es war auch nicht wichtig. Kerstin wollte erzählen. Wir gingen am Wasser entlang und sie erklärte mir, warum sie in Merseburg gelandet war. Sie machte eine lange Erzählung daraus, mit einem schön gedehnten Spannungsbogen, und in vier, fünf kurzen Sätzen zwischendurch fragte sie, wie das bei mir ist. Mich erschreckte, wie gut sie mich mit den paar kurzen Fragen erkannte: Jede meiner Antworten fühlte sich ungewollt wie ein Treffer an. Wir standen noch lange vor ihrem Wohnheim, dann war irgendwann klar: Es ist alles gesagt. Aber wie konnte man sich jetzt trennen, nach dem, was gesagt war? „Es muss jetzt nicht mit Küssen enden.“, sagte Kerstin. „Schade“, sagte ich. Wir nahmen uns in den Arm, dann ging jeder seiner Wege.

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Donnerstag, 22. November 2018
So war das, Teil 5
Knut war einverstanden. Wir stiefelten quer durch unser Viertel, aber nicht nach Hause, sondern runter zum Schloss, vorbei an Ruinen ärmlicher Mietshäuser, an frischen Baugruben, den ersten Betonfundamenten künftiger Plattenbauten. Knut beguckte sich den Raben, der in einem Vogelhaus vorm Schloss hockt, weil vor Jahrhunderten einer seiner Artgenossen einen fürstlichen Ring gestohlen hat. "Ich lass ihn frei!", rief Knut, "Wenn hier alles anders kommt: Ihn lass ich zuerst frei!" Und dann standen plötzlich Johanna und Kerstin hinter uns.

Sie sahen fast aus wie ein Liebespaar, gar nicht mehr so gegensätzlich, wie ich sie wahrgenommen hatte. Kerstin hatte beinahe etwas Verwegenes, Johanna war entspannt. „Was ist denn mit euch los?“ – „Das willst du gar nicht wissen, Knut!“, schnippte Kerstin zurück. Jedenfalls wollte ich es nicht wissen. „Wir gehen noch ins ‚Haus des Handwerks‘“, sagte ich, „wollt ihr ...“ – „Nö.“ kam von Johanna prompt als Antwort. Und doch war es klar, dass wir die nächsten Stunden zusammen verbringen, zusammen die Zeit totschlagen. Wie und was, da hatte auch Johanna keinen Plan, und was wir dann tatsächlich gemacht haben, das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich nichts Bedeutsames. Ich weiß nur noch, dass wir an der Saale waren, dass ich in ihr breites, langsames Strömen starrte, während Knut versuchte, Kerstin aus der Reserve zu locken, die bald schon wieder in ihr übliches Schweigen zurückgefallen war, und ich erinnere mich an ein Gespräch mit Johanna, an der Imbissbude am Bahnhof, das irgendwie klug und gut war. Worum es ging, hab ich vergessen. Wir müssen irrsinnig viel gelaufen sein an dem Nachmittag, und am Ende landeten wir natürlich bei uns, in unserer Wohnung.

Erik sah uns erstaunt an, er war auf eine Art nervös, die ich gar nicht von ihm kannte, und offenbar damit beschäftigt, das Eintreffen von Gästen vorzubereiten. Da fiel es mir wieder ein: „Du hast ja Geburtstag, Erik!“ – „Richtig, 25. Da hab ich gedacht, ich feiere einfach mal.“ kam es ironisch zurück. „Ich hab ein paar Leute eingeladen. Euch übrigens auch. Wisst ihr nicht mehr? Aber trotzdem schön, dass ihr da seid. Ihr könnt mir ein bisschen helfen.“

Das taten wir und die Peinlichkeit war bald vergessen. Die Wohnung füllte sich mit Menschen, der Alkohol floss und es wurde debattiert. Bald kristallisierten sich zwei Grüppchen heraus. Rings um Erik und Knut sprach man von Politik; die andere Gruppe, Johanna fungierte als geheime Königin, betratschte geringere Probleme, die allgegenwärtige Männer-Frauen-Problematik, Intrigen an der Hochschule, ... Ich saß einige Zeit abseits. Eva aus Leuna hatte sich mir zugesellt, die jetzt auch studierte, ich kannte sie aber von früher. Wir müssen komisch ausgesehen haben, denn Eva war 15 Zentimeter größer als ich, und deutlich zugenommen hatte sie auch, seit unserer gemeinsamen Zeit in der Schule. Jedenfalls rief Kerstin eine ziemlich freche Bemerkung durch den Raum, aber sie kam nicht zu uns herüber, sondern blieb bei Erik und Knut sitzen.

