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Mittwoch, 24. Oktober 2012
Gedanken zum Tage – Wie viele Denkmäler brauchen wir, um alle NS-Opfer ordnungsgemäß abzudecken?
damals, 19:09h
Mein Thema heute: Heute wurde nahe beim Reichstag ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma enthüllt. Wie kam es dazu?
Nach der Wiedervereinigung musste das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in der Neuen Wache Unter den Linden neu gestaltet werden, um ihm den alten DDR-Geruch zu nehmen. Die Frage war, wer jetzt hier geehrt werden sollte. Kanzler Kohl schwebte vor, einfach alle Opfer „von Krieg und Gewaltherrschaft“ einbeziehen – das ist bequem, da kann sich jeder gemeint fühlen, denn schließlich ist jeder Täter (das kann ich aus eigener DDR-Erfahrung bestätigen) irgendwie auch Opfer gewesen (außer vielleicht Hitler himself, aber der hat ja mit dem Film-Monument „Der Untergang“ sein eigenes Denkmal gekriegt, Joachim Fest und Traudl Junge sei Dank).
Leider weigerten sich die Vertreter der Juden, mit gefallenen SS-Soldaten in einen Topf geworfen zu werden. Daher bekamen sie ein eigenes Denkmal, das Holocaust-Mahnmal. Und wenn die eine Ethnie eins kriegt, dann muss natürlich auch die andere eines bekommen. Also nun auch die Sinti und Roma. Damit bleibt man schön im völkischen Fahrwasser des Holocaust-Gedenkens, ohne doch dessen heilige Singularität zu leugnen. (Und das Denkmal darf auch ein israelischer Künstler entwerfen, schließlich sind die ganz großen Thälmann-und Leninköpfe damals in der DDR auch von sowjetischen Künstlern entworfen worden.)
Bleiben noch die Opfergruppen, die nicht im engeren Sinne Ethnien zu nennen sind. Glück gehabt haben die Schwulen, denn sie können den Homosexuellen zugerechnet werden, die zwar nicht in ihrer Gesamtheit verfolgt wurden, aber eine so prominente Lobbygruppe darstellen, dass man ihnen ein Denkmal im Tiergarten gebaut hat. Schwieriger wird’s schon mit den Asozialen. Wo soll deren Denkmal hin? Etwa nach Neukölln? Und wer soll es finanzieren? Die Arge?
Da ist es ja vergleichsweise mit den Kommunisten einfacher. Das entsprechende Denkmal könnte im Karl-Liebknecht-Haus stehen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert werden. Das Problem ist nur, dass viele Kommunisten schon als Juden repräsentiert sind und somit zweimal abgerechnet würden. Und Kommunisten gleich doppelt ehren - das geht ja nun gar nicht. Außerdem: Wenn sogar die Kommunisten dürfen, was ist dann mit Gewerkschaftlern, SPDlern und katholischen Priestern? Das waren zwar nicht so viele, aber auch ihre Lobbys sind vergleichbar stark wie die der Homosexuellen.
Also, ich glaube, wir müssen noch ein paar Denkmäler bauen, bis wir alle Grüppchen abgedeckt haben. Und alles nur, weil es ein Volk nicht schafft, seine eigene Gedenkstätte (die in der Neuen Wache) von Tätern freizuhalten, die dort nichts zu suchen haben.
Nach der Wiedervereinigung musste das Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in der Neuen Wache Unter den Linden neu gestaltet werden, um ihm den alten DDR-Geruch zu nehmen. Die Frage war, wer jetzt hier geehrt werden sollte. Kanzler Kohl schwebte vor, einfach alle Opfer „von Krieg und Gewaltherrschaft“ einbeziehen – das ist bequem, da kann sich jeder gemeint fühlen, denn schließlich ist jeder Täter (das kann ich aus eigener DDR-Erfahrung bestätigen) irgendwie auch Opfer gewesen (außer vielleicht Hitler himself, aber der hat ja mit dem Film-Monument „Der Untergang“ sein eigenes Denkmal gekriegt, Joachim Fest und Traudl Junge sei Dank).
Leider weigerten sich die Vertreter der Juden, mit gefallenen SS-Soldaten in einen Topf geworfen zu werden. Daher bekamen sie ein eigenes Denkmal, das Holocaust-Mahnmal. Und wenn die eine Ethnie eins kriegt, dann muss natürlich auch die andere eines bekommen. Also nun auch die Sinti und Roma. Damit bleibt man schön im völkischen Fahrwasser des Holocaust-Gedenkens, ohne doch dessen heilige Singularität zu leugnen. (Und das Denkmal darf auch ein israelischer Künstler entwerfen, schließlich sind die ganz großen Thälmann-und Leninköpfe damals in der DDR auch von sowjetischen Künstlern entworfen worden.)
Bleiben noch die Opfergruppen, die nicht im engeren Sinne Ethnien zu nennen sind. Glück gehabt haben die Schwulen, denn sie können den Homosexuellen zugerechnet werden, die zwar nicht in ihrer Gesamtheit verfolgt wurden, aber eine so prominente Lobbygruppe darstellen, dass man ihnen ein Denkmal im Tiergarten gebaut hat. Schwieriger wird’s schon mit den Asozialen. Wo soll deren Denkmal hin? Etwa nach Neukölln? Und wer soll es finanzieren? Die Arge?
Da ist es ja vergleichsweise mit den Kommunisten einfacher. Das entsprechende Denkmal könnte im Karl-Liebknecht-Haus stehen und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert werden. Das Problem ist nur, dass viele Kommunisten schon als Juden repräsentiert sind und somit zweimal abgerechnet würden. Und Kommunisten gleich doppelt ehren - das geht ja nun gar nicht. Außerdem: Wenn sogar die Kommunisten dürfen, was ist dann mit Gewerkschaftlern, SPDlern und katholischen Priestern? Das waren zwar nicht so viele, aber auch ihre Lobbys sind vergleichbar stark wie die der Homosexuellen.
Also, ich glaube, wir müssen noch ein paar Denkmäler bauen, bis wir alle Grüppchen abgedeckt haben. Und alles nur, weil es ein Volk nicht schafft, seine eigene Gedenkstätte (die in der Neuen Wache) von Tätern freizuhalten, die dort nichts zu suchen haben.
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Dienstag, 16. Oktober 2012
Die Unfähigkeit zu trauern (Topographie des Terrors)
damals, 02:01h
Don Alphonso würde es vermutlich nicht verstehen – aber wir haben unsere Herbstferien für einen Berlin-Aufenthalt verwendet: mal ein par Tage weitgehend verwandtschaftsfrei in der alten Heimat. Jeder hatte da so seine Traumziele: Meine Frau erkundete Wald- und Uferwege bei Kohlhasenbrück, mein Sohn wollte unbedingt ins Legoland Berlin am Potsdamer Platz, und ich war schon lange neugierig auf die „Topographie des Terrors“, die Gedenkstätte an der berüchtigten Prinz-Albrecht-Straße, wo früher die Gestapo saß.
Tja, was soll ich sagen? Recherchieren, Wissenschaft, differenzierte Darstellung – das können sie, die Deutschen, aber trauern, gedenken, alles, was mit Gefühl, mit Würde oder gar Kunst und Schönheit zu tun hat – da ist wohl tote Hose. Ich wanderte zwischen lauter Ausländern über dieses leere Gedächtnisfeld und fühlte mich seltsam unzugehörig zu dem Volk, das sich solch einen sterilen Erinnerungsort schafft.
Was die Inhalte der Ausstellung betraf, da gab es wie gesagt nichts zu meckern, das war alles ausgewogen präsentiert, alles Wichtige klar dargestellt und mit eindringlichen und gut ausgewählten Beispielen untermauert. Nur ist das Ganze ja kein historisches Museum, sondern eine Gedenkstätte.
Es ist doch der Ort, wo Gestapo und SS ihr Hauptquartier hatten, der Schreckensort, wo die Aufmüpfigen eingeliefert, wo sie verhört, gefoltert, auch getötet wurden – da kann man doch nicht nur abgeklärt und ausgewogen darstellen! Vor allem darf man nicht das ganze Areal einfach kalt mit Schotter abdecken und in die Mitte ein Dokumentationszentrum aus grauem Stahlblech setzen. Hat man aber. Und wo in den achtziger Jahren eine Bürgerinitiative die Gefängniszellen ausgrub, da hat man alles mit Sand abgedeckt, um das „Bodendenkmal“ zu schützen. Korrekt, aber nicht sehr souverän.
Zu dieser aufgeräumten, emotionslosen Gedenkinszenierung gehört als Gegenstück, dass der hintere Teil der historischen Anlage, der Garten des Prinz-Albrecht-Palais‘, weil man ihn nicht auch noch mit Steinen planieren wollte, einfach so bleibt, wie man ihn vorgefunden hat: Wildwuchs breitet sich aus, die asphaltierten Reste eines Fahrschulplatzes aus den achtziger Jahren bröckeln vor sich hin, Schutthaufen und Mauerreste aus Kriegstagen werden von Unkraut überwuchert, irgendwo dazwischen erinnert verschämt eine Tafel an die Bauleute, die den vorderen Teil geschottert haben. Nicht sehr würdig.
