Donnerstag, 4. Juni 2009
Kulturkritische Anmerkung zu "Mein Lieblingsfilm"
Es gilt zu bedenken, dass nach den Juden die Armenier das zweite grundsätzlich heimatlose Volk sind - jedenfalls zum überwiegenden Teil - (dann gibt es natürlich noch die Palästinenser, die Kurden usw.): Sie sind notgedrungen schon längst in der Globalisierung angekommen. Von ihnen gilt es zu lernen.

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Mein Lieblingsfilm: "Calendar"
„Simons Geheimnis“ von Atom Egoyan kam im Kino und enttäuschte mich etwas. In der ersten Viertelstunde hatte ich gar sogar den Eindruck, in eine blöde Politposse in der Preislage von „Die Welle“ geraten zu sein. Dann wurde es besser: ein kluger, sympathischer Film und auch wieder herrlich abstrus – aber eben doch nicht der große Wurf.
Ich erinnerte mich aus diesem Anlass an meinen ersten Egoyan-Film – und sah ihn auch nochmal. Es war 1993 und ich war als Student in einem SouterrainZimmer in Westdeutschland gelandet, wo ich die Nächte hindurch die Cineasten-Programme der Öffentlich-Rechtlichen verfolgte und jeden Dienstagabend vor dem „Kleinen Fernsehspiel“ saß. Da kam er, dieser eigentlich unmögliche Film: der ohne eigentliche Handlung auskommt, in dem 14 Sprachen gesprochen werden (und nur das Englische ist untertitelt) und den zwölf wunderschöne Kalenderblätter als so genannte Stills strukturieren – Kalenderblätter mit Aufnahmen armenischer Kirchen, dazwischen erzählen wackelige Videoaufnahmen, in denen jemand willkürlich vor- und zurückspult, wie die Fotos entstanden, und zwölfmal sieht man als Kontrast den Fotografen ein Jahr später in seinem kalt und künstlich ausgeleuchtetem Wohnzimmer in Kanada vor dem Kalender sitzen und leiden.
Ich begriff vor diesem Film alles: Dass alles verloren hat, wer sein inneres Armenien verloren hat. Dass es aber keinen Zweck hat dorthin zurückzugehen. Denn es sieht zwar wunderschön aus, aber es ist so arm und autoritär wie eh und je. Und dennoch: Wer es verleugnet, der wird in der Eiseskälte der westlichen Welt erfrieren.
Die Helden des Films sind die Frauen. Zwölf Frauen. Sie sprechen armenisch, deutsch, türkisch, serbokroatisch usw. Sie tragen die Erinnerung an die Heimat mit einem Stolz durch den anglophonen Westen, der sie zu den eigentlichen Westlerinnen macht. „Was heißt, du betrachtest dich als Ägypterin?“ fragt der Fotograf eine der Frauen, die gar nicht in Ägypten geboren ist, nur einen Großvater von dort hat. Es heißt Stolz, Erinnerung. Nicht Regression. Nicht Ostalgie.

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Meine Lieblingsfilme (eine kleine Auswahl)
Lieblingsfilme hatte ich schon viele – da könnte ich zurückgehen bis zu „Pan Tau“, dem Beschützer aller Kinder, der aber schon bald von „Saxana“, dem „Mädchen auf dem Besenstiel“ abgelöst wurde, als mit den ersten Schulerfahrungen die Existenz des weiblichen Geschlechts als solchem in mein Bewusstsein trat.
Und so ging es weiter: Als ich mit 17 die Politik für mich entdeckte, war es dann „Vermisst“ von Costa-Gavras – und Sissy Spacek als blasser Hippie die schönste Frau der Welt. Die realen Begegnungen mit Frauen dann eher desaströs – aber es gab ja Gott sei Dank Michel Serrault, der sich von Lino Ventura einfach nicht unterkriegen lässt, und ich erklärte „Das Verhör“ zum Filmkunstwerk Nr. 1.
Gut zehn Jahre später, immer noch zappelnd in postpubertären Verstrickungen, rettete mich „Lost Highway“ aus der beamtenmiefigen Tristesse eines Staatlichen Studienseminars in der niedersächsischen Provinz, wo ich mich schon fast aufgegeben hatte: Wenn diese – Lynchs – Art der Weltsicht sogar hollywoodkompatibel ist, sagte ich mir, dann bin ich vielleicht doch nicht so verkehrt in dieser Welt.
