Dienstag, 22. Mai 2007
Armeezeit, Teil 21
Entlassen wurden die Soldaten unserer Einheit Ende April. Ich und einige andere mussten bleiben - wir hatten wir mehrere Tage Knast nachzudienen. Der Tag, als die anderen gingen, wurde uns Nachdienern schwer. Besonders schwer wurde er für mich, denn ich trat an diesem Tag eine zweite Arreststrafe an, wegen „Beleidigung eines Vorgesetzten“. Nicht wegen des OvDs übrigens – ich hatte im Eifer der Auseinandersetzung einen Unterleutnant „Knalltüte“ genannt und damit Gelächter bei umstehenden Stabsoffizieren ausgelöst. Mit einigen Kameraden ging ich nach vorn zum Kasernentor - sie verließen die Kaserne, ich musste abbiegen ins Wachgebäude und mich zum Antritt meiner Strafe melden.
Besser wurde es nachmittags, die anderen waren weg - und ich ein Häftling. Ich stand mit dem Besen auf einer Regimentsstraße und fegte, bewacht von irgendeinem Wachsoldaten. Andere kamen vorbei, erkannten mich und riefen: "Karin, was machst du denn schon wieder im Knast?!" Ich zuckte mit den Achseln und lächelte. Ich war jemand, ich war berühmt. Karin, der Aufsässige.
Fünf Tage später gingen Ulli Ost und die anderen. Nur der Melker und ich mussten weitere drei Tage bleiben. Wir hatten rein gar nichts mehr zu tun. Unsere Betten hatten wir an die bereits eingetroffenen Neuankömmlinge abgegeben. Die Unteroffiziere – das waren ja nun unsere nächsten Angehörigen – waren mit den „Glatten“ unterwegs und brachten ihnen das Marschieren bei. Ich erinnere mich an einen Vormittag, an dem ich mitgezählt habe: Die AMIGA-Schallplatte mit den Hits von Joe Cocker lief 14mal hintereinander.
Meine letzte verbotene Handlung war das Einkaufen einer Flasche Sekt im Regiments-Laden. Ich war richtig enttäuscht, dass die Aktion keinerlei Probleme bereitete – der Verkäufer kannte mein Schicksal ebenso wie die Vorgesetzten, es interessierte einfach niemanden, ob ein Nachdiener an seinem vorletzten Tag noch verbotenerweise Alkohol erwirbt, eine Handlung, die sonst nur Offizieren erlaubt war. Dann war der Tag heran und ich ging mit Hoppi – so hieß der Melker - zum Kasernentor. Es lief alles nach Plan: Im Treppenhaus schüttelten wir Dutzende von Händen; als wir die Regimentsstraße hinunterliefen zum Tor, winkte man uns aus den Unterkünften nach. Kurz vorm Tor verstreuten wir Papierschnipsel – wie es irgendeine Soldatensitte verlangte, an deren Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Draußen wurden die Sektflaschen geöffnet. So ähnlich wie Silvester, wo man ja auch oft neben sich steht und das Ritual einfach durchzieht.
Ich zog mit Hoppi noch durch Berlin, wir trafen uns mit irgendeinem der pünktlich Entlassenen und markierten eine Fröhlichkeit, die wir nicht empfanden. Als ich tief in der Nacht betrunken bei meinem Elternhaus eintraf, das immer noch dastand, als wäre ich nie fortgewesen, und dachte, dass ich mein altes Leben nun fortsetzen würde, war mir, als hätte ich mit der Armeeentlassung das Leben verloren – das Leid, aber auch das Leben.
Und so war ich beinahe dankbar, dass die Armee mich nicht vergaß, sondern noch nachträglich mein Verhalten honorierte: Einen Monat nach meiner Entlassung fuhr Oberstleutnant Knaf persönlich nach Leipzig an die Universität, um die Rücknahme meiner Studienzulassung anzuordnen. Offenbar hielt er mich doch nicht für einen formbaren jungen Menschen. Oberstleutnant Knaf hat meinen Stolz respektiert. Und Schriftsteller bin ich nie geworden.

ENDE

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