Eine Geste des Gedenkens, eine vielleicht kitschige Verbeugung vor den Opfern – ist das zu viel verlangt?
Ich denke z. B. an Will Lammerts Ravensbrück-Denkmal: die Figur, die den Deutschen am anderen Seeufer (die das KZ natürlich gesehen haben, sehen mussten) ein zusammengebrochenes Opfer mahnend entgegenhält. Man mag dies und jenes denken über die Verlogenheit des ostdeutschen Antifaschismus – diese Geste ist echt. Und vor allem: Sie wurde gemacht. Die Topographie des Terrors bleibt dagegen auf der Gefühlsebene sprachlos.
Tja, was soll ich sagen? Recherchieren, Wissenschaft, differenzierte Darstellung – das können sie, die Deutschen, aber trauern, gedenken, alles, was mit Gefühl, mit Würde oder gar Kunst und Schönheit zu tun hat – da ist wohl tote Hose. Ich wanderte zwischen lauter Ausländern über dieses leere Gedächtnisfeld und fühlte mich seltsam unzugehörig zu dem Volk, das sich solch einen sterilen Erinnerungsort schafft.
Was die Inhalte der Ausstellung betraf, da gab es wie gesagt nichts zu meckern, das war alles ausgewogen präsentiert, alles Wichtige klar dargestellt und mit eindringlichen und gut ausgewählten Beispielen untermauert. Nur ist das Ganze ja kein historisches Museum, sondern eine Gedenkstätte.
Es ist doch der Ort, wo Gestapo und SS ihr Hauptquartier hatten, der Schreckensort, wo die Aufmüpfigen eingeliefert, wo sie verhört, gefoltert, auch getötet wurden – da kann man doch nicht nur abgeklärt und ausgewogen darstellen! Vor allem darf man nicht das ganze Areal einfach kalt mit Schotter abdecken und in die Mitte ein Dokumentationszentrum aus grauem Stahlblech setzen. Hat man aber. Und wo in den achtziger Jahren eine Bürgerinitiative die Gefängniszellen ausgrub, da hat man alles mit Sand abgedeckt, um das „Bodendenkmal“ zu schützen. Korrekt, aber nicht sehr souverän.
Zu dieser aufgeräumten, emotionslosen Gedenkinszenierung gehört als Gegenstück, dass der hintere Teil der historischen Anlage, der Garten des Prinz-Albrecht-Palais‘, weil man ihn nicht auch noch mit Steinen planieren wollte, einfach so bleibt, wie man ihn vorgefunden hat: Wildwuchs breitet sich aus, die asphaltierten Reste eines Fahrschulplatzes aus den achtziger Jahren bröckeln vor sich hin, Schutthaufen und Mauerreste aus Kriegstagen werden von Unkraut überwuchert, irgendwo dazwischen erinnert verschämt eine Tafel an die Bauleute, die den vorderen Teil geschottert haben. Nicht sehr würdig.
Eine Geste des Gedenkens, eine vielleicht kitschige Verbeugung vor den Opfern – ist das zu viel verlangt?
Ich denke z. B. an Will Lammerts Ravensbrück-Denkmal: die Figur, die den Deutschen am anderen Seeufer (die das KZ natürlich gesehen haben, sehen mussten) ein zusammengebrochenes Opfer mahnend entgegenhält. Man mag dies und jenes denken über die Verlogenheit des ostdeutschen Antifaschismus – diese Geste ist echt. Und vor allem: Sie wurde gemacht. Die Topographie des Terrors bleibt dagegen auf der Gefühlsebene sprachlos.
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Samstag, 6. Oktober 2012
Unabhängiger Journalismus
damals, 14:02h
Bild, Welt und Hamburger Abendblatt haben durch intensive Recherche ermittelt, dass Peer Steinbrück, der Kanzlerkandidat der SPD, seine Prominenz genutzt hat, um vor Bankern und anderen reichen Leuten für viel Geld Vorträge zu halten. Was für eine Überraschung! Als sich kürzlich Joachim Gauck, der Präsidentschaftskandidat der Union, genauso verhielt, ist ihnen das nicht aufgefallen, da hieß es nur "reisender Demokratielehrer".
Na, und wenn Springer so plumpe Lobby-Politik betreiben darf, dann dürfen das – in entsprechend geringerem Umfang – die anderen auch: Neulich las ich in der taz, dass der Führungswechsel an der Spitze des Verfassungsschutzes völlig in Ordnung sei, nur eben nicht ausreichend, da man außerdem auch zivilgesellschaftliche Anti-Nazi-Organisationen besser finanzieren sollte. Soll heißen: Gar nicht so schlimm, wenn Scharfmacher an der Spitze die Richtung vorgeben – Hauptsache, unsere Kumpels an der Basis kriegen auch ein paar Bröckchen ab vom Kuchen.
-
Ja, ich weiß, der Vergleich mit Gauck hinkt ein bisschen:Gauck verdiente sich damit seinen Lebnsunterhalt, während Steinbrück ja durch staatliche Pensionen genügend abgesichert ist und sich nur ein schönes Zubrot verdiente. Aber er spielt ja auch eine Liga höher: Er will Bundeskanzler werden, nicht nur Bundespräsident.
Na, und wenn Springer so plumpe Lobby-Politik betreiben darf, dann dürfen das – in entsprechend geringerem Umfang – die anderen auch: Neulich las ich in der taz, dass der Führungswechsel an der Spitze des Verfassungsschutzes völlig in Ordnung sei, nur eben nicht ausreichend, da man außerdem auch zivilgesellschaftliche Anti-Nazi-Organisationen besser finanzieren sollte. Soll heißen: Gar nicht so schlimm, wenn Scharfmacher an der Spitze die Richtung vorgeben – Hauptsache, unsere Kumpels an der Basis kriegen auch ein paar Bröckchen ab vom Kuchen.
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Ja, ich weiß, der Vergleich mit Gauck hinkt ein bisschen:Gauck verdiente sich damit seinen Lebnsunterhalt, während Steinbrück ja durch staatliche Pensionen genügend abgesichert ist und sich nur ein schönes Zubrot verdiente. Aber er spielt ja auch eine Liga höher: Er will Bundeskanzler werden, nicht nur Bundespräsident.
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Donnerstag, 13. September 2012
Geld macht nicht glücklich
damals, 01:53h
Ich gebe zu, dass ich auch zu den Menschen gehöre, die manchmal im Netz nachschnüffeln, was so aus den Leuten und insbesondere den Frauen geworden ist, die realiter längst aus meinem Leben verschwunden sind. Die sind ja alle irgendwo verzeichnet, oft sogar mit Foto. Heute traf ich auf ein Zeitungsfoto, das X. darstellt. Vor gut zwanzig Jahren knisterte es gewaltig zwischen uns, sie war ein phantastisches, wunderbar ungelenkes Luftwesen; meine Neigung zu Ironie, Dekadenz, Katholizismus und Helge Schneider verdanke ich im Wesentlichen ihr. Na, aber jetzt scheint sie nun wohl doch noch eine ganz normale Gymnasiallehrerstelle abgestaubt zu haben, irgendwo in der Uckermark. Jedenfalls sieht man sie auf dem Zeitungsfoto skeptischen Blicks vor einer Backsteinkirche stehen, immer noch zart und unelegant, und vor sich eine Horde blühend pubertärer Dorfgesichter. Ein trauriges Foto.
Wie anders dagegen Y., deren Foto ich vor einigen Monaten begegnete! Y. war damals die Schönste von den linken Asta-Leuten, hatte wild wehende, rotblonde Locken und ein rundes, rosiges Gesicht. Sie bewegt sich offenbar noch immer in solchen linken Projekt-Kreisen, in einer westdeutschen Großstadt, hat zwei Bücher geschrieben, deren Titel interessant klingen, die aber in Winkelverlagen erschienen sind. Das Netz verzeichnet auch ihre berufliche Position, von der offensichtlich ist, dass sie kaum Geld einbringen kann. Auf dem Foto sieht man sie mit lokalen Honoratioren in einer Ausstellung, älter geworden, mit Hennahaaren und Hosenanzug, zugewandt, freundlich, heiter gelassen ins Gespräch vertieft. Beneidenswert.
Genauso Z. Als wir uns kannten, war sie noch halb die brave, hübsche Schuldirektorstochter, in den Wirren der Wendezeit begeisterte sie sich für Esoterik, bald darauf verschwand sie für ein Jahr in die Toscana. Jetzt arbeitet sie wohl in einem Kulturprojekt für Jugendliche im Brandenburgischen, das keinen sehr gut finanzierten Eindruck macht. Anlässlich eines Zeitungsartikels über benachteiligte Jugendliche, mit denen sie arbeitet, sieht man sie auf dem Foto in einem Garten voller wucherndem Grün sitzen, in Jeans, mit hochgestecktem Haar, lachend, cool und entspannt.