So retten einen Filme, und so verwechselt man Qualität manchmal auch mit der persönlichen Gefühlslage. Ich hab sogar mal (unter dem akuten Eindruck einer Psychotherapie) zwei Jahre lang geglaubt, „Mulholland Drive“ wäre noch besser als „Lost Highway“. Natürlich ein Irrtum. Und seit „Brokeback Mountain“ ist ja auch „Das Hochzeitsbankett“ nicht der Weisheit letzter Schluss.
Ein Film aber, und das erstaunt mich fast, der bleibt: „Calendar“ von und mit Atom Egoyan aus dem Jahr 93. Ich hab ihn aus aktuellem Anlass wieder gesehen letzte Woche, von derselben schraddeligen alten Videokassette – und er ist noch immer großartig.

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Dienstag, 24. März 2009
Hans Erich Nossack: "Der Untergang" (1943)
Der Ton macht die Musik nicht und „Le style c'est l`homme“ – das stimmt auch nicht. Was ich da nämlich auf dem Bücherflohmarkt unserer Gemeinde fand und mit nach Hause trug (neben Christa Wolfs „Leibhaftig“, Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ und einem Schulbuch über die Hamburger Sturmflut von 1962), das klang, als ich anfing, es zu lesen, so verstaubt und ultrakonservativ wie Ernst von Salomon, der dort auch auf jedem der Wühltische umherlag. Aber war es nicht.
Sondern ein spannender autobiografischer Bericht von mitreißender Authentizität. Nossacks Frau hatte ein Häuschen, wohl eher eine Hütte, gemietet für vierzehn Tage, in der Heide südlich Hamburgs, und der Autor selber war ihr gefolgt. Drei Tage später fielen die Bomben, ein paar Tage und Nächte lang, Nossack sah sie am Nachthimmel heranfliegen und erfuhr kurze Zeit später, als die ersten Flüchtlinge den Ort erreichten, dass auch sein Haus nicht mehr stehen würde. Nach einigem Zögern entschließt sich das Ehepaar Nossack, nach Hamburg zu fahren. Sie besichtigen die Reste des Büros (Nossack hatte die kleine Importfirma seines Vaters geleitet) sowie ihre Straße, wo ihr Haus tatsächlich nicht mehr vorhanden ist – und auch der im Nachbarkeller verwahrte Koffer bereits gestohlen.
So weit die Handlung des Textes. Was den Stil betrifft, hatte ich anfangs wie gesagt meine Schwierigkeiten: Vom „Auftrag“, etwas zu schreiben, wurde da geredet, vom Schicksal geraunt und viel mystisch um die Sachen herumgeredet, wie man das in den dreißiger/vierziger Jahren eben so machte. Denn der Text ist Ende 1943 entstanden, ein halbes Jahr nach den Ereignissen. Ja, aber so ist das eben, das wurde mir schnell klar: Wer in seiner Zeit lebt und lebendig ist, der redet auch im Stil seiner Zeit, wenn er nicht völlig abgedreht ist. Und was mich beeindruckte: dass dieser Autor, der stilistisch ganz zeitbefangen ist (nenn es Nazistil, nenn es prä-existenzialistisch, nenn es Mystizismus – ganz egal), politisch so frei ist, wie man es nur sein kann, wenn man sich seiner Zeit nicht verweigert. (Und er war Kommunist, wie ich später bei Wikipedia nachlas, er hätte das Recht gehabt, politisch rumzumotzen.)
Aber er tut es nicht. Wer zum Beispiel an diesem Krieg Schuld ist, macht er nicht zum Thema. Ideologie ist nicht seine Sache. Er sieht die Bomber, er sieht das Unrecht und er benennt es. Und die Wenigen, die neben ihm stehen und abgeschossene Bomber bejubeln, für die hat er nur kopfschüttelnde Verachtung. Morden ist Unrecht, so oder so.
