Freitag, 18. Juli 2008
Achtung, Wiederholung: "Das Leben der Anderen"
damals, 15:34h
Aus gegebenem Anlass (Lady Woodstock hat nachgefragt) äußere ich mich nochmal zum "Leben der Anderen" (hier mein erster Text dazu: http://damals.blogger.de/stories/751508/.)
Als der Film rauskam und dank massiven Werbeeinsatzes und prominenter Besetzung gleich überall im Gespräch war, wurde Donnersmarck in einer Talk Show von dem Schauspieler Henry Hübchen massiv angegriffen. In diesem Zusammenhang schrieb ich einen Kommentar in dem Blog von Herrn Donnersmarck, aus dem ich hier zitiere:
Viele Menschen, auch aus meinem Bekanntenkreis, haben „Das Leben der anderen“ mit Rührung und Begeisterung gesehen – während mich der Film genervt hat, aggressiv gemacht hat.
Zwar ist Ihre Analyse der späten DDR meines Erachtens rein sachlich völlig richtig. Insofern kann ich mich als geborener DDR-Bürger in die Reihe der von Ihnen aufgerufenen Zeitzeugen einordnen. Dass Ihnen hier und da kleine historischen Fehler unterlaufen sind, wie das Feuilleton an diversen Stellen anmerkte, finde ich gar nicht so schlimm. Gut fand ich, wie genau in Ihrem Film die miefig-spießige Atmosphäre in der DDR der 80er Jahre getroffen und reproduziert wird. Nur: Wieso diese klischeehafte und eindimensionale Charakterzeichnung aller Figuren mit Ausnahme der Hauptfigur? „Da hätte ich mir auch nen >Tatort< ansehen können.“ meinte ein (westdeutscher) Bekannter nach dem Kinobesuch achselzuckend.
Und er hatte Recht: der aufrechte Intellektuelle in der unvermeidlichen Lederjacke, die geniale, aber verführbare Künstlerin (die als femme fatale natürlich am Ende unter die Räder kommen muss), der gefräßige und brutale Minister, ... das war schon schwer erträglich.
Natürlich ist solche Vereinfachung künstlerisch erlaubt, z. B. eben im „Tatort“: um eine im Kern richtige Gesellschaftsanalyse für den Sonntagabend tauglich zu machen, auf dass sie jedermann nach dem Abendbrot noch leichthin konsumieren kann. Oder weil es dem Regisseur gar nicht auf die Figuren ankommt, sondern auf irgendetwas anderes. Ich fragte mich, was Ihnen so wichtig war, dass Sie dafür einen Großteil des filmischen Geschehens zur „rührseligen Politschmonzette“ vereinfacht haben, wie Henry Hübchen richtig anmerkte.
Ging es Ihnen um das Ins-Bild-Setzen einer masochistischen Ohnmachtsfantasie? Um Mitgefühl für einen Spitzel, der menschliche Gefühle entwickelt (was normal und verständlich ist), sie aber nicht haben darf, der auch mal Schicksal spielen will wie seine mächtigen Chefs und dann die Folgen zu spüren bekommt – und nicht, nicht mal im Ansatz, begreift, dass das ganze Spiel mies ist, egal für wen man Partei ergreift? Er ist übrigens großartig geschildert, wie er mit seinem Wägelchen geduckt durch die Straßen läuft und Werbezeitungen verteilt und sich vermutlich ziemlich selbst bemitleidet. Genau so laufen sie noch heute rum in den neuen Bundesländern, diese miesen kleinen Würstchen, die uns regiert haben! Und glauben, sie wären die eigentlichen Opfer.
Oder wollten Sie einfach einen hollywoodtauglichen Film mit möglichst deutschem Sujet herstellen? Wofür ja die unangenehm kommerzielle und sicher sehr teure Werbekampagne für den Film spricht. (Wer hat die eigentlich bezahlt?)
Da muss man doch mit Hübchen daran erinnern, dass die Welt nicht so eindimensional ist, wie diese Stasi-Typen (und auch dieser Film) sie sehen. Wir waren Menschen und wir konnten (natürlich zu selten, natürlich nur manchmal) lachen über das Lächerliche und verachten, was verachtenswert ist. Die Machtbesessenheit dieses Systems und seiner Erfüllungsgehilfen, natürlich gab es die, aber ist sie das wirklich Erinnernswerte an der DDR?