Während N.N. immer noch völlig verspannt ist. Sie zählt zwar nicht zu den Frauen, an denen ich ein erotisches Interesse hatte, aber wir haben uns sehr gut verstanden, damals, als wir zur gleichen Zeit an benachbarten Fachbereichen promovierten und einiges zusammen unternahmen. Über gemeinsame Bekannte weiß ich, dass sie nach der Dr.-Arbeit eine Archivarsausbildung gemacht hat und inzwischen verbeamtet ist. Das Internet nennt etliche Veröffentlichungen und Vorträge von ihr. Und ein Foto zeigt sie in einem Archivkeller, wie sie mit einem Regionalpolitiker hinter einem metallenen Aktenschrank hervorkommt: kalt von Neonlicht beleuchtet, schick und korrekt gekleidet, mit verbissenem Gesichtsausdruck.
Die Beispiele mögen jetzt zufällig sein, aber ich hab sie so erlebt. Und mir drängt sich der Verdacht auf, dass die allseits begehrten Staatsstellen auch nicht so glücklich machen, wie allgemein angenommen.
Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vor allem für X. wünsche ich, dass ich mich täusche.
Wie anders dagegen Y., deren Foto ich vor einigen Monaten begegnete! Y. war damals die Schönste von den linken Asta-Leuten, hatte wild wehende, rotblonde Locken und ein rundes, rosiges Gesicht. Sie bewegt sich offenbar noch immer in solchen linken Projekt-Kreisen, in einer westdeutschen Großstadt, hat zwei Bücher geschrieben, deren Titel interessant klingen, die aber in Winkelverlagen erschienen sind. Das Netz verzeichnet auch ihre berufliche Position, von der offensichtlich ist, dass sie kaum Geld einbringen kann. Auf dem Foto sieht man sie mit lokalen Honoratioren in einer Ausstellung, älter geworden, mit Hennahaaren und Hosenanzug, zugewandt, freundlich, heiter gelassen ins Gespräch vertieft. Beneidenswert.
Genauso Z. Als wir uns kannten, war sie noch halb die brave, hübsche Schuldirektorstochter, in den Wirren der Wendezeit begeisterte sie sich für Esoterik, bald darauf verschwand sie für ein Jahr in die Toscana. Jetzt arbeitet sie wohl in einem Kulturprojekt für Jugendliche im Brandenburgischen, das keinen sehr gut finanzierten Eindruck macht. Anlässlich eines Zeitungsartikels über benachteiligte Jugendliche, mit denen sie arbeitet, sieht man sie auf dem Foto in einem Garten voller wucherndem Grün sitzen, in Jeans, mit hochgestecktem Haar, lachend, cool und entspannt.
Während N.N. immer noch völlig verspannt ist. Sie zählt zwar nicht zu den Frauen, an denen ich ein erotisches Interesse hatte, aber wir haben uns sehr gut verstanden, damals, als wir zur gleichen Zeit an benachbarten Fachbereichen promovierten und einiges zusammen unternahmen. Über gemeinsame Bekannte weiß ich, dass sie nach der Dr.-Arbeit eine Archivarsausbildung gemacht hat und inzwischen verbeamtet ist. Das Internet nennt etliche Veröffentlichungen und Vorträge von ihr. Und ein Foto zeigt sie in einem Archivkeller, wie sie mit einem Regionalpolitiker hinter einem metallenen Aktenschrank hervorkommt: kalt von Neonlicht beleuchtet, schick und korrekt gekleidet, mit verbissenem Gesichtsausdruck.
Die Beispiele mögen jetzt zufällig sein, aber ich hab sie so erlebt. Und mir drängt sich der Verdacht auf, dass die allseits begehrten Staatsstellen auch nicht so glücklich machen, wie allgemein angenommen.
Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vor allem für X. wünsche ich, dass ich mich täusche.
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Sonntag, 2. September 2012
Endlich gesehen: „Das weiße Band“
damals, 14:24h
Nun habe ich mich doch noch überreden lassen, „Das weiße Band“ zu sehen. Jetzt kann ich mich nicht mehr vor der Tatsache verschließen, dass der Film gut ist, jedenfalls qualitativ: Er funktioniert als Film, reißt den Zuschauer mit und ist in sich stimmig bis ins letzte Detail. Und als ostdeutscher Bildungsbürger hatte ich auch kein Problem mit der übermetaphorisierten, überstilisierten Bildsprache. Das kann man machen. Warum nicht?
Und Haneke macht es, in einer atemberaubenden Konsequenz und Gnadenlosigkeit. Er führt den Zuschauer in ein norddeutsches Dorf der Zeit um 1900, das er samt menschlichem Inventar so korrekt und exakt ausstaffiert, dass es einem kalt den Rücken runterläuft: kein Stäubchen in den Bauernstuben, nicht das kleinste Unkraut auf der Dorfstraße - unsere hiesigen Museumsdörfer sind das blühende Leben im Vergleich dazu. Schon in den neunziger Jahren hat ja Haneke Kafkas herrlichen Roman „Das Schloss“ so steif und humorlos verfilmt, dass ich mir das damals im Fernsehen nicht zuende angeguckt habe. Daran knüpft er jetzt an.
Wieder ist es also ein ideal unterdrücktes Dorf, dessen männliche Repräsentanten ein brutales autoritäres Regiment aufrechterhalten. Nur gibt es diesmal Widerstand, und der ist das Thema des Films. Immer wieder geschehen Racheakte aus dem Untergrund, deren Brutalität der der offiziellen Unterdrücker in nichts nachsteht. Leider erschöpft sich darin auch schon die Logik des Films. Unterdrückte dürfen bei Haneke demütig erdulden oder irrational aufbegehren. Andere Lebensregungen sind nicht vorgesehen.
Und weil die Unterdrückten so eindimensional dargestellt werden, fühlt der Zuschauer auch nicht mit ihnen. Was dagegen subtil inszeniert wird, das ist die Angst der Herrschenden vor einer möglichen Renitenz der Untertanen. Im Zentrum des Films steht der Dorfpfarrer, der von Anfang an ahnt, dass seine Kinder zu den Tätern gehören. Auch der Zuschauer weiß es am Anfang noch nicht, sondern ahnt es nur. Er fühlt das Grauen des Pfarrers mit, er stellt sich dessen bange Frage: Können Kinder so grausam sein? Und er wird am Ende natürlich bestätigt.
Das letzte, schlimmste Attentat der Kinder zielt übrigens nicht auf einen Täter, sondern auf ein Opfer: Ein behindertes Kind, Kalli, wird halt tot geschlagen, weil es unehelich ist und den Tätern somit als ein Symbol der Verkommenheit des Systems gilt, so jedenfalls verkündet es das Bekennerschreiben. Spätestens hier muss man an die Nazis denken (wie es viele Kritiker ja auch getan haben), an die Euthanasie oder an die Beweggründe der NSU-Täter. „Die Pfarrerstochter sieht doch schon aus wie so eine KZ-Aufseherin.“, meinte Mitgucker T. ganz richtig.
Und da hört sich für mich alles auf: Der Pfarrer-Patriarch hat also nach der Logik des Films eigentlich Recht (auch wenn er ideologisch irregeleitete Maßnahmen ergreift). Die vornehmlich weibliche leidende Bevölkerung (für die wieder Susanne Lothar ihre Kulleraugen hinhalten muss) ist im Grunde verachtenswert. Der vitale Widerstand der Kinder nötigt uns dagegen Respekt ab, führt aber in unkontrollierten Naziterror, einen Terror, der am Ende ungesühnt bleiben muss, weil sonst das System ins Wanken käme.
Damit folgt der Film einer konservativen, letztendlich menschenverachtenden Herrschaftslogik. Natürlich kann man so denken. Man kann auch bombenbastelnde V-Leute bezahlen, um den irrationalen Terror der Jugend wieder ins patriarchale System einzubauen.
Ich halte es für ein schlimmes Zeichen, dass „Das weiße Band“ den Deutschen Filmpreis 2009 ausgerechnet gegen „Alle anderen“ gewonnen hat. Auch „Alle anderen“ thematisiert die Unentrinnbarkeit des patriarchalen Systems. Aber er zeigt, wie individuelle Menschen darin einen gangbaren Weg suchen, vielleicht scheitern, vielleicht fündig werden, das ist gar nicht der Punkt. Wenn diese Suche überhaupt aussichtslos ist, wie „Das weiße Band“ behauptet, dann ... ja, dann hätte man ja nur die Wahl zwischen NSU oder CDU. Und so trostlos ist Deutschland nun auch wieder nicht. Und auch nie gewesen.
Und Haneke macht es, in einer atemberaubenden Konsequenz und Gnadenlosigkeit. Er führt den Zuschauer in ein norddeutsches Dorf der Zeit um 1900, das er samt menschlichem Inventar so korrekt und exakt ausstaffiert, dass es einem kalt den Rücken runterläuft: kein Stäubchen in den Bauernstuben, nicht das kleinste Unkraut auf der Dorfstraße - unsere hiesigen Museumsdörfer sind das blühende Leben im Vergleich dazu. Schon in den neunziger Jahren hat ja Haneke Kafkas herrlichen Roman „Das Schloss“ so steif und humorlos verfilmt, dass ich mir das damals im Fernsehen nicht zuende angeguckt habe. Daran knüpft er jetzt an.