Eva erzählte von Leuna. Sie wohnte immer noch bei den Eltern, fuhr jeden Nachmittag nach den Seminaren nach Hause. „Ich mag das Studium nicht.“, sagte sie, „Das ist kein richtiges Studium, das ist keine Universität. Wir sollen nur nachher alle als Vorarbeiter ins Werk. Und mehr als ein Vorarbeiter brauchen wir nicht zu wissen.“ – „Wirst du abbrechen?“ – „Wahrscheinlich. Wenn ich nur wüsste, was stattdessen.“ Und dann ergänzte sie: „Mein Freund will ja nach Berlin. Aber ich weiß nicht, was wir da sollen. Wir kennen da niemanden, und ich hätte dann keine Ausbildung ...“ Wir wurden unterbrochen, Eriks Stimme drang schrill durch den Raum: „Natürlich ist das keine originelle Lösung, so ein Selbstmord! Verdammt, aber Leben gabs doch auch schonmal.“ Auch Johanna horchte auf, sie kam zu ihm rüber: „Spiel doch hier nicht den Dekadenten. Das hast du von Jessenin geklaut. Das sind gar nicht deine Gedanken.“ Erik widersprach lautstärker, als es angemessen war, und das war gut so. Denn in dem Moment, als die beiden Streithähne aufeinander zugingen und wild gestikulierend zu diskutieren begannen, zerbrach die bisherige Grüppchenkonstellation, ein allgemeines Durcheinander entstand, das mich erheiterte, mich erleichterte. Ich sah mir das eine Weile an, und als ich merkte, dass Erik und Johanna schon wieder versöhnt waren und einander ironisch zuzwinkerten, als sie sich in die Küche zurückzogen, um den Kartoffelsalat zu holen, da schnappte ich mir eine halbleere Weinflasche und ging in den Flur, hakte die Leiter aus, zu der Dachluke zum Flachdach.

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Mittwoch, 21. November 2018
So war das, Teil 4
Ich nahm ihm das nicht krumm. Ein paar Tage später fuhr auch ich mit ihm mit der Straßenbahn, in die andere Richtung, nach Leuna, in meine Heimatstadt. Ich hatte Knut von einem Zeitungskiosk erzählt, der vielleicht bereit wäre, halboffizielles Schriftgut auszulegen. Ich kannte den Kiosk aus meiner Kindheit, mein Großvater hatte dort immer den „Eulenspiegel“ gekauft; den jetzigen Betreiber kannte ich auch, einen einfachen, ehrlichen Menschen, der sicher kein großer DDR-Fan war und vielleicht bereit, in seinem Laden ein paar Kirchenblätter auszulegen.

Also fuhren wir hin. Hinter Merseburg führt die Strecke kilometerweit durch Vorstadtkuddelmuddel, wir hatten Zeit zum Reden. Ich erzählte von Leuna, von meinen Eltern, von der Bäckerei unten im Haus, dem Eisladen und dem Waldbad auf der andern Saaleseite. "Richtiges Kleinstadtidyll", meinte Knut. - "Na ja, wie man's nimmt. Als Kind sieht man ja alles von der positiven Seite. Ich könnte auch von der Flugasche erzählen, die mein Großvater als Ehrenamtlicher von den Parkbänken fegte - völlig sinnlos, weil sie gleich wieder dreckig waren, oder von den Schlieren auf der Saale in allen Regenbogenfarben, die fand ich als Kind so schön. Oder wie mein Vater plötzlich verschwand, als ich 14 war." - "Klingt ja mysteriös." - "Nein, ganz normale Ehescheidung. Die beiden hatten sich ja nichts mehr zu sagen, seit ich denken kann. Ich hatte das immer normal gefunden. Aber dass er dann einfach wegging und gar keinen Kontakt mehr wollte, auch zu mir nicht ..." Wir schwiegen. "Und wie ist das bei dir?", fragte ich dann. "Bist du ein richtiger Berliner?" - "Straußberger, streng genommen. Mein Alter wohnt immer noch da, er arbeitet beim Oberkommando. Meine Mutter ist irgendwann wieder nach Berlin gezogen. Ich auch, als ich 18 war. Aber nicht zu ihr." Er kicherte. "Ja, seitdem bin ich ein richtiger Berliner. Aber jetzt ... im Moment find es total spannend hier in der Provinz." Knut schwieg und sah aus dem Fenster. "Habt ihr eigentlich auch Bonanza geguckt?", fragte er dann. Ich antwortete nicht Natürlich hatten wir, aber ich mochte mich jetzt nicht sentimental verbrüdern, das passte nicht.

