Mittwoch, 17. Juni 2009
Halt auf freier Strecke, Teil 4
Wismar. Wieder zu Hause. Es war komisch, er kannte jeden Pflasterstein auf diesem Bahnsteig, erst im Frühjahr war er das letzte Mal hier angekommen, aber diesmal war alles anders. Noch nie hatte Johannes zuvor gespürt, was es bedeutet, Heimatboden zu betreten. Es hatte ihn durchzuckt, in dem Moment, als er von der letzten Stufe des Waggons gesprungen war. Der Zug ruckte an, verließ den Bahnhof, ihn zog es in die andere Richtung. Gerade noch konnte er den eben abgesetzten Rucksack ergreifen, da trugen ihn seine Beine schon vorwärts, die Treppe hinab, aus dem Bahnhof, durch die Stadt. Warum war er hergekommen, unangemeldet, ohne Grund. Johannes versuchte sich an dem Postkartenblick auf die alte Wasserkunst festzuhalten, als er über den Marktplatz trieb. Vergebens. Schon stand er vor dem Elternhaus. Er sah, wie sich durch seine Hand die große Haustür öffnete, wie ihm die weißen Marmorstufen des Treppenhauses entgegenlachten. Hier hatte er doch immer so gern im Kühlen gesessen als Kind, und die Windmühle im Glasfenster im ersten Stock war sein Freund. Jetzt stieg er einfach vorbei, nur aus den Augenwinkeln sah er, dass auch sie sich abwendete.
Die Eltern waren natürlich zu Hause, auch Cornelia, seine Schwester, obwohl sie doch eine eigene Wohnung hatte. Offenbar hatten sie gerade den Braten vom Tisch geräumt und wollten zum Nachtisch übergehen. Die drei wirbelten durcheinander, es war schön, sie so erfreut und überrascht zu sehen. ‚Haltet mich fest.’ dachte Johannes. Er hinderte die Mutter, die ihm eine Scheibe Fleisch aufwärmen wollte. Nur bei den anderen sitzen und zuhören, dazugehören. Der Superintendent hatte also seinen uralten Streit mit Pfarrer Schröder noch immer nicht beendet. Dieses Jahr ging es offenbar um die Reparatur des Turmdachs von St. Georg. Johannes ließ sich von der Mutter noch ein bisschen Sahne geben und rührte sie in sein Kompott. Er hätte gern mit ihr auch so ein Thema gehabt, wie jetzt Vater und Tochter, die sich gerade in Einzelheiten des innerkirchlichen Dienstgefechts von Wismar vertieften.
Aber er hatte kein solches Thema. Nach dem Essen musste Cornelia eilig los, sie hatte noch zu arbeiten, Papierkram zu erledigen drüben im Gemeindehaus und später den Kinderchor. Auch Johannes hielt es nicht in der Wohnung; er ging hoch, in die Bodenkammer, die in seiner Oberschulzeit und fast noch das ganze Studium sein geheimes Reich gewesen war. Seine Mutter fragte sich, was er da wohl zu kramen hatte, wo die Schränke vollgestopft waren mit alten Comics und nie wieder gelesenen Vorlesungsmitschriften und seine Rockmusikposter, die Schallplattensammlung und das längst leer stehende Aquarium immer weiter einstaubten. Sie hätte gern mehr über Berlin erfahren, aber Johannes erzählte ja nichts. Sie wusste nur, sie durfte ihn in seiner Bodenkammer nie stören.
Am späten Nachmittag kam er runter. Auf Antrag der Mutter wurde Tee getrunken. Da saßen die drei nun zusammen und waren verlegen. Johannes erzählte wohl dies und das, auch was er die nächsten Tage vorhätte. Aber irgendwie passte alles nicht zusammen. Auch Johannes’ Vater verstand gar nichts. Er kam sich alt vor, wenn er ihm zuhörte, und sein Sohn kam ihm noch älter vor. Mit Cornelia hatte er solche Probleme nicht. Johannes dagegen ... so formlos wie die Frisur, so verschwommen erschienen ihm die Pläne seines Sohnes. Fühlte er sich wirklich wohl damit? Man konnte es kaum glauben.
Johannes sagte aber „Ja“ und wirkte auf einmal ziemlich entschlossen, er sagte „Macht euch keine Sorgen!“ und „Bis nächste Woche! Passt auf meinen Seesack auf!“ und umarmte beide nacheinander so liebevoll, wie man es von ihm gar nicht kannte. So ließen sie ihn denn ziehen auf die nächste seiner windigen Unternehmungen. So war er halt.
Johannes ging also los, denselben Weg zurück durch die Stadt. Er kam wieder am Markt vorbei, dann auch an dem Gemeindehaus, in dem Cornelia jetzt über ihren Abrechnungen saß, immer weiter stadtauswärts, die endlose Gartenstraße entlang, wo die Bebauung schon spärlich wurde, und verschwand endlich zwischen den Kleingärten am Rande von Wismar.

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Halt auf freier Strecke, Teil 3
„Spinne! Eine Spinne bist du! Du hockst in deinem Netz und ziehst an den Fäden, und alle können sie tanzen, die Freundinnen, die Frau Mama, deine Dozenten von der Uni ... Aber ich nicht, ich nicht! Lass mich in Ruhe!“ Was war das? Ada konnte es nicht fassen. „Wer hockt im Nest? Das bist doch wohl du! Ist doch sehr bequem, immer eine Übernachtung in Berlin!“ Aber er hörte überhaupt nicht hin. „Vergiss es, Ada! Ich kenn das gut, ich kenn das sehr gut, das hab ich lang genug gehabt – immer hübsch zu Hause bleiben. Mein Ohrensessel ist das Zentrum der Welt. Und mit Berlin ... was weißt du denn von Berlin? Warst du schon mal in Spandau? Du kennst doch nur die S-Bahnfahrt zur Uni. Und zu deiner Nicole!“ – „Was hast du gegen Nicole?“ – „Mir ist das zu eng, Ada! Einfach zu eng.“ - „Wenn dir das zu eng ist, was wir zusammen gemacht haben, die Lesung von Salman Rushdie, und das Theatertreffen, das fandest du doch alles so toll, das schiebst du jetzt einfach so weg, du willst mich doch nur beleidigen ...“ Sie stockte. „Wahrscheinlich fandest du’s zu eng in meinem Bett.“ Und dann leiser: „Du kannst gehen, wenn du willst. Es hält dich niemand fest, Johannes.“

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