Wieder ist es also ein ideal unterdrücktes Dorf, dessen männliche Repräsentanten ein brutales autoritäres Regiment aufrechterhalten. Nur gibt es diesmal Widerstand, und der ist das Thema des Films. Immer wieder geschehen Racheakte aus dem Untergrund, deren Brutalität der der offiziellen Unterdrücker in nichts nachsteht. Leider erschöpft sich darin auch schon die Logik des Films. Unterdrückte dürfen bei Haneke demütig erdulden oder irrational aufbegehren. Andere Lebensregungen sind nicht vorgesehen.
Und weil die Unterdrückten so eindimensional dargestellt werden, fühlt der Zuschauer auch nicht mit ihnen. Was dagegen subtil inszeniert wird, das ist die Angst der Herrschenden vor einer möglichen Renitenz der Untertanen. Im Zentrum des Films steht der Dorfpfarrer, der von Anfang an ahnt, dass seine Kinder zu den Tätern gehören. Auch der Zuschauer weiß es am Anfang noch nicht, sondern ahnt es nur. Er fühlt das Grauen des Pfarrers mit, er stellt sich dessen bange Frage: Können Kinder so grausam sein? Und er wird am Ende natürlich bestätigt.
Das letzte, schlimmste Attentat der Kinder zielt übrigens nicht auf einen Täter, sondern auf ein Opfer: Ein behindertes Kind, Kalli, wird halt tot geschlagen, weil es unehelich ist und den Tätern somit als ein Symbol der Verkommenheit des Systems gilt, so jedenfalls verkündet es das Bekennerschreiben. Spätestens hier muss man an die Nazis denken (wie es viele Kritiker ja auch getan haben), an die Euthanasie oder an die Beweggründe der NSU-Täter. „Die Pfarrerstochter sieht doch schon aus wie so eine KZ-Aufseherin.“, meinte Mitgucker T. ganz richtig.
Und da hört sich für mich alles auf: Der Pfarrer-Patriarch hat also nach der Logik des Films eigentlich Recht (auch wenn er ideologisch irregeleitete Maßnahmen ergreift). Die vornehmlich weibliche leidende Bevölkerung (für die wieder Susanne Lothar ihre Kulleraugen hinhalten muss) ist im Grunde verachtenswert. Der vitale Widerstand der Kinder nötigt uns dagegen Respekt ab, führt aber in unkontrollierten Naziterror, einen Terror, der am Ende ungesühnt bleiben muss, weil sonst das System ins Wanken käme.
Damit folgt der Film einer konservativen, letztendlich menschenverachtenden Herrschaftslogik. Natürlich kann man so denken. Man kann auch bombenbastelnde V-Leute bezahlen, um den irrationalen Terror der Jugend wieder ins patriarchale System einzubauen.
Ich halte es für ein schlimmes Zeichen, dass „Das weiße Band“ den Deutschen Filmpreis 2009 ausgerechnet gegen „Alle anderen“ gewonnen hat. Auch „Alle anderen“ thematisiert die Unentrinnbarkeit des patriarchalen Systems. Aber er zeigt, wie individuelle Menschen darin einen gangbaren Weg suchen, vielleicht scheitern, vielleicht fündig werden, das ist gar nicht der Punkt. Wenn diese Suche überhaupt aussichtslos ist, wie „Das weiße Band“ behauptet, dann ... ja, dann hätte man ja nur die Wahl zwischen NSU oder CDU. Und so trostlos ist Deutschland nun auch wieder nicht. Und auch nie gewesen.
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Freitag, 10. August 2012
Bahnbrechende Forschungsergebnisse
damals, 18:00h
Es mag ja Neid mitsprechen auf Leute, die sich den lieben langen Tag in geistigen Welten aufhalten dürfen, statt in den Niederungen des wirklichen Lebens herumzukrebsen. Aber manchmal kann man sich ein Schmunzeln über die Erkenntnisse der Wissenschaft doch nicht verkneifen.
Gestern Abend kam auf phoenix noch ein Film, dessen Titel spannend klang: „Die Heilkraft des inneren Arztes“. Aber schon die superbunte, aussagelose 3D-Animation des menschlichen Körpers im Vorspann hätte mich stutzig machen sollen. Und tatsächlich blieb es auch so banal.
Da hat sich also eine völlig neue Art und Weise der Medizin herausgebildet, die „Body-mind-Medizin“. Ihr Ansatz ist angeblich „einzigartig in Europa“ (O-Ton im Off-Kommentar) und kreist um die Erkenntnis, dass es sinnvoll sein kann, wenn man den Körper und die Seele betreffende Behandlungen kombiniert, da so die Selbstheilungskräfte des Menschen gestärkt werden, etwa bei Burn-Out und Rückenproblemen. Und dass es durchaus erlaubt ist, auch mit Meditation zu arbeiten, wenn man sie nur „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ nennt, damit einem nicht der Vorwurf der Esoterik gemacht werden kann.
In Amerika ist man natürlich längst noch weiter: An der Harvard University in Boston kann man solcherlei Gemeinplätze inzwischen auch mit komplizierten Geräten richtig wissenschaftlich nachmessen. Eine junge Forscherin aus Deutschland hat dort „Erstaunliches“ entdeckt: Schon nach wenigen Wochen regelmäßiger Meditation setzt in besonders stressanfälligen Hirnarealen tatsächlich eine messbare Besserung ein. Na, wer hätte das gedacht?!
Ich hab an der Stelle den Fernseher ausgemacht – und frage mich, was Menschen, die so etwas für erstaunlich halten, denn so vorher geglaubt haben.
Gestern Abend kam auf phoenix noch ein Film, dessen Titel spannend klang: „Die Heilkraft des inneren Arztes“. Aber schon die superbunte, aussagelose 3D-Animation des menschlichen Körpers im Vorspann hätte mich stutzig machen sollen. Und tatsächlich blieb es auch so banal.
Da hat sich also eine völlig neue Art und Weise der Medizin herausgebildet, die „Body-mind-Medizin“. Ihr Ansatz ist angeblich „einzigartig in Europa“ (O-Ton im Off-Kommentar) und kreist um die Erkenntnis, dass es sinnvoll sein kann, wenn man den Körper und die Seele betreffende Behandlungen kombiniert, da so die Selbstheilungskräfte des Menschen gestärkt werden, etwa bei Burn-Out und Rückenproblemen. Und dass es durchaus erlaubt ist, auch mit Meditation zu arbeiten, wenn man sie nur „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ nennt, damit einem nicht der Vorwurf der Esoterik gemacht werden kann.
In Amerika ist man natürlich längst noch weiter: An der Harvard University in Boston kann man solcherlei Gemeinplätze inzwischen auch mit komplizierten Geräten richtig wissenschaftlich nachmessen. Eine junge Forscherin aus Deutschland hat dort „Erstaunliches“ entdeckt: Schon nach wenigen Wochen regelmäßiger Meditation setzt in besonders stressanfälligen Hirnarealen tatsächlich eine messbare Besserung ein. Na, wer hätte das gedacht?!
Ich hab an der Stelle den Fernseher ausgemacht – und frage mich, was Menschen, die so etwas für erstaunlich halten, denn so vorher geglaubt haben.
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Dienstag, 7. August 2012
Vorurteile am ersten Schultag
damals, 00:19h
Heimweg nach dem ersten Schultag. Mein Sohn erzählt: „Wir haben einen neuen Schüler in der Klasse. Er heißt Paul. Ich glaube, seine Eltern kommen aus einem anderen Land oder Bundesland. Er spricht so komisch.“
Ich: „Also, wenn er Paul heißt, kommt er wohl eher aus einem anderen Bundesland. Vielleicht Sachsen oder Bayern?“
Er: „Aber vielleicht kommt ja nur einer von seinen Eltern aus einem anderen Land, und er spricht deshalb so.“
Ich: „Dann würde er sicher akzentfrei Deutsch sprechen. Denk doch z.B. an R.!“
Er: „Ja, aber das muss nicht so sein. Bei S. z.B. hört man auch was, obwohl nur die Mutter ... ach nee, stimmt ja, der Vater ist ja, glaub ich, auch Türke. Aber was ist mit N.?“
Ich: „Na, der ist doch ein gutes Beispiel! Der spricht doch genau wie du oder ich.“
Mein Sohn: „Ja, aber seine beiden Eltern sind Argentinier.“
Ich: „Okay, ein Punkt für dich.“
Kurz: Wir haben die Frage nicht klären können, weshalb nun manche Kinder komisch sprechen und andere nicht. Jedenfalls haben mir meine Vorurteile über Sachsen, Bayern, Türken sowie hochdeutsch sprechende Ehepartner auch nicht weitergeholfen. Vielleicht kommt ja Paul auch aus Österreich, dann würde die These meines Sohnes über das fremde Land ja stimmen. Paul jedenfalls findet er netter als den neulich in die Klasse gekommenen Skandinavier. Die Welt ist eben bunter geworden und die nationale Herkunft nebensächlicher – ganz im Gegensatz zur sozialen ... aber davon später mehr, sofern ich in den nächsten Wochen überhaupt zum Bloggen komme, mein Zeitplan ist grade wieder hoffnungslos überfrachtet ...