Aber mit dem Zeitungskiosk, das wurde ein Flop. Wir durften nichts auslegen, der Betreiber hatte seine Vorschriften. Er guckte mich schief an, als ich mit meinem Anliegen kam, und Knut guckte mich auch schief an, weil nichts klappte, wie ichs versprochen hatte. Es war einfach nur peinlich. Wir trabten wieder ab. Auf der Rückfahrt regte sich Knut auf: "Ich versteh nicht, was der hatte. Das ist doch alles total harmlos. Infobrief von der Sixtigemeinde! Da kann nun wirklich keiner was gegen haben. Wenn nicht mal das geht bei euch! Weißt du, wenn es wenigstens der Infobrief von der Umweltbibliothek gewesen wäre oder ... Moment mal." Er kramte in seiner Tasche und zog eine Broschüre hervor. "Was hätte der Mann denn gesagt, wenn ich damit gekommen wäre?" Er hatte tatsächlich einen "Grenzfall" in der Hand, das berühmt-berüchtigte Blatt der Opposition aus Berlin. Das kannte ich bisher nur vom Hörensagen. Und aus dem Westfernsehen. Ich sah mich instinktiv um, aber natürlich: Es war niemand weiter im Straßenbahnwagen, sonst hätte Knut das nicht hier in der Öffentlichkeit ... "Hab ich von Ralph Hirsch. Lies es dir einfach mal durch und gibs mir morgen zurück."

"Knut", sagte ich, als die Straßenbahn nach Ewigkeiten wieder durch Merseburger Stadtgebiet zuckelte, "lass uns noch ein Bier trinken gehen im Haus des Handwerks." Ich wollte ihm wenigstens irgendwas anbieten, wenn das mit Leuna schon so danebengegangen war. Seine Anbiederfloskel mit "total spannend in der Provinz" – auf meine Weise nahm ich sie auf.

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Dienstag, 20. November 2018
So war das, Teil 3
Zwei Wochen später tauchte Knut wieder auf. Als wäre nichts gewesen, wohnte er wieder bei Erik und mir. Auch der Friedenskreis fand wieder regelmäßig statt, jetzt am Mittwoch. Und es kamen auch mehr Interessenten, die Sache sprach sich herum. Meistens lasen wir Texte, die Knut mitbrachte. Er hatte offenbar die entsprechenden Kontakte. Spannender als die Artikel von DDR-Dissidenten aus Westzeitschriften fand ich, dass er ein paarmal auch Künstlerbücher aus der Prenzlauer-Berg-Szene mitbrachte. Auf den ersten Blick waren das grauenhaft hässliche Heftchen, offenbar versuchten die widerborstig hingestrichelten Grafiken, mit Punk-Attitüde ihre eigene Unprofessionalität zu ironisieren. Aber die Gedichte hatten was. Auch sie verquer, mit Bierernst durchgeführte Sprachspielereien, aber manche von ihnen trafen mich direkt. Sie schienen so verzweifelt, verklemmt ehrlich oder zumindest auf der Suche nach einer Ehrlichkeit, die es in diesem Land nicht mehr gab.

Johanna kam nicht zu den Treffen, und Kerstin auch nicht. Aber der Rest ihrer Seminargruppe war zuverlässig da, auch ein paar Leute aus nichtstudentischen Kreisen. Wir redeten uns die Köpfe heiß, und es konnte nun nicht mehr lange dauern, bis wir tatsächlich etwas machten, eine Umweltinitiative war im Gespräch, mit Fröscherettung sollte es anfangen.