Insofern hat er mit seinem Schicksalraunen ja sogar auch Recht: Ein solcher Krieg bedeutet den Untergang der Zivilisation. Wir viel später Geborenen wissen ganz selbstverständlich, dass in diesen Jahren die Moderne untergegangen ist – und dass seitdem die August-Macke-Bilder nur noch als Kitsch-Objekte möglich sind und „Berlin Alexanderplatz“ keinen Menschen mehr aufregt. Aber er sah es schon im Moment des Geschehens.
Ergreifend an dieser Geschichte ist auch, dass Nossack diesen Untergang als Befreiung erlebt. Da gehört schon einige Größe dazu: Ein verbotener, erfolgloser Schriftsteller, dem der schriftliche Ertrag von Jahren, Jahrzehnten soeben verbrannt ist: der fühlt sich befreit. Und der fühlt, wie die Ordnungsmacht, die diktatorische Ordnungsmacht, nach dem ersten Schock schon wieder zu dirigieren versucht: die Flüchtlingsmassen kanalisiert, die zerbombten Stadtteile absperrt – und er beschließt, mit Hilfe seiner heimatliebenden Frau, nicht Flüchtling zu werden, sich nicht aufzugeben, sondern zurückzukehren in die zerstörte Stadt, die sein Zuhause ist.
So möchte man leben. Ist mir ein Vorbild.

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Sonntag, 8. März 2009
„Am Rand“ von Şebnem Işigüzel - Interpretation der Seiten 52/53
Wenn es Sonntag ist und regnet und kein Termin weit und breit, das sind die besten Tage. Die Kleinfamilie schlurte bis zwölf im Schlafanzug zwischen Bett (Morgenkaffee, Bilderbücher, Zeitung) und Sofa (Fernsehen: „Sendung mit der Maus“) hin und her, dann bewegte ich mich als Erster langsam in Richtung Badezimmer. Unterwegs am Nachttisch konnte ich nicht widerstehen und klappte für fünf – sechs Minuten meinen Roman auf, las zwei Seiten – und war schon wieder begeistert ...
Mein Roman ist noch ein Geburtstagsgeschenk, vom Dezember. Ich hatte mir ein Buch gewünscht, meine Frau hatte nicht gewusst welches und vorgeschlagen, sich von der Auslage bei Christiansen in Ottensen inspirieren zu lassen. Es lief auf eine Hitliste von drei Titeln hinaus: den ersten kriegte ich von meiner Frau (und der war schon super), Nr. 2 finanzierte ich mit dem Büchergutschein von der Firma – den lese ich gerade: „Am Rand“ von Şebnem Işigüzel. Die Autorin, hat man den Eindruck, arbeitet mit allen erlaubten und verbotenen Tricks, die einem Schriftsteller so zur Verfügung stehen. Man mag das unseriös finden. Aber ich liebe das, von jeder Seite so richtig durchgeschüttelt zu werden.
Inhaltlich geht es (bis jetzt jedenfalls) um eine türkische Schachspielerin, die Diplomatentochter Leyla, die durch eine unglückliche Kombination persönlich-familiärer wie politischer Gewalttätigkeiten so ins Straucheln gerät, dass sich die Obdachlosigkeit als die immer noch erträglichere Daseinsform erweist: „Dabei war sie so weit bei sich, dass sie denken konnte, sie sei verrückt oder wahnsinnig geworden. Wie wir alle hatte sie ihre Angelegenheiten mit Gott noch nicht abgeschlossen.“ So beginnt die S. 52, die ich vorhin las – und da kann man ja wohl nur zustimmen.
Und dann geht es weiter: Reminiszenzen ihrer internationalen Schachkollegen werden zitiert, anlässlich ihres Verschwindens geäußert. Es läuft darauf hinaus, dass sie „universal und harmonisch“ gespielt hat, mit einer intuitiven Logik – also gerade nicht mit einer auf den Gegner fixierten, den Gegner überlistenden Strategie, sondern mit einer hingebungsvollen Strategie, die den Plan aus der Eigenlogik der Figuren entwickelt. Da denkt man natürlich sofort an die „Schachnovelle“ von Zweig, an den Kitsch der klassischen Moderne, wo der fies rationale Czentovic über den intuitiv spielerischen freien Geist Dr. B. triumphiert.