Ich finde, bei der Übersetzung von DDR in Hollywood ist ein entscheidender Fehler unterlaufen: Die Logik, mit der in der DDR Angst erzeugt wurde, wurde exakt nachgebaut und überliefert – die Angst (und auch der Mut) derer, die diese Logik zu erdulden hatten, ist unter lauter Kitsch verschwunden.
Es mag sein, dass ich jetzt zu viel hineingesehen habe in Ihren Film, der ja nur ein Unterhaltungsfilm sein will. Aber immerhin, es ist ein Kinofilm, ein gefeierter, und der Bundestag ist auch schon da gewesen. Ach, hätten Sie doch lieber mit Fernsehen angefangen! (Irgendein Feuilleton berichtete, Sie hätten der Versuchung Fernsehregie widerstanden, um auf die Chance zum großen Kinofilm zu warten.) Hätten Sie das Ganze tatsächlich als „Tatort“ realisiert – es wäre sicher einer der besseren geworden. Und Sie hätten danach den Kopf und das Herz frei gehabt, um einen wirklichen, ein großen Kinofilm zu drehen.
Na ja, um mal zu zeigen, wie dieses Sujet "in echt" statt in Oscar-Manier geschildert werden kann, zitiere ich den zu Unrecht vergessenen Bernd Jentzsch:
Stoßgebet
Wenn einer wegwill und noch kein Greis ist, weder Dienstreisender noch Sportler, kein Kundschafter der heiligen Sache, dem stehe bei der Allmächtige der Vogelfreien, der achte auf seine geächtete Hand, die das unterschrieb, ich will hier raus, der hat sein Urteil gefällt, der darf nicht mehr sein in Lohn und Brot, ein Querulant unter Tausenden zu Abertausenden, in die Korrektionsanstalt mit dem, nach Waldheim, Bautzen, Hoheneck, nach Cottbus in die Dunkelzelle, singen lernen, verpfeifen, verraten und verkauft, der Verkauf der Landeskinder nach Hessen, Kopf um Kopf, der ist verlassen von allen guten Geistern und
stolpert vor die Kameras, die ersten Schüsse im Jenseits Schnappschüsse, Allmächtiger, mit aller Macht, dem stehe bei.
1978
Als der Film rauskam und dank massiven Werbeeinsatzes und prominenter Besetzung gleich überall im Gespräch war, wurde Donnersmarck in einer Talk Show von dem Schauspieler Henry Hübchen massiv angegriffen. In diesem Zusammenhang schrieb ich einen Kommentar in dem Blog von Herrn Donnersmarck, aus dem ich hier zitiere:
Viele Menschen, auch aus meinem Bekanntenkreis, haben „Das Leben der anderen“ mit Rührung und Begeisterung gesehen – während mich der Film genervt hat, aggressiv gemacht hat.
Zwar ist Ihre Analyse der späten DDR meines Erachtens rein sachlich völlig richtig. Insofern kann ich mich als geborener DDR-Bürger in die Reihe der von Ihnen aufgerufenen Zeitzeugen einordnen. Dass Ihnen hier und da kleine historischen Fehler unterlaufen sind, wie das Feuilleton an diversen Stellen anmerkte, finde ich gar nicht so schlimm. Gut fand ich, wie genau in Ihrem Film die miefig-spießige Atmosphäre in der DDR der 80er Jahre getroffen und reproduziert wird. Nur: Wieso diese klischeehafte und eindimensionale Charakterzeichnung aller Figuren mit Ausnahme der Hauptfigur? „Da hätte ich mir auch nen >Tatort< ansehen können.“ meinte ein (westdeutscher) Bekannter nach dem Kinobesuch achselzuckend.
Und er hatte Recht: der aufrechte Intellektuelle in der unvermeidlichen Lederjacke, die geniale, aber verführbare Künstlerin (die als femme fatale natürlich am Ende unter die Räder kommen muss), der gefräßige und brutale Minister, ... das war schon schwer erträglich.
Natürlich ist solche Vereinfachung künstlerisch erlaubt, z. B. eben im „Tatort“: um eine im Kern richtige Gesellschaftsanalyse für den Sonntagabend tauglich zu machen, auf dass sie jedermann nach dem Abendbrot noch leichthin konsumieren kann. Oder weil es dem Regisseur gar nicht auf die Figuren ankommt, sondern auf irgendetwas anderes. Ich fragte mich, was Ihnen so wichtig war, dass Sie dafür einen Großteil des filmischen Geschehens zur „rührseligen Politschmonzette“ vereinfacht haben, wie Henry Hübchen richtig anmerkte.