Wenn ich Spätschicht hatte, saßen wir oft zu dritt beim Frühstück zusammen. „So, wie du studierst, möchte ich mal Urlaub haben.“ sagte Knut zu Erik und der banale Spruch brachte uns auf ein weniger banales Problem: Wir brauchten eine Arbeit für Knut. Nicht, dass es an Geld gefehlt hätte, Geld war nie das Problem in der DDR, wenn es ums tägliche Leben ging. Knut brauchte eine bürgerliche Fassade. Streng genommen war seine arbeitsvertragslose Existenz sogar ein Straftatbestand, nach den Gesetzen des Landes. Jeder Nachbar hätte ihn anzeigen können. So spießig war das damals, und solche Nachbarn hatten wir auch. Also sprach ich mit meinem Chef. Der war erst gar nicht begeistert. „Leute ohne Ausbildung, ohne Erfahrung“, knurrte er, "die glauben, dass sie hier einen praktischen Arbeitsplatz finden. Mit viel Freizeit in der Woche ...“ So gesehen hatte er Recht.
Andererseits brauchte er dringend Leute. Und mich hatte er damals ja auch eingestellt, ohne Ausbildung - ich hatte nach der 10. Klasse eine Lehre abgebrochen, weil ich nicht mehr im Werk malochen wollte wie meine einstigen Klassenkameraden. "Ich kann mir den Burschen ja mal ansehen."

Damit hatte Knut den Job, das war klar. Denn wer Knut sah und nicht ganz verblödet war - und mein Chef war alles andere als verblödet - der musste sehen, dass das kein Faulenzer war, kein Rumhänger. Und es war schön, jemanden wie ihn zum Kollegen zu haben. Einen, der schonmal rausgekommen war aus Merseburg. Er war neugierig auf alles, die Bewohner liebten ihn. Nichts von Routine. Einmal, ich hatte Spätschicht, verbrachte ich den Vormittag damit, einen mannshohen Berg Briketts vom Bürgersteig durch die enge Luke in unser Kellerkabüffchen zu schaufeln. Wir hatten aus Kostengründen "frei Haus" bestellt, nicht "frei Gelass". Da kam Knut mit der ganzen Bande vorbei und ließ sie zugucken. "Wollt ihr das wirklich?" rief er. "Ganz normal leben? Das könnt ihr mir doch nicht erzählen! Ihr wollt doch weiter bei uns im Stift wohnen bleiben. Da kümmern sich andere." Er erntete johlenden Beifall. Dann gingen sie vor zur Straßenbahn und fuhren nach Halle in den Zoo.

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Montag, 19. November 2018
So war das, Teil 2
Nicht so an dem Freitag, an dem Knut auftauchte. Er musste irgendwann am Nachmittag gekommen sein. Als ich von der Arbeit kam, war Erik schon da, wie immer. Er saß mit einem Fremden an dem Tisch am Fenster, auch das nichts Ungewöhnliches. Die beiden waren ins Gespräch vertieft, sie bemerkten mich kaum. "Das ist Knut aus Berlin", sagte Erik, als er aufsah, weil ich in der Küchenecke rumorte, ich hatte Kartoffeln und Quark mitgebracht. "Knut will ein paar Tage hier bleiben, er hat Stress mit seiner Freundin." - "Hallo Mario", sagte Knut. Ich mochte ihn sofort. Es war ein großer, hagerer Mann mit breiten Schultern und einem intensiven, fast stechenden Blick. Keine fünf Minuten später saß auch ich bei den beiden und diskutierte mit. Es ging um die aktuellen Themen, um Gorbatschow, die Perestroika und warum bei uns von alldem nichts so richtig ankam. Knut meinte, man könne etwas tun, man müsse es sogar.