Und wie um noch eins draufzusetzen, wird dann Nabokov zitiert: „Laylas Trainer Pinkoschow erinnerte sie an das, was Nabokov über Tolstois anna Karenina gesagt hatte: >Es ist so, dass wir manchmal das Gefühl haben, Tolstois Romane hätten sich von selbst geschrieben, als seien sie von ihrem Material, ihrem Sujet verfasst worden.< Diese Definition passte zu Leyla ...“ Nabokov also, dieses Lieblingskind der Modernisten, definiert, was universal und ewig ist.
In meinen Augen ist Nabokov aber eher ein Schriftsteller, der seine persönliche Heimatlosig- und Verlorenheit unter technischer Raffinesse versteckt. Und so sieht es wohl auch Işigüzel. Denn die Schachspielerin, die dermaßen frei, unindividuell und „universal“ spielt – die verschwindet auch ganz leicht von der Bildfläche: „Nun gab es auch keine Schachspielerin namens Leyla mehr.“
So ist es. Das Gehasche nach Größe, Universalität, Ewigkeit – es ist aussichtslos, wenn es nicht vom Ich ausgeht. Das dacht ich, als ich vorhin zufrieden und glücklich unter der Dusche stand. Ich dachte auch an meinen Kollegen H., der mich letzte Woche fragte, ob ich mit meinem zweiten Staatsexamen es nicht doch noch einmal an einer Schule probieren wolle. „Das ist nicht mein Milieu.“ hab ich geantwortet. Er lachte und sagte: „Na, dann bleibst du bei uns, bei den Eck- und Randgruppen.“ Gerne. „Am Rand“ ist mein Buch.
Übrigens: Es ist auch ein Buch ohne Verlagswerbung am Ende. In der heutigen Zeit ein Adelsausweis.

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Donnerstag, 15. Januar 2009
Meine scharfsinnige Analyse von Uwe Tellkamps "Der Turm", Teil 2
Im zweiten Teil des Buches nimmt das Tempo zu, die Länge der Sätze ab. Menos Lieblingsautorin Judith Schevola wird vom Schriftstellerverband geschasst, Christian kommt zur Armee. Die anderen Figuren machen weiter wie bisher, was angesichts der Umstände immer alberner wird.
Denn die Armeegeschichte um Christian bringt auf den Punkt, wie schlimm alles ist. Kein Platz mehr für Lyrik. Die brutalen Quälereien im Zuge der berüchtigten EK-Bewegung veranlassen Christian stillzuhalten und sich später einer der brutalsten, aber auch souveränsten Figuren anzuschließen: dem Schwarzhändler Pfannkuchen. Endlich gelingt es Christian, in einer überbordenden Situation seine Wut herauszubrüllen. Die Folge ist Schwedt, der Militärknast. Sein Beschützer Pfannkuchen, der ihm beigesprungen ist, muss mit ihm gehen. Es ist ein grausiger Weg, der da beschrieben wird, und besonders grausig ist, dass es für Christian ein Weg in die Emanzipation ist.
Am Ende zerfällt die DDR und man kann nicht mal richtig froh sein. Höchstens erleichtert.
Und was fand ich an dem Buch nun so gut? Das, was der Literaturkritiker Denis Scheck so furchtbar daran fand: dass es „nach Schweiß“ stinkt. Tellkamps Buch ist das Gegenteil von Breloers diszipliniert kalkulierten Werken. Da hat sich einer sehr viel vorgenommen und ist in vielem davon gescheitert, in manchem nicht. Da spürt man in jeder Zeile, dass da ein Mensch um seine Sprache kämpft. Er probiert es mal mythisch-metaphorisch, mal sachlich berichtend, mal satirisch. Sowohl was den Handlungsfaden als auch was den Stil betrifft, setzt er immer wieder neu an, als hätte er den Eindruck, es wieder nicht auf den Punkt getroffen zu haben. Dadurch entsteht ein Buch, das schwer zu lesen, aber ungeheuer reich ist. Nichts ist so, wie es scheint. Die Bewertungen der Figuren werden wieder und wieder umgedreht. Immer, wenn man hundert Seiten gelesen hat, sieht dieselbe Welt wieder völlig anders aus.