Ging es Ihnen um das Ins-Bild-Setzen einer masochistischen Ohnmachtsfantasie? Um Mitgefühl für einen Spitzel, der menschliche Gefühle entwickelt (was normal und verständlich ist), sie aber nicht haben darf, der auch mal Schicksal spielen will wie seine mächtigen Chefs und dann die Folgen zu spüren bekommt – und nicht, nicht mal im Ansatz, begreift, dass das ganze Spiel mies ist, egal für wen man Partei ergreift? Er ist übrigens großartig geschildert, wie er mit seinem Wägelchen geduckt durch die Straßen läuft und Werbezeitungen verteilt und sich vermutlich ziemlich selbst bemitleidet. Genau so laufen sie noch heute rum in den neuen Bundesländern, diese miesen kleinen Würstchen, die uns regiert haben! Und glauben, sie wären die eigentlichen Opfer.
Oder wollten Sie einfach einen hollywoodtauglichen Film mit möglichst deutschem Sujet herstellen? Wofür ja die unangenehm kommerzielle und sicher sehr teure Werbekampagne für den Film spricht. (Wer hat die eigentlich bezahlt?)
Da muss man doch mit Hübchen daran erinnern, dass die Welt nicht so eindimensional ist, wie diese Stasi-Typen (und auch dieser Film) sie sehen. Wir waren Menschen und wir konnten (natürlich zu selten, natürlich nur manchmal) lachen über das Lächerliche und verachten, was verachtenswert ist. Die Machtbesessenheit dieses Systems und seiner Erfüllungsgehilfen, natürlich gab es die, aber ist sie das wirklich Erinnernswerte an der DDR?
Ich finde, bei der Übersetzung von DDR in Hollywood ist ein entscheidender Fehler unterlaufen: Die Logik, mit der in der DDR Angst erzeugt wurde, wurde exakt nachgebaut und überliefert – die Angst (und auch der Mut) derer, die diese Logik zu erdulden hatten, ist unter lauter Kitsch verschwunden.
Es mag sein, dass ich jetzt zu viel hineingesehen habe in Ihren Film, der ja nur ein Unterhaltungsfilm sein will. Aber immerhin, es ist ein Kinofilm, ein gefeierter, und der Bundestag ist auch schon da gewesen. Ach, hätten Sie doch lieber mit Fernsehen angefangen! (Irgendein Feuilleton berichtete, Sie hätten der Versuchung Fernsehregie widerstanden, um auf die Chance zum großen Kinofilm zu warten.) Hätten Sie das Ganze tatsächlich als „Tatort“ realisiert – es wäre sicher einer der besseren geworden. Und Sie hätten danach den Kopf und das Herz frei gehabt, um einen wirklichen, ein großen Kinofilm zu drehen.
Na ja, um mal zu zeigen, wie dieses Sujet "in echt" statt in Oscar-Manier geschildert werden kann, zitiere ich den zu Unrecht vergessenen Bernd Jentzsch:
Stoßgebet
Wenn einer wegwill und noch kein Greis ist, weder Dienstreisender noch Sportler, kein Kundschafter der heiligen Sache, dem stehe bei der Allmächtige der Vogelfreien, der achte auf seine geächtete Hand, die das unterschrieb, ich will hier raus, der hat sein Urteil gefällt, der darf nicht mehr sein in Lohn und Brot, ein Querulant unter Tausenden zu Abertausenden, in die Korrektionsanstalt mit dem, nach Waldheim, Bautzen, Hoheneck, nach Cottbus in die Dunkelzelle, singen lernen, verpfeifen, verraten und verkauft, der Verkauf der Landeskinder nach Hessen, Kopf um Kopf, der ist verlassen von allen guten Geistern und
stolpert vor die Kameras, die ersten Schüsse im Jenseits Schnappschüsse, Allmächtiger, mit aller Macht, dem stehe bei.
1978
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Montag, 24. März 2008
Orhan Pamuks "Istanbul" - So müsste man schreiben können!
damals, 23:20h
Meine Bekanntschaft mit Orhan Pamuk verdanke ich dem Feuilleton. Das war entzückt von seinem Roman „Schnee“, für den er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam. Pamuk passte hervorragend ins Bild: Wer sonst könnte einem die rückständige Türkei erklären als ein liberaler Intellektueller, der tatsächlich von da stammt, jedoch schon als Jugendlicher im heimischen Istanbul eine amerikanische Schule besuchte und später in New York lebte?