Da klingelte es, Johanna kam vorbei, es war Abendbrotszeit. Sofort war klar, dass Johanna Knut nicht mochte, und da Erik Johanna mochte, gab es Streit, noch bevor die Kartoffeln gar waren. "Das ist doch Quatsch, was willst du denn tun?" griff sie Knut an. Der konterte: "Natürlich: Du hast einen Studienplatz zu verlieren, du kannst natürlich nichts tun." - "Moment:", Erik versuchte zu schlichten, "Mit Studienplatz oder so nicht hat das nichts zu tun. Johanna meint einfach, dass es noch nicht einmal einen Raum gibt, wo sich genug Leute spitzelfrei versammeln könnten, und dass es ansonsten eine Kamikaze-Aktion einzelner wäre." - "Ich kenne mehrere Pfarrer hier in Merseburg, die uns Räume zur Verfügung stellen würden.", trumpfte Knut auf und damit hatte er mich - und Erik auch, "Woher denn das?", versuchte Johanna noch zu nörgeln, aber mit einem Mal war klar, was zu tun ist. Johanna ging nach Hause, aber wir entwarfen einen Plan. Plötzlich ging alles wie von selbst.

Knut blieb in Merseburg und zwei Wochen später traf sich in den Räumen der Neumarkt-Gemeinde zum ersten Mal ein "Friedenskreis", freitags, zur Feierabendzeit. Aber fast niemand kam, außer Erik und mir nur ein paar Leute von der Jungen Gemeinde, eifrige, unbedarfte junge Menschen, die zu jedem Arbeitskreis gingen, den die Gemeinde anbot. Knut war sauer. "Diese christlichen Schäfchen gehen mir auf den Zeiger! Immer wollen sie Kompromiss, immer nur die ganz kleine Lösung in der Gemeinde, am besten organisiert und behütet von ihrem Pfarrer. Die begreifen doch gar nicht, was los ist. Dass es jetzt drauf ankommt. Mensch, dieser Staat ist am Kippen, wer jetzt eingreift, der kann was erreichen! Wo bleiben eigentlich eure Studenten?!" - "Das ist das Leben, Knut - freitags fahren die Studenten nach Hause. Oder sie gehen tanzen." Damit hatte Erik leider Recht. "Warum probierst du es nicht mittwochs?", warf ich ein. Aber Knut wollte nicht. Oder er hatte anderes im Kopf. Am Wochenende fuhr er jedenfalls nach Berlin und kam erstmal nicht wieder.

Für uns bedeutete das, dass wieder Ruhe einkehrte, dass Johanna wieder auftauchte und dass wir freitags wieder in die Heavy-Disco gingen. Ich erinnere mich an einen dieser Freitage. Johanna brachte zum Abendbrot Kerstin mit, die mir schon im Straßenbild aufgefallen war: eine schmale, sehr blasse, sehr Dunkelhaarige, aber alles andere als ein Gruftie, eher ungelenk als cool, ganz das Gegenstück zu der attraktiven Johanna. Kerstin sagte nicht viel, manchmal warf sie einen kleinen Witz ein. Später in der Disco tanzte sie viel. Anders als Johanna, nicht elegant, sondern hölzern, marionettenhaft, selbstironisch. Ich saß lang am Rand und sah zu. Auf einmal merkte ich, dass Erik und Johanna verschwunden waren. "Tja", sagte Kerstin nur, als sie wieder neben mir stand, "die haben wir wohl verloren." Sie sah mir in die Augen, es hatte etwas von einem plumpen Anmachversuch. Dann lachte sie, und im nächsten Moment war sie wieder auf der Tanzfläche. Ich folgte ihr.

Um halb fünf morgens schloss die Heavydisco ihre Pforten. Kerstin und ich gingen runter zum Neumarkt. Das war nicht nächsten Weges, aber wir kannten die Backstube, die dort an der Hintertür frische Brötchen verkaufte. Wir waren nicht die einzigen - ein halbes Dutzend unserer Mittänzer hatte den Weg schon vor uns gefunden. Aber wir waren die einzigen, die ihre Beute gleich auf dem Rückweg verspeisten, auf der Saalebrücke. "Komisches Brückchen", meinte Kerstin, "komisches Städtchen. Hast du eine Ahnung, was wir hier verloren haben?" - "Ich komm von hier, ich gehör hier her. Bin wohl ein komisches Männchen." - "Das bist du tatsächlich. Ich frag mich wirklich, was du hier verloren hast. Nicht nur, was ich hier verloren hab, frag ich." - "Lass uns gehen." - "Ja, lass uns gehen."