Und wenn Ihr mich fragt: Auf den Punkt getroffen hat Tellkamp meistens da, wo er sich am wenigsten anstrengt - in der Beschreibung kleiner Alltagssituationen, die „in nuce“ das ganze Stimmungs- und Konfliktpotential der späten DDR offenbaren.
Vielfach hört man die Meinung, „Der Turm“ sei ein genüsslich zu lesendes Buch, das die Welt der Bildungsbürger nostalgisch heraufbeschwört. Oder gar ein Buch, das sich zur Aufgabe gemacht hätte, die nachträgliche Verklärung der politischen Verhältnisse in der DDR zu entlarven. Nichts ist falscher, nichts ist oberflächlicher als solche Meinungen. „Der Turm“ hat keine platten Botschaften, er ist auch nicht gut zu lesen, die Schätze in ihm, die muss man suchen. Er ist depressiv und schüchtern aufbegehrend, selbstgerecht und angepasst, ärgerlich platt und beeindruckend feinsinnig. Alles, was man will. Nehmt Euch die Zeit und sucht Euren Schatz aus diesem herrlichen Wildwuchs.

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Mittwoch, 14. Januar 2009
Meine scharfsinnige Analyse von Uwe Tellkamps "Der Turm", Teil 1
Empfehlen muss ich diesmal einen Bestseller. Denn er ist wirklich gut. Ich hätte das vorher auch nicht gedacht, schließlich hat Tellkamp mit einer Vorarbeit zu diesem Buch den Bachmannpreis gewonnen – und diese Vorarbeit war eher – naja, wie sagt man: aufgesetzt? künstlich? musterschülerhaft? – jedenfalls kein Lesespaß und unerträglich bildungshuberisch. Prompt hat es dieser kleine Text ("Der Schlaf in den Uhren") auch ins niedersächsische Zentralabitur geschafft. Ich fand das lustig, ich konnte mir richtig vorstellen, wie jetzt die Studienräte dasitzen und sich sagen: Ja, das ist noch richtig anspruchsvolle Literatur und die Kinder sollen ruhig mal ins Schwitzen kommen in der Klausur.
Wie dem auch sei, auch im „Turm“ sind die Stellen die schlechtesten, wo Tellkamp beweist, was er alles weiß. Dass alte metallene Uhrenzifferblätter „gepunzt“ wurden. Welche Witze man sich 1983 in DDR erzählt hat. Wer zwischen 1930 und 1950 so alles den „Rosenkavalier“ dirigiert hat. Usw. Gähn.
Alles ist auf ein „Opus magnum“ hin angelegt. Der Autor malt ein breites Panorama des Dresden der achtziger Jahre. Im Mittelpunkt steht eine Medizinerfamilie, die halbwüchsigen Robert und Christian Hoffmann, ihre Eltern Anne und Richard (Krankenschwester und Handchirurg) sowie diverse Onkel, Tanten, Nichten und Neffen. Im Mittelpunkt steht die Figur Christian und deren noch pubertäre Sichtweise, was dazu führt, dass Christians Charakter (zumindest im ersten Teil des Buches) ziemlich blass bleibt, z. B. im Vergleich zu den breit ausgemalten Szenen aus dem Klinikleben des Vaters.
Die zweite Hauptfigur ist Christians Lieblingsonkel Meno, Lektor, ein introvertierter, fast schrulliger Beobachter und Schweiger, dessen lyrische Ergüsse oft kursiv in den Text gesetzt sind, versponnene Endlosmonologe zwischen Ironie und gewagter Metaphorik. Meno kennt auch Arbogast, der unschwer als Manfred von Ardenne zu erkennen ist und als solcher in keinem Dresden-Buch fehlen darf.