Auch mich lockte „Schnee“, versprach der Roman laut der Rezensionen doch orientalische Exotik ebenso wie literarische Bezüge auf Kafka und Tonio Kröger, die meine engste literarische Heimat darstellen. Ich wagte es, das Buch neu, teuer und gebunden zu kaufen – und sollte nicht enttäuscht werden. Das wurde schon auf den ersten zwanzig Seiten klar. Da begibt sich die Hauptfigur auf eine umständliche, langatmig beschriebene Busreise in die winterliche Osttürkei, und es passiert nichts, außer dass man verzaubert wird. Das passiert langsam, unspektakulär, ganz ohne fantasymäßigen Thrill – das Abenteuer heißt ja auch Gegenwart ...
Aber ich will nicht abschweifen. Ich habe „Schnee“ (wirklich der beste Roman, den ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe) nur erwähnt, um verständlich zu machen, wie ich auf „Istanbul“, sein nächstes Buch, wartete. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein essayistisches Buch über die eigene Heimatstadt, also ein Text aus einem eher niedrigen, allenfalls journalistischen Genre, ähnlich großartig sein sollte wie ein richtiger Roman.
Understatement ist allerdings gerade der Trick des Buches. Pamuk beginnt, indem er ganz banal über seine Kindheit erzählt, über vorpubertäre Allmachtsphantasien eines weichen Kindes aus gutem Hause – und das Ganze auch noch mit Schnappschüssen aus dem Familienalbum illustriert. Im Folgenden wechseln Familienanekdötchen mit essayistischen Berichten über Istanbulansichten des 19. Jahrhunderts oder Lokalgrößen des Istanbuler Kulturlebens von anno dazumal. Einmal versteigt er sich sogar zu einer Beschreibung der speziell Istanbuler Melancholie in Form einer seitenlangen Aufzählung trauriger Dinge.
Erst nach 200 Seiten, der Hälfte des Buches, wenn alle politikfixierten Leser unweigerlich vergrault sind, lässt er die Katze aus dem Sack: Natürlich war das nicht naiv, sondern sehr bewusst politisch, dass er die finanziellen Verhältnisse seiner Familie, ihre konkreten Lebensgewohnheiten und Ansichten offen darlegt. Und es war auch kein sentimentales Sich-Verlieren, wenn er die malerischen Brände von alten Holzpalästen breit ausmalte, die er als Kind erlebt hat, oder die Autofahrten der Familie an den Bosporus. Er erzählt exemplarisch von sich: „So funktioniert das Leben bei uns.“ – um aufzuklären, nicht um irgendjemanden zu denunzieren (wie Aufklärung heute ja oft missverstanden wird). Die spielerischen Ausflüge in die Kulturgeschichte nutzt er dabei elegant, um historisch wie sozial über das Fallbeispiel seiner Familie hinauszuweisen.
In der zweiten Hälfte des Buches wird diese aufklärerische Absicht wie gesagt offensichtlich, so sehr sogar, dass sie auch in die Kapitelüberschriften Eingang findet: „Eroberung oder Fall? Die Türkisierung Konstantinopels“ oder gleich darauf „Religion“. Immer aber verankert er allgemeinere Aussagen im eigenen Erleben. Zum Beispiel erwähnt er unter „Türkisierung“ zwar die Zwänge des NATO-Mitglieds Türkei und ihrer Regierung in den fünfziger Jahren angesichts der Zypernkrise, ihr Schwanken zwischen Kuschen vor dem Westen und heimlicher Aufhetzung der eigenen Bevölkerung. Aber das ist nicht das Thema, das ist nur notwendige Hintergrundinformation. Das Thema ist, was dann tatsächlich in Istanbul los war und was er erlebt hat: die antigriechischen Pogrome. Oder er schildert seine pubertätstypischen Verrenkungen in Bezug auf die Religion (Wie streng soll man den Ramadan einhalten?), und plötzlich spürt man, das ist ja gar nicht allein sein Problem, das ist ja die Widersprüchlichkeit der ganzen Gesellschaft in religiösen Dingen.
Und überhaupt: „Fremd in einer ausländischen Schule“ heißt eine der schönsten Kapitelüberschriften. Aber wer ist hier gemeint? Orhan Pamuk oder Istanbul? Oder die ganze Türkei? Für diese mehrdeutigen Überschriften liebe ich dieses Buch. Denn sie zeigen den Sinn, den es überhaupt hat, über Politik nachzudenken: Ich lebe in der Welt, und deshalb möchte ich wissen, wie sie ist. Und was ich herausgefunden habe, das will ich auch sagen.