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Sonntag, 18. November 2018
So war das, Teil 1
Immer, wenn ich in Leuna bin und meine alte Mutter besuche, die immer noch dort wohnt, dann gehe ich auch einmal auch den Berg runter durch das alte Rössen zur Saale. Ich schlendere ein bisschen am Ufer entlang oder ich nehme die Fußgängerbrücke auf die andre Seite, vorzugsweise im Herbst und Winter, wenn niemand sonst dort unterwegs ist. Meine Gedanken tauchen ein in die Vergangenheit. Aber es ist eigentlich nie die Kindheit, an die ich denke. Es sind die Jahre danach, die ersten Jahre meines Erwachsenseins, die gleichzeitig die letzten der DDR waren. Und ich frage mich, was damals so verkehrt war: die DDR oder ich selber.

Äußerlich sah alles gut aus, ich wohnte in Merseburg und hielt mein Leben für schön, entspannt und ereignislos. Die Arbeit als Betreuer in einer kirchlichen Behinderteneinrichtung gefiel mir und die enge, aber vielzimmrige Dachgeschosswohnung teilte ich mit Erik, einem Chemiestudenten. Ich, als Werktätiger, hatte einen Mietvertrag, und Erik brachte immer Studentinnen mit, die es in den Wohnheimen nicht aushielten. Zum Abendbrot waren wir selten allein.

Am meisten mochten wir Johanna. Sie hatte mit unserer Hilfe eine Wohnung gefunden, zwei winzig kleine Zimmer im Hinterhaus mit Klo übern Hof. Das würde heute keiner mehr zu schätzen wissen, aber es war ein Palast im Vergleich zu dem Wohnheimbett im Plattenbau, das ihr zugestanden hätte. Als ich Johanna das erste Mal sah, hätte ich sie noch nicht einmal für eine Studentin gehalten. Sie sah nicht nach jemandem aus, der künftig in diesem Land etwas werden sollte, mit ihren schwarzen Sachen und roten Haaren. Sie hatte etwas Existenzialistisches, etwas, das eher uns zustand oder besser: mir, denn auch Erik pflegte ja offenbar diese Zwischenexistenz, halb ein zukünftiger Kader der Deutschen Demokratischen Republik und doch halb einer von uns. Wir begegneten Johanna, als sie unseren Hof durchschnüffelte, auf der Suche nach leerstehendem Wohnraum. Erik lud sie gleich zum Abendbrot ein, nicht viel später fand sich auch die kleine Wohnung für sie.

Trotzdem kam Johanna noch oft zum Abendbrot bei uns vorbei, das war ja nicht weit – sie wohnte jetzt direkt an der Sixtikirche, wir zwei Straßen weiter. Bei Tee und Käsebroten diskutierten wir Beziehungsprobleme. „Wenn ich zu einer Frau einfach nur charmant sein will“, sagte ich, „dann glaubt sie gleich, ich wäre scharf auf sie, und fährt die Krallen aus.“ – „Mir geht’s nicht besser“, konterte Erik, „Wenn ich auf eine Frau scharf bin, denkt die nur: Ach, der ist ja charmant, und geht ihrer Wege.“ Johanna lächelte, sie nahm die Huldigung an. Dann gingen wir gemeinsam aus – soweit das in Merseburg möglich war. Wochentags landeten wir gewöhnlich im „Haus des Handwerks“, wo es gratis Schmalzbrote gab zum Bier. Johanna aß sich satt davon, während wir unsere Halb-Liter-Humpen schwenkten und die Männer markierten. So ging es viele Abende. Nur freitags gab es eine Alternative, da öffnete um zehn die „Heavy-Disco“. Schon eine Viertelstunde vor Beginn drängelte sich alles am Eingang. Und wir drängelten mit.

Man kann nicht direkt sagen, dass wir das Zielpublikum dieser Diskothek dargestellt hätten, es ging dort eher rau zu. Vielleicht passte ich noch am ehesten in die Heavy-Disco – ich mochte Musik mit harten Gitarrenriffs und liebte es, headbangend allein zu tanzen. Johanna warf mir einmal vor, das wäre doch nur eine Attitüde, ich sei zu zart, zu schmal, zu klug für diese Musik. Sie täuschte sich, ich fühlte mich wirklich wohl und zuhause dort. Dass sie das nicht liebten, das war mir schon klar, sie bevorzugten Wave und Postpunk, halt so konstruierte Sachen mit komplizierten Texten, für die man gut Englisch können musste, mit artifiziell verzerrten Gitarren und nicht richtig tanzbar. In die Heavy-Disco kamen sie nur, weil es dort lockerer zuging als bei den Hochschulpartys, und es war auch der einzige Ort in Merseburg, der so lange nach Mitternacht geöffnet hatte. Ich war froh über Erik und Johanna, so war ich nicht ganz allein unter den Proleten, wir drei waren schon ein Team, wenn wir hier auftraten, und als solches wurden wir auch wahrgenommen. Mir war das recht.