Ich: „Also, wenn er Paul heißt, kommt er wohl eher aus einem anderen Bundesland. Vielleicht Sachsen oder Bayern?“
Er: „Aber vielleicht kommt ja nur einer von seinen Eltern aus einem anderen Land, und er spricht deshalb so.“
Ich: „Dann würde er sicher akzentfrei Deutsch sprechen. Denk doch z.B. an R.!“
Er: „Ja, aber das muss nicht so sein. Bei S. z.B. hört man auch was, obwohl nur die Mutter ... ach nee, stimmt ja, der Vater ist ja, glaub ich, auch Türke. Aber was ist mit N.?“
Ich: „Na, der ist doch ein gutes Beispiel! Der spricht doch genau wie du oder ich.“
Mein Sohn: „Ja, aber seine beiden Eltern sind Argentinier.“
Ich: „Okay, ein Punkt für dich.“
Kurz: Wir haben die Frage nicht klären können, weshalb nun manche Kinder komisch sprechen und andere nicht. Jedenfalls haben mir meine Vorurteile über Sachsen, Bayern, Türken sowie hochdeutsch sprechende Ehepartner auch nicht weitergeholfen. Vielleicht kommt ja Paul auch aus Österreich, dann würde die These meines Sohnes über das fremde Land ja stimmen. Paul jedenfalls findet er netter als den neulich in die Klasse gekommenen Skandinavier. Die Welt ist eben bunter geworden und die nationale Herkunft nebensächlicher – ganz im Gegensatz zur sozialen ... aber davon später mehr, sofern ich in den nächsten Wochen überhaupt zum Bloggen komme, mein Zeitplan ist grade wieder hoffnungslos überfrachtet ...
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Sonntag, 1. Juli 2012
Wie ich von Auschwitz erfuhr
damals, 19:58h
Heute mal ein Gast-Beitrag in meinem Blog: Ich berede meinen Vater (genauso wie meine Mutter) ja immer, dass es Zeit ist, mal biografische Erinnerungen aufzuschreiben, immer diese wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Spezialthemen in Fachorganen oder an Winkeldruckorten, das kanns doch auch nicht sein am Lebensende. Hier also eine erste Lieferung von meinem Papa:
Wie ich von Auschwitz erfuhr
Drei Gelehrte, ernst und hager Planer der Vergasungslager Fordern auch für die Chemie Freiheit und Democracy. (1)
Für die Bombenflieger des 1. Weltkrieges war Leuna nicht zu erreichen gewesen. Das sollte auch für die ersten Jahre des zweiten großen Krieges noch so gelten. Um 1940 war eine erste einsame Bombe gefallen, deren Trichter im Garten eines Siedlungshauses als sensationelles Ereignis angestaunt wurde. Aber man konnte ahnen, dass es nicht dabei bleiben würde. Es erging Anweisung, die Keller der Wohngebäude durch Absteifungen zu ertüchtigen und mit Notbetten und anderem Inventar als Schutz- und Aufenthaltsräume einzurichten. Auch wurde ein erster kommunaler Luftschutzbunker gebaut, noch in den gefälligen Formen eines besseren Lagerhauses, aber, wie sich bald zeigen sollte, nicht ausreichend vor den immer schwerer werdenden Bomben schützend. Nach ihm entstanden in der Wohnsiedlung des Werkes gewaltige viergeschossige Betonklötze mit meterdicken Decken und Wänden aus armiertem Beton; einer davon in unserer Nähe neben dem Bahnhof Leuna der Merseburg-Leipziger Bahnlinie. Von den Bauarbeiten ist mir der Name Philipp Holzmann auf den Schal-und Rüstbrettern als maßgebende Baufirma in Erinnerung geblieben. Im Verlauf der 40er Jahre (2) begannen dann unsere regelmäßigen Nachtwanderungen, um nach dem Ertönen der Alarmsirenen in diesem Bunker Schutz zu suchen. Denn dem eigenen Keller zu trauen, hatten wir längst aufgegeben, nachdem wir bei einem Tagesangriff durch den Druck der fallenden Luftminen mitsamt unseren Kohlen- und sonstigen Vorräten um einander gewirbelt worden waren. Umso mehr war ich erstaunt, als meine Eltern mir eines Abends ankündigten, daß wir in der nächsten Nacht bei Alarm nicht in den Bunker ziehen wollten, sondern in den Hauskeller zu unseren Nachbarn gehen würden Als der erwartete Alarm kam, klingelten wir also bei unseren Nachbarn und suchte^ gemeinsam mit ihnen deren Keller auf. Dort erfuhr ich auch den Grund für diesen ungewöhnlichen Entschluß: Bei den Nachbarn war ein junger Verwandter zu Besuch, der seit seiner Tätigkeit in den Leuna-Werken bei ihnen lebte, vor einiger Zeit aber zum Aufbau einer neuen Produktion nach Polen geschickt worden war. Die Nachbarn hatten meine EHern zu seinem Bericht über die dortigen Erlebnisse eingeladen.
Auch im Keller des Nachbarhauses gab es diese zweistöckigen Luftschutzbetten -ajso wurde ich als damals Zehnjähriger in ein oberes Bett geschickt mit der Aufforderung, weiter zu schlafen solange der Alarm andauert. Da meine ältere Schwester längst zwangsverpflichtet war, in einer Scheinwerferbatterie im Ruhrgebiet Kriegsdienst zu leisten, waren meine Eltern und die Nachbarsleute unter sich, und der nächtliche Fliegeralarm bot ihnen Gelegenheit zu offener Rede. Ich schlief natürlich nicht, denn es war so ungeheuerlich, was ich da zu hören bekam - aber gewiss nicht hören sollte Der Verwandte der Nachbarn, als Verfahrenstechniker in Leuna wegen seiner herausgehobenen Position vom Militärdienst freigestellt, war^ zum Aufbau einer neuen Produktionsanlage im Osten abkommandiert worden. Er berichtete, daß in Birkenau in Polen als Ausgleich für die im Rheinland stark bombardierten Chemischen Werke Hüls ein neues Buna-Werk für die Herstellung von künstlichem Gummi entstanden ist und zugleich daneben bei laufendem Betrieb von Leuna aus ein Destillierwerk zur Kohleverflüssigung für die Benzinproduktion aufgebaut wurde. Nach seiner Kenntnis war die Gegend um Birkenau von den Experten der IG Farben nicht nur wegen ihrer Lage außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberflotten ausgewählt worden, sondern ebenso wegen der reichen Vorkommen wichtigster Grundstoffe für die geplanten Produkte: oberschlesische Kohle und Kalk aus den Beskiden sowie Kühlwassers aus den Weichsel-Nebenflüssen als Voraussetzung der chemischem Prozesse. Vor allem aber war es den Oberen von IG Farben gelungen, einen Überfluß an beliebig verfügbaren Arbeitskräften zu organisieren. Dazu wurden rund um die Chemie-Baustellen Sammellager für KZ-Häftlinge - in der Überzahl Juden - eingerichtet, welche die SS ununterbrochen aus ganz Europa antransportierte. Sie wurden in schnell errichteten Baracken zusammengepfercht, schlecht gehalten und mangelhaft ernährt; auf die von ihnen erwarteten Arbeitsleistungen waren sie in keiner Weise vorbereitet und erfuhren nur die allemotwendigsten Unterweisungen, von den in der chemischen Produktion unerlässlichen Arbeitsschutzvorkehrungen konnte keine Rede sein. Den Aufbaugruppen der Werke und deren Vorarbeitern standen sie ohne Einschränkung für den vollen Schichtdienst bei ständig forciertem Arbeitstempo zur Verfügung. Angetrieben von den beigestellten SS-Aufsehern hatten sie zu schuften - buchstäblich bis zum Umfallen. Und wenn sie umfielen, bedeutete das den Tod - getötet mittels Giftspritze wie lästiges Vieh, wurden ihre Leichen in dafür bereiten Krematorien verbrannt.
Der junge Verfahrenstechniker aus Leuna erlebte seine eigene Aufbauarbeit und die ihm abverlangte rasant zu steigernde Produktion zugleich als eine große Todesmaschine. Dabei stand er unter dem unerbittlichen Druck seiner Vorgesetzten, des Betriebsleiters Dürrfeld (3), mit dessen Arbeitsstab er aus Leuna gekommen war, und der Spitzen des IG Farben Konzerns, die zu ständigen Inspektionen anreisten, um das Wachsen der Betriebe und den Anstieg ihrer Produktion voranzutreiben. Sie kamen meistens in Begleitung von hohen SS-Dienstgraden und trugen oft auch selbst SS-Uniform. Da fielen Namen, die mich aufhorchen ließen, denn sie waren uns Leunaer Kindern wohl vertraut... Bütefisch (4), und vor allem der großmächtige Schneider (5), von dessen Villa am Rand der Leunaer Werkssiedlung sich ein prächtiger Hang ins Saaletal zog, der im Winter unsere beliebteste Rodelbahn war... Sie also traten als grausame Schinder dort auf, die sich am Schicksal der Häftlinge nur interessiert zeigten, weil es galt, größtmögliche Arbeitsleistung aus ihnen herauszuholen, und die bei Ausfall darauf bestanden, schnellstens Ersatz heran zu schaffen... ? Massenmörder erhielten plötzlich „Name, Anschrift und Gesicht..." (6).