In Vorbereitung dieses Textes las ich in der Wikipedia, und da stand, dass manche Leser Pamuks kritische Ausführungen über die Türkei zum Anlass nahmen zu sagen: Na also, und so ein Land will nun in die EU. Was für ein Denkfehler! Dass wir keine solchen Bücher wie „Schnee“ oder „Istanbul“ haben, das liegt doch nicht daran, dass es in unserm Land nichts zu kritisieren gäbe – es liegt daran, dass wir keinen Orhan Pamuk haben!
Mir jedenfalls ist der Mann ein Vorbild: Er lässt sich nicht davon beirren, dass seine Aussagen (von seinen Befürwortern wie von seinen Gegnern) natürlich politisch missbraucht werden. Und lässt sich davon auch nicht hinreißen, sich in irgendwelche politischen Kämpfe einzuordnen. Sondern bleibt bei sich. Die letzte Kapitelüberschrift in „Istanbul“ lautet: „Ein Gespräch mit meiner Mutter: Geduld, Vorsicht, Kunst“.
Auch mich lockte „Schnee“, versprach der Roman laut der Rezensionen doch orientalische Exotik ebenso wie literarische Bezüge auf Kafka und Tonio Kröger, die meine engste literarische Heimat darstellen. Ich wagte es, das Buch neu, teuer und gebunden zu kaufen – und sollte nicht enttäuscht werden. Das wurde schon auf den ersten zwanzig Seiten klar. Da begibt sich die Hauptfigur auf eine umständliche, langatmig beschriebene Busreise in die winterliche Osttürkei, und es passiert nichts, außer dass man verzaubert wird. Das passiert langsam, unspektakulär, ganz ohne fantasymäßigen Thrill – das Abenteuer heißt ja auch Gegenwart ...
Aber ich will nicht abschweifen. Ich habe „Schnee“ (wirklich der beste Roman, den ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe) nur erwähnt, um verständlich zu machen, wie ich auf „Istanbul“, sein nächstes Buch, wartete. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein essayistisches Buch über die eigene Heimatstadt, also ein Text aus einem eher niedrigen, allenfalls journalistischen Genre, ähnlich großartig sein sollte wie ein richtiger Roman.
Understatement ist allerdings gerade der Trick des Buches. Pamuk beginnt, indem er ganz banal über seine Kindheit erzählt, über vorpubertäre Allmachtsphantasien eines weichen Kindes aus gutem Hause – und das Ganze auch noch mit Schnappschüssen aus dem Familienalbum illustriert. Im Folgenden wechseln Familienanekdötchen mit essayistischen Berichten über Istanbulansichten des 19. Jahrhunderts oder Lokalgrößen des Istanbuler Kulturlebens von anno dazumal. Einmal versteigt er sich sogar zu einer Beschreibung der speziell Istanbuler Melancholie in Form einer seitenlangen Aufzählung trauriger Dinge.
Erst nach 200 Seiten, der Hälfte des Buches, wenn alle politikfixierten Leser unweigerlich vergrault sind, lässt er die Katze aus dem Sack: Natürlich war das nicht naiv, sondern sehr bewusst politisch, dass er die finanziellen Verhältnisse seiner Familie, ihre konkreten Lebensgewohnheiten und Ansichten offen darlegt. Und es war auch kein sentimentales Sich-Verlieren, wenn er die malerischen Brände von alten Holzpalästen breit ausmalte, die er als Kind erlebt hat, oder die Autofahrten der Familie an den Bosporus. Er erzählt exemplarisch von sich: „So funktioniert das Leben bei uns.“ – um aufzuklären, nicht um irgendjemanden zu denunzieren (wie Aufklärung heute ja oft missverstanden wird). Die spielerischen Ausflüge in die Kulturgeschichte nutzt er dabei elegant, um historisch wie sozial über das Fallbeispiel seiner Familie hinauszuweisen.