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Das Elend der Autoren
Mein Idealbild war immer William Carlos Williams, von dem ich einmal las, er habe in seiner Arztpraxis eine tiefe Schublade gehabt, mit einer Schreibmaschine drin, und immer, wenn mal kein Patient kam, habe er die aufgezogen und 1 – 2 Zeilen an seinen Gedichten getippt.

Dagegen steht das Bild vom Schriftsteller als öffentliche Person, mit der ich in der DDR aufgewachsen bin. Eine Figur wie Plenzdorf war ein Idol. In der 10.-Klasse-Deutschprüfung konnte ich nur durch die Nennung seines Namens meinen Direktor so verärgern, dass er die Note von 1 auf 2 herabstufte. (Von einer solchen Wirkung kann Botho Strauß nur träumen.) Jedes Christa-Wolf-Wort wurde auf die Goldwaage gelegt, und als von Günther de Bruyns „Neuer Herrlichkeit“ die erste Auflage eingestampft und die zweite Auflage in verminderter Stückzahl auf den Markt kam, dann rannte die halbe Republik, ein Exemplar zu ergattern. So berauschend war der Roman dann gar nicht – egal: Er war relevant.

Und wahrscheinlich schlummert ein Stückchen Sehnsucht nach dieser Relevanz in all den ostsozialisierten Autoren auch heute, ganz unabhängig davon, wie erfolgreich sie sind. Jedenfalls ist es bei mir so. Als ich einmal im Intercity einen Artikel von „unserem db-mobil-Autor Frank Schulz“ las, war ich erschüttert: Ich hatte den Mann für einen erfolgreichen Autor gehalten und daraus gefolgert, dass er von seinen Büchern leben kann.

Und nun erst die erfolglosen Schreiber, von denen ich einige kenne: Da gibt es eine Frau, die schreibt an ihrem vierten Gedichtband bei einem Bezahlverlag und lebt von Frührente und Grundsicherung, weil sie vor verletzten Stolz auch noch krank geworden ist. Ich kenne einen Mann, der sogar am Literaturinstitut in Leipzig studiert hat, aber seinen ersten Roman hat dann niemand rezensiert, er gibt Integrationskurse, wäre seine Frau nicht, müsste er die Kinder wohl auch von Hartz IV ernähren. Und nun lern ich einen Menschen kennen, der ebenfalls von Integrationskursen lebt, und schon beim zweiten Bier erzählt er mir, dass er seit zehn Jahren an einem Roman schreibt und dass er sich im Grunde als Schriftsteller sieht. Können Sie verstehen, dass ich zusammengezuckt bin wie Schneewittchens böse Königin vor dem Spiegel und nichts erwähnt habe von meinen Schreibversuchen? Es ist einfach zu peinlich.

Zum Glück hab ich meine Schublade und die heißt blogger.de. Da werde ich mein neuestes Werk reinstopfen.

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Samstag, 27. Oktober 2018
Flüchtigkeitsfehler
Ich war so stolz, dass ich sie alle so gut alphabetisiert habe, und jetzt, gestern, guckt ein Schüler mit entsetztem Blick aus dem Fenster.
Ich: "Was ist denn?"
Er: "Da draußen, da steht `'Kanacke'!"

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Mittwoch, 10. Oktober 2018
Sex und Zuckerrübensirup
Vielleicht ist das ein Grund, warum ich mich mit den aktiven, selbstbestimmten, direkten Frauen und den zugehörigen Männern, die auf unerschütterliche Weise auf dem Boden irgendwelcher Tatsachen (meist finanzieller Natur) stehen und entsprechend agieren, so schlecht verstehe (obwohl wir uns mitunter sogar mögen): Meine Sexualität tickt anders.