Ansonsten besteht Menos Arbeit vor allem darin, sich zu den Texten der von ihm betreuten kritischen Autoren möglichst nicht zu äußern, während Christian, abgeschoben ins Internat, die volle Wucht sozialistischer Erziehung zu erleiden hat und heimlich in Verena verliebt ist, weil die sich traut, dem Staatsbürgekundelehrer zu widersprechen. In Christian wiederum verliebt ist Reina, eine scheinbar naive, doch menschlich offene und faire Anhängerin des Sozialismus. Christian, angesteckt von der neurotischen Angst der Elterngeneration, fragt sich (und später seinen Onkel Meno), ob man eine solche Person möglicherweise zurücklieben dürfe. Der sagt erschrocken „nein“. Währenddessen hat sein Vater eine Geliebte und wird damit von der Stasi erpresst.

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Samstag, 3. Januar 2009
Das Jahrhundertbuch (Januar 04)
Folgender Text entstand in den letzten Tagen im Zug:
„Mein Jahrhundertbuch. 51 Liebeserklärungen.“ Wie kam dieses Buch auf den Hocker neben meinem Bett, in diesen Stapel von Schriften, die ich lesen wollte, aber nicht werde? Ich weiß nicht mehr, wer es mir mitgebracht hat – selbst würd ich mir so was ja nie kaufen – ein „ZEIT-Buch“ (!), „herausgegeben von Iris Radisch" (!), Studienratslektüre für Leute, die Literatur nicht selber lesen, sondern nur darüber informiert sein wollen. Bei mir im Zimmer kann man sich aus erster Hand informieren, was das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts sein soll – oder könnte es jedenfalls. Die Staubschichten auf den Bücherreihen zeigen, dass keiner diese Möglichkeit nutzt, ich nicht und ein anderer schon gar nicht. Hat mir deshalb einer dieses Buch geschenkt? Einer von denen, die sich damals über Iris Radisch und Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ die Köpfe heiß redeten und sich wunderbar literarisch interessiert dabei vorkamen, obwohl sie ihre Freizeit mit jeweils 2-3 verzogenen Gören sowie in Sportklubs und vor CD- und DVD-Regalen verbringen, anstatt zu lesen, und die in mir, in ihrer Freundschaft zu mir immerhin den Beweis sehen, dass sie noch nicht ganz verblödet sind?
Und jetzt kräht selbst ein Säugling im Zimmer neben meinem, einer, der nichts weiß von Iris Radisch und der ZEIT, einer, der mich anlachen möchte oder schreien oder einfach umhersabbern und an seinen Zehen spielen – alles, nur nicht schlafen, und noch schlimmer, jetzt geh ich jeden Tag arbeiten, um Geld heranzuschaffen für die Frau, die ihn stillt und die mich zu umarmen versucht, wenn ich schon nichts mehr spüre, weil es so warm ist, so überheizt in dieser überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnung und ich den Tag, den lieben langen Tag in Klassenzimmern verbracht habe und vergeblich den Lehrer gespielt, eine Figur also, die ich selber bedauert habe, als ich noch Schüler war und frei zu denken, was ich wollte.
Aber das wollte ich nicht sagen, ich wollte über „Das Jahrhundertbuch“ reden. Wollte mich lustig machen, wie erwartungsgemäß langweilig da alles daherkommt: wenn Jerofejew sich aus fadenscheinigen Gründen für Nabokows „Lolita“ begeistert – weil ihn der Verkaufserfolg offenbar mehr fasziniert als die guten Bücher, die Nabokow immerhin auch geschrieben hat. Wenn Salman Rushdie ganz den gelehrigen 3.-Weltler markiert, indem er den mainstreamigsten Klassiker aus der 1.-Welt-Literatur empfiehlt: „Ulysses“, den keiner von uns gelesen hat, es sei denn im Grundstudium oder an der Volkshochschule. Und wenn den mittleren Europäern nichts anderes einfällt als Kafka, Kafka und natürlich Hitler und Stalin.
Jetzt liegt dieses langweilige Buch auf meinem Nachttisch, auf dem Gerät, das mein Nachttisch sein soll oder hätte sein sollen. Denn wozu brauche ich einen Nachttisch, da ich abends nicht zum Lesen komme und morgens aus dem Bett spring, weil ichs eilig hab. Und die Brille leg ich lieber auf das Fensterbrett. Die Sachen auf den Fußboden, weil mich das an das Chaos von früher erinnert, als es noch ein fröhliches war. Meine Freundin liegt nebenan mit dem Kleinen und auch ich liege manchmal nebenan, meistens sogar um ehrlich zu sein, wenn mir nach Nähe ist, wenn ich lebendig bin. Und das Buch auf meinem Nachttisch verstaubt. Was sollte ich auch damit in einer Welt, in der es keine patriarchalischen Diktatoren gibt und auch keine Lolitas.