In der zweiten Hälfte des Buches wird diese aufklärerische Absicht wie gesagt offensichtlich, so sehr sogar, dass sie auch in die Kapitelüberschriften Eingang findet: „Eroberung oder Fall? Die Türkisierung Konstantinopels“ oder gleich darauf „Religion“. Immer aber verankert er allgemeinere Aussagen im eigenen Erleben. Zum Beispiel erwähnt er unter „Türkisierung“ zwar die Zwänge des NATO-Mitglieds Türkei und ihrer Regierung in den fünfziger Jahren angesichts der Zypernkrise, ihr Schwanken zwischen Kuschen vor dem Westen und heimlicher Aufhetzung der eigenen Bevölkerung. Aber das ist nicht das Thema, das ist nur notwendige Hintergrundinformation. Das Thema ist, was dann tatsächlich in Istanbul los war und was er erlebt hat: die antigriechischen Pogrome. Oder er schildert seine pubertätstypischen Verrenkungen in Bezug auf die Religion (Wie streng soll man den Ramadan einhalten?), und plötzlich spürt man, das ist ja gar nicht allein sein Problem, das ist ja die Widersprüchlichkeit der ganzen Gesellschaft in religiösen Dingen.
Und überhaupt: „Fremd in einer ausländischen Schule“ heißt eine der schönsten Kapitelüberschriften. Aber wer ist hier gemeint? Orhan Pamuk oder Istanbul? Oder die ganze Türkei? Für diese mehrdeutigen Überschriften liebe ich dieses Buch. Denn sie zeigen den Sinn, den es überhaupt hat, über Politik nachzudenken: Ich lebe in der Welt, und deshalb möchte ich wissen, wie sie ist. Und was ich herausgefunden habe, das will ich auch sagen.
In Vorbereitung dieses Textes las ich in der Wikipedia, und da stand, dass manche Leser Pamuks kritische Ausführungen über die Türkei zum Anlass nahmen zu sagen: Na also, und so ein Land will nun in die EU. Was für ein Denkfehler! Dass wir keine solchen Bücher wie „Schnee“ oder „Istanbul“ haben, das liegt doch nicht daran, dass es in unserm Land nichts zu kritisieren gäbe – es liegt daran, dass wir keinen Orhan Pamuk haben!
Mir jedenfalls ist der Mann ein Vorbild: Er lässt sich nicht davon beirren, dass seine Aussagen (von seinen Befürwortern wie von seinen Gegnern) natürlich politisch missbraucht werden. Und lässt sich davon auch nicht hinreißen, sich in irgendwelche politischen Kämpfe einzuordnen. Sondern bleibt bei sich. Die letzte Kapitelüberschrift in „Istanbul“ lautet: „Ein Gespräch mit meiner Mutter: Geduld, Vorsicht, Kunst“.
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Freitag, 15. Februar 2008
Auch die Nazizeit eignet sich gut für Gruselgeschichten
damals, 00:00h
Zu meinem Geburtstag kurz vor Weihnachten bekam ich ein Buch geschenkt: „Der Junge im gestreiften Pyjama“ von John Boyne, einem jungen irischen Schriftsteller, der – wie der Klappentext vermerkt – Kreatives Schreiben studiert hat. Diese Creative-Writing-Bücher sind ja wie Kartoffelchips: Man kann einfach nicht aufhören. Also war ich nach wenigen Tagen durch – und platt vor Staunen, wie unbekümmert um historische Fakten man sich eines historischen Stoffs bedienen kann, offenbar weil NS und Auschwitz einfach den wirkungsvollsten Schockeffekt versprechen.
Als ich zu lesen begann, wusste ich noch nichts über das Buch. Aber schon nach wenigen Seiten schwante mir, dass es um die Nazizeit gehen könnte, da der Schauplatz Berlin war und die Figuren altertümliche deutsche Namen hatten. Zwar hieß die Hauptfigur untypisch deutsch Bruno. Damit wurde ihr gutes Herz angedeutet, während die böse Schwester mit dem Namen „Gretel“ gleich als Nazisse gekennzeichnet war (wie es in der Folge der „Todesfuge“ Klischee geworden ist). Aber mit der Nazizeit nicht genug – es ging gleich auch noch um Auschwitz: Der neunjährige Bruno und die zwölfjährige Gretel müssen überraschend packen, weil ihr Vater Kommandant von Auschwitz wird. Zuvor hatten sie in Berlin in einer Villa und abseits der sozialen und ideologischen Realität eine Reiche-Leute-Kindheit verbracht, die eher an die Familie eines hohen Staatsbeamten als an die eines SS-Offiziers denken ließ.
Merkwürdig auch die Ankunft in Auschwitz: Bruno und Gretel wussten nicht, wer gegenüber der Kommandantenvilla eingezäunt wohnt. Sie mutmaßten sogar, es könnte sich um Bauern handeln. Offenbar hatten sie bisher weder je einen Bauern gesehen noch waren sie mit der Blut-und-Boden-Ideologie und ihrer Bauernromantik irgendwie in Berührung gekommen. Auch dass es Juden gibt und was sie sind, war ihnen offensichtlich nicht klar.