Unser Erzähler offenbarte sein Entsetzen; er war selbst zutiefst erschüttert, denn für ihn sind das die Größen seines Fachs gewesen, bedeutende Chemiker und Techniker, zu denen er einmal bewundernd aufschaute...
Nun war er gekommen, Abschied zu nehmen, denn er hatte sich freiwillig an die Ostfront gemeldet, um dieser Hölle von Auschwitz/Birkenau zu entgehen. Er ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen...
Der Schock, den ich in jener Nacht im Luftschutzkeller erfahren hatte, wirkte nach, als mit dem Ende der Naziherrschaft die Wahrheit ans Licht kam.
„Die Leiter der IG Farben waren harte, aber respektable Geschäftsleute, die zu großem Reichtum durch die Konstruktion jener Maschine gekommen waren, die die Nazis auf den
Weg nach Buchenwald trieb. Ohne IG Farben hätte Hitler nie in den Krieg ziehen können
Hitler kam an die Spitze mit Hilfe einer Koalition der führenden Schwerindustriellen und der militaristischen Junker: ohne Unterstützung der Mehrheit des Volkes. Der Anteil der IG Farben bei diesen Machenschaften kann jetzt durch die Aussagen der Verantwortlichen der IG belegt werden." (7)
Literatur:
Franz Fabian, Der Rat der Götter. Nacherzählt dem gleichnamigen Defa-Film, Berlin
(Deutscher Filmverlag) 1950
Diamond Jeffreys, Weltkonzern und Kriegskartell. Das zerstörerische Werk der IG Farben,
München (Blesssing) 2011 - bespr. v. Andreas Platthaus, Der Sündenfall der deutschen
Chemie, FAZ vom 16. Juni 2011
Willi Kling, Kleine Geschichte der IG Farben, Berlin (Tribüne) 1957
Otto Köhler, ...und heute die ganze Welt - Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter,
München/Zürich (Rasch u. Rührig) 1986
Richard Sasuly, IG Farben, 1947 - dt. von Walter Czollek, Berlin (Volk und Welt) 1952
Helmut Wickel, LG. Deutschland. Ein Staat im Staate. Berlin (Verlag Der Bücherkr,eis) 1932
Kämpfendes Leuna (1916-1945), Berlin (Tribüne) 1961
Befreites Leuna (1945-1950), Berlin (Tribüne) 1959
1l) Bertolt Brecht, Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy (1947)
Brecht, Gedichte VI, Berlin und Weimar (Aufbau) 1964, S. 157
(2) „ 1944: 12. Mai: Erster großer Bombenangriff der englisch-amerikanischen Luftwaffe
zur planmäßigen Zerstörung des Leuna-Werkes..."
Kämpfendes Leuna S. 937 (3). Walter Dürrfeld wurde von Bütefisch als unmittelbarer Betriebsleiter für IG Auschwitz
ernannt. Er behielt seine Büros zunächst noch in Leuna, um sie dann 1942 endgültig
nach Auschwitz zu verlegen.
(Kling, S. 44)
Der Verwandte unserer Nachbarn war von Dürrfeld .aus Leuna nach Auschwitz versetzt
worden (4) Heinrich Bütefisch, Direktor der Leuna-Werke, hatte bereits im Juni und Herbat 1932 an
Treffen mit Hitler teilgenommen; als SS-Obersturmbannführer gehörte er zum sog.
„Himmler-Kreis" und war einer der bestbekannten Nazis in der Führung der IG.
In Auschwitz war er für die Synthese-Anlagen verantwortlich.
(Sasuly S. 132 u. 334 - Kling, S. 44)
Er bewohnte eine Direktoren-Villa in Leuna und ein Jagdhaus in der Auenlandschaft
bei Zöschen. (5) Christian Schneider, Mitglied des Zentralausschusses der IG Farben und Leiter der
zentralen Personalabteilung, war zugleich „Hauptabwehrbeauftragter"
des Gesamtkonzems.
Obwohl in Frankfurt (Main) und Berlin tätig, hatte er seinen Sitz in Leuna; ebenso das
von ihm geleitete für die Zwangsarbeiter zuständige ,3üro Bertram".
(Sasuly, S. 329 - Kling, S. 41 - Befreites Leuna, S. 15)
Schneider bewohnte in Leuna eine schloßähnliche Villa oberhalb der Alten Saale mit
Blick über die östliche Auenlandschaft.
. (6) Bertolt Brecht, Kriegsfibel, Berlin (Eulenspiegel Verlag) 1955, Bild 22 (7) Sasuly S. 32/33
„Herr Sasuly war., einer der Beauftragten für die Untersuchung der Archive der IG
Farben; außerdem bereitete er das Verfahren gegen die IG vor."
Vorwort von Senator Claude Pepper, ebd. S. 20
Wie ich von Auschwitz erfuhr
Drei Gelehrte, ernst und hager Planer der Vergasungslager Fordern auch für die Chemie Freiheit und Democracy. (1)
Für die Bombenflieger des 1. Weltkrieges war Leuna nicht zu erreichen gewesen. Das sollte auch für die ersten Jahre des zweiten großen Krieges noch so gelten. Um 1940 war eine erste einsame Bombe gefallen, deren Trichter im Garten eines Siedlungshauses als sensationelles Ereignis angestaunt wurde. Aber man konnte ahnen, dass es nicht dabei bleiben würde. Es erging Anweisung, die Keller der Wohngebäude durch Absteifungen zu ertüchtigen und mit Notbetten und anderem Inventar als Schutz- und Aufenthaltsräume einzurichten. Auch wurde ein erster kommunaler Luftschutzbunker gebaut, noch in den gefälligen Formen eines besseren Lagerhauses, aber, wie sich bald zeigen sollte, nicht ausreichend vor den immer schwerer werdenden Bomben schützend. Nach ihm entstanden in der Wohnsiedlung des Werkes gewaltige viergeschossige Betonklötze mit meterdicken Decken und Wänden aus armiertem Beton; einer davon in unserer Nähe neben dem Bahnhof Leuna der Merseburg-Leipziger Bahnlinie. Von den Bauarbeiten ist mir der Name Philipp Holzmann auf den Schal-und Rüstbrettern als maßgebende Baufirma in Erinnerung geblieben. Im Verlauf der 40er Jahre (2) begannen dann unsere regelmäßigen Nachtwanderungen, um nach dem Ertönen der Alarmsirenen in diesem Bunker Schutz zu suchen. Denn dem eigenen Keller zu trauen, hatten wir längst aufgegeben, nachdem wir bei einem Tagesangriff durch den Druck der fallenden Luftminen mitsamt unseren Kohlen- und sonstigen Vorräten um einander gewirbelt worden waren. Umso mehr war ich erstaunt, als meine Eltern mir eines Abends ankündigten, daß wir in der nächsten Nacht bei Alarm nicht in den Bunker ziehen wollten, sondern in den Hauskeller zu unseren Nachbarn gehen würden Als der erwartete Alarm kam, klingelten wir also bei unseren Nachbarn und suchte^ gemeinsam mit ihnen deren Keller auf. Dort erfuhr ich auch den Grund für diesen ungewöhnlichen Entschluß: Bei den Nachbarn war ein junger Verwandter zu Besuch, der seit seiner Tätigkeit in den Leuna-Werken bei ihnen lebte, vor einiger Zeit aber zum Aufbau einer neuen Produktion nach Polen geschickt worden war. Die Nachbarn hatten meine EHern zu seinem Bericht über die dortigen Erlebnisse eingeladen.