Mein Chef ist ein müder, alter Mann, weißhaarig, mit traurigen Augen und einer Vorliebe für kleine Witze und ironische Bemerkungen. Entscheidungen scheut er. Dass er mir gekündigt hat letzte Woche, das war überhaupt nicht er, das ist wie ein Blitzschlag durch ihn durchgegangen von irgendwoher – das hat nun mich getroffen, und er blickt sich verwundert um, wie er das Phänomen überlebt hat. Wie ich es überlebt habe, interessiert ihn so wenig wie die meisten Erscheinungen dieser Welt.
Und ich wittere eine Chance, wieder zu meinen Büchern zu kommen, in meine Bücherhöhle, in die Phantasiewelt des 20. Jahrhunderts: wo es um Macht geht und Katastrophen, um zerstörerische Triebe und Giganten, die ganze Völker morden, um die Größe des Untergangs. Ja, ich weiß, es gibt das alles. Aber es ist nur ein Bruchteil, es sind nur Buchtitel, es ist nicht das Ganze. Und ich, wenn ich das Buch des Jahrhunderts wählen sollte, ich nennte nicht den „Prozess“ und auch nicht „Das kleine Arschloch“ – sondern den „Roman eines Schicksallosen“. Oder Anna Seghers’ Roman über den Identitätslosen, der bleiben will, bleiben und leben.

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Freitag, 25. Juli 2008
Shani Katayun: Augen in Teheran
Was wirklich schön ist an meiner Arbeit (Deutsch-Unterricht für Ausländer), ist, dass man so viel von der Welt erfährt, ohne seinen engsten Umkreis verlassen zu müssen: Vor ein paar Wochen sagte mir eine iranische Kollegin zwischen Tür und Angel: "ich habe einen Roman geschrieben." Ich war ganz baff, und schon aus Kollegen-Solidarität kaufte ich ihn. Dann las ich ihn - und er war eine echte Entdeckung. Hier meine Rezension -für alle, die jenseits des professionellen Mainstreams spannendes Lesefutter suchen:

Dieser Roman hat eher die Qualitäten eines Berichts: in künstlerischer Hinsicht bescheiden, dafür aber gut und flüssig geschrieben – und faszinierend durch seine Lebensechtheit. Wer mehr über den Iran wissen will, als aus den Politikteilen unserer Tageszeitungen ersichtlich ist, sollte zu diesem Buch greifen. Man erlebt eine Diktatur, in der politische Unfreiheit Hand in Hand mit westlichem Lebensstil und stockkonservativen Familientradition geht. (Eine „Emanzipation der Miniröcke“ nennt das die Autorin: Miniröcke sind üblich, Zwangsverheiratungen auch.) Außerdem gibt es eine echte Befreiungsbewegung (die islamistische), die autoritär und reaktionär ist; einen Freiheitshelden (kommunistisch), der seine Freundin benutzt und bevormundet; einen deutschen Journalisten (liberal und weltoffen), der insgeheim nur das Geld liebt ... und zwischen all dem drei Schwestern, die immer wieder betrogen werden: im Namen der islamischen Tradition, im Namen des Kommunismus, im Namen der westlichen Freiheit – kurz: im Namen der Männer. Traurig.

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Freitag, 18. Juli 2008
Achtung, Wiederholung: "Das Leben der Anderen"
Aus gegebenem Anlass (Lady Woodstock hat nachgefragt) äußere ich mich nochmal zum "Leben der Anderen" (hier mein erster Text dazu: http://damals.blogger.de/stories/751508/.)

Als der Film rauskam und dank massiven Werbeeinsatzes und prominenter Besetzung gleich überall im Gespräch war, wurde Donnersmarck in einer Talk Show von dem Schauspieler Henry Hübchen massiv angegriffen. In diesem Zusammenhang schrieb ich einen Kommentar in dem Blog von Herrn Donnersmarck, aus dem ich hier zitiere:

Viele Menschen, auch aus meinem Bekanntenkreis, haben „Das Leben der anderen“ mit Rührung und Begeisterung gesehen – während mich der Film genervt hat, aggressiv gemacht hat.