War das Buch bis zu dieser Stelle nur äußerst unglaubwürdig, kippt es in der zweiten Hälfte völlig ins Surreale. Bruno schlendert am Zaun entlang und lernt ein einem Häftlingsjungen kennen. Unbemerkt vom Wachpersonal entwickelt sich eine intensive Freundschaft am Zaun. Gedrängt von der Sehnsucht, aus seinem behüteten, aber lieblosen Zuhause auszubrechen, lässt sich Bruno von seinem neuen Freund eine Häftlingsuniform besorgen, schlüpft durch den Zaun. Glücklich spaziert Bruno mit seinem Freund durchs Lager und endlich direkt in die Gaskammer.
In der Kommandantenvilla versteht niemand, wo Bruno abgeblieben ist. Aber über der Trauer zerbricht die Ehe. Die Mutter kehrt mit Gretel zurück in ihr Reiche-Leute-Berlin. Der Vater bleibt in Auschwitz, sinniert über Brunos am Zaun aufgefundene Kleidung, versteht und bereut. Bald darauf wird er verhaftet, folgt also seinem Sohn auf die Seite der Guten, der Unterdrückten.
So weit, so absurd. Natürlich war ich, der Rationalist in mir, zuerst wütend, wie man sich einen solchen Schwachsinn ausdenken kann. Immerhin hab ich auch mal Geschichte studiert, und dieses komplette Ignorieren der historischen Wirklichkeit, das tut mir einfach weh. Dann fragte ich mich, was der Autor eigentlich sagen wollte. Vieles in dem Buch deutet darauf hin, dass er eine Allgemeingültigkeit anstrebt, die über Auschwitz hinausweist. Und wenn man es ganz allgemein nimmt, ergibt das Ganze ja durchaus Sinn. Ja, es gibt vielerorts reiche Kinder, die so vollständig von der sozialen Realität in ihrem Land ferngehalten werden, wie Bruno und Gretel, Kinder, die allein mit der Mama und dem Dienstmädchen in einer Fantasiewelt leben, während der Papa draußen sein Ich für die Karriere verkauft. Und noch allgemeiner gesprochen, gilt das nicht nur für die reichen Kinder, sondern für alle, die in der traditionellen bürgerlichen Familienidyll-Ideologie aufwachsen. Wenn ein Jugendbuch diese Kinder ermuntert, an den Zaun zu gehen und zu fragen, wer dahinter wohnt, ist das an sich eine gute Sache.
Nur hat das nichts mit den Kindern der Nazizeit zu tun – die wurden ja im Gegenteil mit Politik und Ideologie geradezu überschüttet. Und vielleicht eignet sich die Nazizeit ja gerade auch deshalb so gut als das absolute Böse – weil sie so wenig mit unserer (westlich aufgeklärten) Lebenskultur, unseren Überzeugungen, unseren Leichen im Keller zu tun hat.
Aber diese kleinen Unterschiede scheinen dem Autor vernachlässigenswert. Die da oben sind die Bösen, die da unten sind die armen Unterdrückten, und wenn man soziale Ungerechtigkeit anprangern will, dann tut man das am besten, indem man mit den Begriffen Nationalsozialismus und Auschwitz operiert. Denn das verspricht den stärksten Effekt. Und der Effekt ist allemal wichtiger als die gedankliche Stimmigkeit, der Erfolg beweist das - das Internet ist voll von begeisterten Teenagern, die glauben, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ handle tatsächlich von der Nazizeit.
....
und demnächst: als Ausgleich eine positive Buchkritik zum Thema Vergangenheitsbewältigung (aber ich verrate noch nicht, was es ist)
Als ich zu lesen begann, wusste ich noch nichts über das Buch. Aber schon nach wenigen Seiten schwante mir, dass es um die Nazizeit gehen könnte, da der Schauplatz Berlin war und die Figuren altertümliche deutsche Namen hatten. Zwar hieß die Hauptfigur untypisch deutsch Bruno. Damit wurde ihr gutes Herz angedeutet, während die böse Schwester mit dem Namen „Gretel“ gleich als Nazisse gekennzeichnet war (wie es in der Folge der „Todesfuge“ Klischee geworden ist). Aber mit der Nazizeit nicht genug – es ging gleich auch noch um Auschwitz: Der neunjährige Bruno und die zwölfjährige Gretel müssen überraschend packen, weil ihr Vater Kommandant von Auschwitz wird. Zuvor hatten sie in Berlin in einer Villa und abseits der sozialen und ideologischen Realität eine Reiche-Leute-Kindheit verbracht, die eher an die Familie eines hohen Staatsbeamten als an die eines SS-Offiziers denken ließ.