Eine dieser Frauen ist offenbar auch die Autorin des Romans, den ich gerade lese (und dessen rationale Seite mir außerordentlich gefällt). Sie zeichnet folgendes Negativbild schlechter Sexualität: „Unmaßgeblicher, bewährter Sex hat sich durch mein Leben gezogen wie Zuckerrübensirup, bis ich glaubte, so sei es eben, es müsse wohl so sein.“ Ein schöner Satz.

Nun, was mich betrifft: Ich liebe Zuckerrübensirup, habe ihn schon immer geliebt und esse ihn auch jetzt oft, nicht den dünnen, flüssigen von Gr***er, nein, den vom örtlichen Bio-Großbetrieb, der so schön süß, schwarz und zäh und klebrig ist. Macht schwerfällig und glücklich.

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Donnerstag, 13. September 2018
Die gute, alte Stasi-Manier
Als ich zwanzig war, ein Spätpubertierender, lag ich im Clinch mit meinem Vater, der berufliche Pläne für mich hatte, die mir nicht passten. Viele haben mich damals in meiner Suche nach einem eigenen Weg bestärkt und unterstützt. Inzwischen weiß ich – dank der Aktenoffenlegung – dass eine ganze Reihe von ihnen das in geheimdienstlichem Auftrag tat: Die Stasi wollte das Zerwürfnis zwischen mir und meinem Vater vergrößern, um dessen Ruf zu schädigen. „Zersetzung“ nannte sich das: Vornerum den wohlmeinenden Freund rauskehren, tatsächlich aber destabilisieren, zersetzen.

Oder – ebenfalls damals – der Stasi-Chef meiner Armee-Einheit: Er lud mich zu Gesprächen, in seiner Rolle als Polit-Chef (dass er auch Stasi-Offizier ist, ahnte ich in meiner Naivität nicht), markierte den väterlichen Staatsfunktionär, der die Irrwege des jungen Mannes versteht und ihn mit freundlichen Worten für die Sache des Staates zu gewinnen sucht. Gleichzeitig erwirkte er insgeheim ein Studienverbot für mich. Auch hier: Nach vorne die Maske des loyalen, ehrlichen Beamten, dahinter: die Intriganz des Geheimdienstlers.

So gesehen handelt doch Hans-Georg Maaßen hochprofessionell: Er sieht eine Schwäche beim Gegner, der Kanzlerin, die eine Medienübertreibung verbal aufgegriffen hat. Nun wäre es ja dumm von ihm, ehrlich, loyal zu sein, die Umstände durch sein Amt zu überprüfen (V-Leute vor Ort wird er ja wohl genug gehabt haben, wenn sich so viele Rechte zusammenrotten) und – wenn die Übertreibung nun wirklich unverhältnismäßig gewesen sein sollte - einen Bericht an seinen Innenminister zu verfassen.

Aber das hieße, eine Chance vorbeigehen zu lassen. Nein, Zersetzung geht anders: Er behauptet erstmal wieder besseren Wissens und möglichst volksnah öffentlich, also in der BILD-Zeitung, das sei alles eine Lüge – um beim Publikum das Narrativ von der Lügenpresse zu aktivieren. Wenn er so die größtmögliche Aufmerksamkeit und Aufregung erlangt hat, rudert er halb zurück: Er sei falsch verstanden worden und habe eigentlich „Übertreibung“ gemeint und nicht „Lüge“. Und lässt den korrekten Beamten raushängen, der sich von rechten Meinungsmachern distanziert. Das kann er jetzt ja auch ruhig tun – denn die übernehmen die Staffel und erledigen den Rest. Ziel erreicht: Zersetzung des Gegners.

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Montag, 10. September 2018
Eine Liebesbeziehung ...
... lebt auch davon, dass man sie schönredet, dass man Fehler im System verdrängt oder stillschweigend korrigiert, je nach Möglichkeit, und dass man das, was funktioniert, was beglückt, unentwegt feiert.
Das gilt natürlich auch umgekehrt, wie man derzeit auf dem Feld der Politik erleben kann: Wenn man Probleme nur jahrelang vehement genug herbeiredet, dann sind sie irgendwann auch da und werden bedrohlich. Man muss nur fest genug an sie glauben.

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