Auch im Keller des Nachbarhauses gab es diese zweistöckigen Luftschutzbetten -ajso wurde ich als damals Zehnjähriger in ein oberes Bett geschickt mit der Aufforderung, weiter zu schlafen solange der Alarm andauert. Da meine ältere Schwester längst zwangsverpflichtet war, in einer Scheinwerferbatterie im Ruhrgebiet Kriegsdienst zu leisten, waren meine Eltern und die Nachbarsleute unter sich, und der nächtliche Fliegeralarm bot ihnen Gelegenheit zu offener Rede. Ich schlief natürlich nicht, denn es war so ungeheuerlich, was ich da zu hören bekam - aber gewiss nicht hören sollte Der Verwandte der Nachbarn, als Verfahrenstechniker in Leuna wegen seiner herausgehobenen Position vom Militärdienst freigestellt, war^ zum Aufbau einer neuen Produktionsanlage im Osten abkommandiert worden. Er berichtete, daß in Birkenau in Polen als Ausgleich für die im Rheinland stark bombardierten Chemischen Werke Hüls ein neues Buna-Werk für die Herstellung von künstlichem Gummi entstanden ist und zugleich daneben bei laufendem Betrieb von Leuna aus ein Destillierwerk zur Kohleverflüssigung für die Benzinproduktion aufgebaut wurde. Nach seiner Kenntnis war die Gegend um Birkenau von den Experten der IG Farben nicht nur wegen ihrer Lage außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberflotten ausgewählt worden, sondern ebenso wegen der reichen Vorkommen wichtigster Grundstoffe für die geplanten Produkte: oberschlesische Kohle und Kalk aus den Beskiden sowie Kühlwassers aus den Weichsel-Nebenflüssen als Voraussetzung der chemischem Prozesse. Vor allem aber war es den Oberen von IG Farben gelungen, einen Überfluß an beliebig verfügbaren Arbeitskräften zu organisieren. Dazu wurden rund um die Chemie-Baustellen Sammellager für KZ-Häftlinge - in der Überzahl Juden - eingerichtet, welche die SS ununterbrochen aus ganz Europa antransportierte. Sie wurden in schnell errichteten Baracken zusammengepfercht, schlecht gehalten und mangelhaft ernährt; auf die von ihnen erwarteten Arbeitsleistungen waren sie in keiner Weise vorbereitet und erfuhren nur die allemotwendigsten Unterweisungen, von den in der chemischen Produktion unerlässlichen Arbeitsschutzvorkehrungen konnte keine Rede sein. Den Aufbaugruppen der Werke und deren Vorarbeitern standen sie ohne Einschränkung für den vollen Schichtdienst bei ständig forciertem Arbeitstempo zur Verfügung. Angetrieben von den beigestellten SS-Aufsehern hatten sie zu schuften - buchstäblich bis zum Umfallen. Und wenn sie umfielen, bedeutete das den Tod - getötet mittels Giftspritze wie lästiges Vieh, wurden ihre Leichen in dafür bereiten Krematorien verbrannt.
Der junge Verfahrenstechniker aus Leuna erlebte seine eigene Aufbauarbeit und die ihm abverlangte rasant zu steigernde Produktion zugleich als eine große Todesmaschine. Dabei stand er unter dem unerbittlichen Druck seiner Vorgesetzten, des Betriebsleiters Dürrfeld (3), mit dessen Arbeitsstab er aus Leuna gekommen war, und der Spitzen des IG Farben Konzerns, die zu ständigen Inspektionen anreisten, um das Wachsen der Betriebe und den Anstieg ihrer Produktion voranzutreiben. Sie kamen meistens in Begleitung von hohen SS-Dienstgraden und trugen oft auch selbst SS-Uniform. Da fielen Namen, die mich aufhorchen ließen, denn sie waren uns Leunaer Kindern wohl vertraut... Bütefisch (4), und vor allem der großmächtige Schneider (5), von dessen Villa am Rand der Leunaer Werkssiedlung sich ein prächtiger Hang ins Saaletal zog, der im Winter unsere beliebteste Rodelbahn war... Sie also traten als grausame Schinder dort auf, die sich am Schicksal der Häftlinge nur interessiert zeigten, weil es galt, größtmögliche Arbeitsleistung aus ihnen herauszuholen, und die bei Ausfall darauf bestanden, schnellstens Ersatz heran zu schaffen... ? Massenmörder erhielten plötzlich „Name, Anschrift und Gesicht..." (6).
Unser Erzähler offenbarte sein Entsetzen; er war selbst zutiefst erschüttert, denn für ihn sind das die Größen seines Fachs gewesen, bedeutende Chemiker und Techniker, zu denen er einmal bewundernd aufschaute...
Nun war er gekommen, Abschied zu nehmen, denn er hatte sich freiwillig an die Ostfront gemeldet, um dieser Hölle von Auschwitz/Birkenau zu entgehen. Er ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen...
Der Schock, den ich in jener Nacht im Luftschutzkeller erfahren hatte, wirkte nach, als mit dem Ende der Naziherrschaft die Wahrheit ans Licht kam.
„Die Leiter der IG Farben waren harte, aber respektable Geschäftsleute, die zu großem Reichtum durch die Konstruktion jener Maschine gekommen waren, die die Nazis auf den
Weg nach Buchenwald trieb. Ohne IG Farben hätte Hitler nie in den Krieg ziehen können
Hitler kam an die Spitze mit Hilfe einer Koalition der führenden Schwerindustriellen und der militaristischen Junker: ohne Unterstützung der Mehrheit des Volkes. Der Anteil der IG Farben bei diesen Machenschaften kann jetzt durch die Aussagen der Verantwortlichen der IG belegt werden." (7)
Literatur:
Franz Fabian, Der Rat der Götter. Nacherzählt dem gleichnamigen Defa-Film, Berlin
(Deutscher Filmverlag) 1950
Diamond Jeffreys, Weltkonzern und Kriegskartell. Das zerstörerische Werk der IG Farben,
München (Blesssing) 2011 - bespr. v. Andreas Platthaus, Der Sündenfall der deutschen
Chemie, FAZ vom 16. Juni 2011
Willi Kling, Kleine Geschichte der IG Farben, Berlin (Tribüne) 1957
Otto Köhler, ...und heute die ganze Welt - Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter,
München/Zürich (Rasch u. Rührig) 1986
Richard Sasuly, IG Farben, 1947 - dt. von Walter Czollek, Berlin (Volk und Welt) 1952
Helmut Wickel, LG. Deutschland. Ein Staat im Staate. Berlin (Verlag Der Bücherkr,eis) 1932
Kämpfendes Leuna (1916-1945), Berlin (Tribüne) 1961
Befreites Leuna (1945-1950), Berlin (Tribüne) 1959
1l) Bertolt Brecht, Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy (1947)
Brecht, Gedichte VI, Berlin und Weimar (Aufbau) 1964, S. 157
(2) „ 1944: 12. Mai: Erster großer Bombenangriff der englisch-amerikanischen Luftwaffe
zur planmäßigen Zerstörung des Leuna-Werkes..."
Kämpfendes Leuna S. 937 (3). Walter Dürrfeld wurde von Bütefisch als unmittelbarer Betriebsleiter für IG Auschwitz
ernannt. Er behielt seine Büros zunächst noch in Leuna, um sie dann 1942 endgültig
nach Auschwitz zu verlegen.
(Kling, S. 44)
Der Verwandte unserer Nachbarn war von Dürrfeld .aus Leuna nach Auschwitz versetzt
worden (4) Heinrich Bütefisch, Direktor der Leuna-Werke, hatte bereits im Juni und Herbat 1932 an
Treffen mit Hitler teilgenommen; als SS-Obersturmbannführer gehörte er zum sog.
„Himmler-Kreis" und war einer der bestbekannten Nazis in der Führung der IG.
In Auschwitz war er für die Synthese-Anlagen verantwortlich.
(Sasuly S. 132 u. 334 - Kling, S. 44)
Er bewohnte eine Direktoren-Villa in Leuna und ein Jagdhaus in der Auenlandschaft
bei Zöschen. (5) Christian Schneider, Mitglied des Zentralausschusses der IG Farben und Leiter der
zentralen Personalabteilung, war zugleich „Hauptabwehrbeauftragter"
des Gesamtkonzems.
Obwohl in Frankfurt (Main) und Berlin tätig, hatte er seinen Sitz in Leuna; ebenso das
von ihm geleitete für die Zwangsarbeiter zuständige ,3üro Bertram".
(Sasuly, S. 329 - Kling, S. 41 - Befreites Leuna, S. 15)
Schneider bewohnte in Leuna eine schloßähnliche Villa oberhalb der Alten Saale mit
Blick über die östliche Auenlandschaft.
. (6) Bertolt Brecht, Kriegsfibel, Berlin (Eulenspiegel Verlag) 1955, Bild 22 (7) Sasuly S. 32/33
„Herr Sasuly war., einer der Beauftragten für die Untersuchung der Archive der IG
Farben; außerdem bereitete er das Verfahren gegen die IG vor."
Vorwort von Senator Claude Pepper, ebd. S. 20
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Dienstag, 22. Mai 2012
Gespenster der Vergangenheit (Rezension zu „Alois Nebel“)
damals, 00:09h
In die seit längerem andauernde Phase der Wiederholungslektüre von Lieblingsbüchern – erst Pamuks „Schnee“, jetzt schon seit einigen Wochen „Ich“ von W. Hilbig – habe ich jetzt mal was Aktuelles eingeschoben, damit ich mich nicht ganz im Selbstreferentiellen verliere, eine Feuilleton-Anregung: "Alois Nebel“, ein „Graphic Novel“ von Jaroslav Rudiš und Jaromir 99.
Es geht um einen tschechischen Bahnbeamten, den die Geister der Vergangenheit heimsuchen – SS-Leute und Verwundete, Häftlinge und Vertriebene. Er wird in der Wendezeit entlassen und in der Psychiatrie entsorgt, trifft dort auf den Stummen, eine verdichtete Inkarnation dieser Vergangenheitsgespenster, und später auf dem Prager Hauptbahnhof – auch dort spukt es natürlich – die Klofrau Kvĕta. Am Ende treten die Autoren selbst auf den Plan und verschaffen ihrem Protagonisten ein Happy End.