Merkwürdig auch die Ankunft in Auschwitz: Bruno und Gretel wussten nicht, wer gegenüber der Kommandantenvilla eingezäunt wohnt. Sie mutmaßten sogar, es könnte sich um Bauern handeln. Offenbar hatten sie bisher weder je einen Bauern gesehen noch waren sie mit der Blut-und-Boden-Ideologie und ihrer Bauernromantik irgendwie in Berührung gekommen. Auch dass es Juden gibt und was sie sind, war ihnen offensichtlich nicht klar.
War das Buch bis zu dieser Stelle nur äußerst unglaubwürdig, kippt es in der zweiten Hälfte völlig ins Surreale. Bruno schlendert am Zaun entlang und lernt ein einem Häftlingsjungen kennen. Unbemerkt vom Wachpersonal entwickelt sich eine intensive Freundschaft am Zaun. Gedrängt von der Sehnsucht, aus seinem behüteten, aber lieblosen Zuhause auszubrechen, lässt sich Bruno von seinem neuen Freund eine Häftlingsuniform besorgen, schlüpft durch den Zaun. Glücklich spaziert Bruno mit seinem Freund durchs Lager und endlich direkt in die Gaskammer.
In der Kommandantenvilla versteht niemand, wo Bruno abgeblieben ist. Aber über der Trauer zerbricht die Ehe. Die Mutter kehrt mit Gretel zurück in ihr Reiche-Leute-Berlin. Der Vater bleibt in Auschwitz, sinniert über Brunos am Zaun aufgefundene Kleidung, versteht und bereut. Bald darauf wird er verhaftet, folgt also seinem Sohn auf die Seite der Guten, der Unterdrückten.
So weit, so absurd. Natürlich war ich, der Rationalist in mir, zuerst wütend, wie man sich einen solchen Schwachsinn ausdenken kann. Immerhin hab ich auch mal Geschichte studiert, und dieses komplette Ignorieren der historischen Wirklichkeit, das tut mir einfach weh. Dann fragte ich mich, was der Autor eigentlich sagen wollte. Vieles in dem Buch deutet darauf hin, dass er eine Allgemeingültigkeit anstrebt, die über Auschwitz hinausweist. Und wenn man es ganz allgemein nimmt, ergibt das Ganze ja durchaus Sinn. Ja, es gibt vielerorts reiche Kinder, die so vollständig von der sozialen Realität in ihrem Land ferngehalten werden, wie Bruno und Gretel, Kinder, die allein mit der Mama und dem Dienstmädchen in einer Fantasiewelt leben, während der Papa draußen sein Ich für die Karriere verkauft. Und noch allgemeiner gesprochen, gilt das nicht nur für die reichen Kinder, sondern für alle, die in der traditionellen bürgerlichen Familienidyll-Ideologie aufwachsen. Wenn ein Jugendbuch diese Kinder ermuntert, an den Zaun zu gehen und zu fragen, wer dahinter wohnt, ist das an sich eine gute Sache.
Nur hat das nichts mit den Kindern der Nazizeit zu tun – die wurden ja im Gegenteil mit Politik und Ideologie geradezu überschüttet. Und vielleicht eignet sich die Nazizeit ja gerade auch deshalb so gut als das absolute Böse – weil sie so wenig mit unserer (westlich aufgeklärten) Lebenskultur, unseren Überzeugungen, unseren Leichen im Keller zu tun hat.
Aber diese kleinen Unterschiede scheinen dem Autor vernachlässigenswert. Die da oben sind die Bösen, die da unten sind die armen Unterdrückten, und wenn man soziale Ungerechtigkeit anprangern will, dann tut man das am besten, indem man mit den Begriffen Nationalsozialismus und Auschwitz operiert. Denn das verspricht den stärksten Effekt. Und der Effekt ist allemal wichtiger als die gedankliche Stimmigkeit, der Erfolg beweist das - das Internet ist voll von begeisterten Teenagern, die glauben, „Der Junge im gestreiften Pyjama“ handle tatsächlich von der Nazizeit.
....
und demnächst: als Ausgleich eine positive Buchkritik zum Thema Vergangenheitsbewältigung (aber ich verrate noch nicht, was es ist)
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