Das ist eine wunderbare Geschichte, stimmig und doch geheimnisvoll, anspielungsreich und doch deutlich. Toll fand ich auch die holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Bilder: wirkungsvoll, ja heftig, durch ihre starken Kontraste, doch kein bisschen pauschalisierend. Im Gegenteil: Da ich als Comic-Verächter im Lesen von Bildinformationen eher ungeübt bin, habe ich viele Anspielungen gar nicht sofort verstanden, musste öfter vor- und zurückblättern, blieb dabei wieder bei anderen eindrucksvollen Szenen hängen, versank völlig in der erzählerischen Überfülle der Geschichte – und war am Ende umso dankbarer, dass die Autoren mich sicher zu einer absolut sinnvollen Auflösung führten.
Eine Kleinigkeit nur im Nachhinein, die mir nicht so gefiel: Es geht ein bisschen machohaft zu, oder wenigstens kreist alles um die Konflikte der Männer untereinander. Frauen treten nur auf, sofern sie als Opfer, Ehefrau oder böse Mutter dramaturgisch benötigt werden. Nicht, dass die Männer jetzt besonders positiv geschildert wären – die meisten von ihnen sind Täter, Mitläufer, Opfer, Mörder oder Alkoholiker, manchmal sogar mehreres davon. Auch Gott ist ein Mann – er trägt das Auge Gottes auf seiner Baseballkappe – und alles andere als eine erhabene Figur, er hat eher etwas von einem Penner. Als positives Gegenbild dazu steht Alois da, der Vater wird, obwohl er – wie ich finde – schon etwas alt dafür ist.
Aber ich will mal nicht meckern: Die Geister der gewalttätigen patriarchalen Vergangenheit inklusive eines lächerlichen Gottvaters nicht zu leugnen, ihre Anwesenheit unter uns in der Gegenwart zu zeigen, ihnen einen braven, tumben, allerdings im Wahn hellsichtigen, wirklichen Vater als Positivbild gegenüberzusetzen – das ist schon gut so, wohltuend und sinnvoller als vieles, was heutzutage als Vergangenheitsbewältigung daherkommt. Noch besser wäre es natürlich etwas weniger biologistisch gewesen. Aber dazu braucht es wohl einen Gott, der weder Bart noch Baseballkappe trägt.
Es geht um einen tschechischen Bahnbeamten, den die Geister der Vergangenheit heimsuchen – SS-Leute und Verwundete, Häftlinge und Vertriebene. Er wird in der Wendezeit entlassen und in der Psychiatrie entsorgt, trifft dort auf den Stummen, eine verdichtete Inkarnation dieser Vergangenheitsgespenster, und später auf dem Prager Hauptbahnhof – auch dort spukt es natürlich – die Klofrau Kvĕta. Am Ende treten die Autoren selbst auf den Plan und verschaffen ihrem Protagonisten ein Happy End.
Das ist eine wunderbare Geschichte, stimmig und doch geheimnisvoll, anspielungsreich und doch deutlich. Toll fand ich auch die holzschnittartigen Schwarz-Weiß-Bilder: wirkungsvoll, ja heftig, durch ihre starken Kontraste, doch kein bisschen pauschalisierend. Im Gegenteil: Da ich als Comic-Verächter im Lesen von Bildinformationen eher ungeübt bin, habe ich viele Anspielungen gar nicht sofort verstanden, musste öfter vor- und zurückblättern, blieb dabei wieder bei anderen eindrucksvollen Szenen hängen, versank völlig in der erzählerischen Überfülle der Geschichte – und war am Ende umso dankbarer, dass die Autoren mich sicher zu einer absolut sinnvollen Auflösung führten.
Eine Kleinigkeit nur im Nachhinein, die mir nicht so gefiel: Es geht ein bisschen machohaft zu, oder wenigstens kreist alles um die Konflikte der Männer untereinander. Frauen treten nur auf, sofern sie als Opfer, Ehefrau oder böse Mutter dramaturgisch benötigt werden. Nicht, dass die Männer jetzt besonders positiv geschildert wären – die meisten von ihnen sind Täter, Mitläufer, Opfer, Mörder oder Alkoholiker, manchmal sogar mehreres davon. Auch Gott ist ein Mann – er trägt das Auge Gottes auf seiner Baseballkappe – und alles andere als eine erhabene Figur, er hat eher etwas von einem Penner. Als positives Gegenbild dazu steht Alois da, der Vater wird, obwohl er – wie ich finde – schon etwas alt dafür ist.
Aber ich will mal nicht meckern: Die Geister der gewalttätigen patriarchalen Vergangenheit inklusive eines lächerlichen Gottvaters nicht zu leugnen, ihre Anwesenheit unter uns in der Gegenwart zu zeigen, ihnen einen braven, tumben, allerdings im Wahn hellsichtigen, wirklichen Vater als Positivbild gegenüberzusetzen – das ist schon gut so, wohltuend und sinnvoller als vieles, was heutzutage als Vergangenheitsbewältigung daherkommt. Noch besser wäre es natürlich etwas weniger biologistisch gewesen. Aber dazu braucht es wohl einen Gott, der weder Bart noch Baseballkappe trägt.
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Dienstag, 15. Mai 2012
Which side are you on?
damals, 23:05h
Diese Frage kann ernst gemeint sein. Sie kann aber auch eine Falle sein, ein Trick, um dich ideologischen Interessen von irgendjemandem unterzuordnen. "Sag mir, wo du stehst ..." - die Ossis unter uns erinnern sich sicher an diese Liedzeile als widerlich, als Unterdrückungsinstrument. "Wenn die Lehrerin sagt: Jetzt wollen wir mal ganz offen und ehrlich unsere Meinungen austauschen", so fasste meine coole Schwester das Problem mal zusammen, "da gibt es nur eins: Wegducken!"
Schon in der DDR habe ich diese Kunst nicht richtig beherrscht: Ich hab mich von billigen Provokationen immer aus der Reserve locken lassen. Und auch jetzt regen mich Feuilleton-Diskussionen häufig auf, ich tippe meine Meinung in irgendwelche Foren – wenn ich sie meiner Frau erzähle, lächelt sie meist nachsichtig – und sogar, wenn Sie hier in meinem Blog unter dem Thema "Politik" nachgucken, werden Sie ziemlich viel heiße Luft von gestern finden.
Natürlich bemühe ich mich, gelassen zu bleiben. Und immerhin habe ich es geschafft, die unselige Diskussion über das ebenso unselige Grass-Gedicht aus meinem Blog herauszuhalten. Denn mir war von Anfang an klar, dass so ein dumpf-müffeliges Gedicht des unsympathischen Günter Grass kaum zu verteidigen ist, auch wenn es in der Sache einleuchtet.
Jetzt im Nachhinein, die Debatte ist – Gott sei Dank – überstanden, wird mir klar, dass einfach die Fronten falsch gesetzt waren in dieser Diskussion: Ob nun Grassens Gedicht stilistisch gut oder schlecht ist, seine Argumente stichhaltig oder widerlegbar – wen interessiert das?
Was interessiert, ist die Sache: Im Nahen Osten droht Krieg, und es gibt Leute, die diesen Krieg wollen. Auf der anderen Seite stehen die Leute, die keinen Krieg wollen. So einfach ist das.
"Which side are you on?" Dieses schöne Lied von Billy Bragg begegnete mir neulich bei che wieder. Und dieser Frage traue ich, die beantworte ich gerne: Ich stehe auf der Seite der Leute, die keinen Krieg wollen.
Schon in der DDR habe ich diese Kunst nicht richtig beherrscht: Ich hab mich von billigen Provokationen immer aus der Reserve locken lassen. Und auch jetzt regen mich Feuilleton-Diskussionen häufig auf, ich tippe meine Meinung in irgendwelche Foren – wenn ich sie meiner Frau erzähle, lächelt sie meist nachsichtig – und sogar, wenn Sie hier in meinem Blog unter dem Thema "Politik" nachgucken, werden Sie ziemlich viel heiße Luft von gestern finden.
Natürlich bemühe ich mich, gelassen zu bleiben. Und immerhin habe ich es geschafft, die unselige Diskussion über das ebenso unselige Grass-Gedicht aus meinem Blog herauszuhalten. Denn mir war von Anfang an klar, dass so ein dumpf-müffeliges Gedicht des unsympathischen Günter Grass kaum zu verteidigen ist, auch wenn es in der Sache einleuchtet.
Jetzt im Nachhinein, die Debatte ist – Gott sei Dank – überstanden, wird mir klar, dass einfach die Fronten falsch gesetzt waren in dieser Diskussion: Ob nun Grassens Gedicht stilistisch gut oder schlecht ist, seine Argumente stichhaltig oder widerlegbar – wen interessiert das?
Was interessiert, ist die Sache: Im Nahen Osten droht Krieg, und es gibt Leute, die diesen Krieg wollen. Auf der anderen Seite stehen die Leute, die keinen Krieg wollen. So einfach ist das.
"Which side are you on?" Dieses schöne Lied von Billy Bragg begegnete mir neulich bei che wieder. Und dieser Frage traue ich, die beantworte ich gerne: Ich stehe auf der Seite der Leute, die keinen Krieg wollen.
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