Zwar ist Ihre Analyse der späten DDR meines Erachtens rein sachlich völlig richtig. Insofern kann ich mich als geborener DDR-Bürger in die Reihe der von Ihnen aufgerufenen Zeitzeugen einordnen. Dass Ihnen hier und da kleine historischen Fehler unterlaufen sind, wie das Feuilleton an diversen Stellen anmerkte, finde ich gar nicht so schlimm. Gut fand ich, wie genau in Ihrem Film die miefig-spießige Atmosphäre in der DDR der 80er Jahre getroffen und reproduziert wird. Nur: Wieso diese klischeehafte und eindimensionale Charakterzeichnung aller Figuren mit Ausnahme der Hauptfigur? „Da hätte ich mir auch nen >Tatort< ansehen können.“ meinte ein (westdeutscher) Bekannter nach dem Kinobesuch achselzuckend.
Und er hatte Recht: der aufrechte Intellektuelle in der unvermeidlichen Lederjacke, die geniale, aber verführbare Künstlerin (die als femme fatale natürlich am Ende unter die Räder kommen muss), der gefräßige und brutale Minister, ... das war schon schwer erträglich.
Natürlich ist solche Vereinfachung künstlerisch erlaubt, z. B. eben im „Tatort“: um eine im Kern richtige Gesellschaftsanalyse für den Sonntagabend tauglich zu machen, auf dass sie jedermann nach dem Abendbrot noch leichthin konsumieren kann. Oder weil es dem Regisseur gar nicht auf die Figuren ankommt, sondern auf irgendetwas anderes. Ich fragte mich, was Ihnen so wichtig war, dass Sie dafür einen Großteil des filmischen Geschehens zur „rührseligen Politschmonzette“ vereinfacht haben, wie Henry Hübchen richtig anmerkte.
Ging es Ihnen um das Ins-Bild-Setzen einer masochistischen Ohnmachtsfantasie? Um Mitgefühl für einen Spitzel, der menschliche Gefühle entwickelt (was normal und verständlich ist), sie aber nicht haben darf, der auch mal Schicksal spielen will wie seine mächtigen Chefs und dann die Folgen zu spüren bekommt – und nicht, nicht mal im Ansatz, begreift, dass das ganze Spiel mies ist, egal für wen man Partei ergreift? Er ist übrigens großartig geschildert, wie er mit seinem Wägelchen geduckt durch die Straßen läuft und Werbezeitungen verteilt und sich vermutlich ziemlich selbst bemitleidet. Genau so laufen sie noch heute rum in den neuen Bundesländern, diese miesen kleinen Würstchen, die uns regiert haben! Und glauben, sie wären die eigentlichen Opfer.
Oder wollten Sie einfach einen hollywoodtauglichen Film mit möglichst deutschem Sujet herstellen? Wofür ja die unangenehm kommerzielle und sicher sehr teure Werbekampagne für den Film spricht. (Wer hat die eigentlich bezahlt?)
Da muss man doch mit Hübchen daran erinnern, dass die Welt nicht so eindimensional ist, wie diese Stasi-Typen (und auch dieser Film) sie sehen. Wir waren Menschen und wir konnten (natürlich zu selten, natürlich nur manchmal) lachen über das Lächerliche und verachten, was verachtenswert ist. Die Machtbesessenheit dieses Systems und seiner Erfüllungsgehilfen, natürlich gab es die, aber ist sie das wirklich Erinnernswerte an der DDR?
Ich finde, bei der Übersetzung von DDR in Hollywood ist ein entscheidender Fehler unterlaufen: Die Logik, mit der in der DDR Angst erzeugt wurde, wurde exakt nachgebaut und überliefert – die Angst (und auch der Mut) derer, die diese Logik zu erdulden hatten, ist unter lauter Kitsch verschwunden.
Es mag sein, dass ich jetzt zu viel hineingesehen habe in Ihren Film, der ja nur ein Unterhaltungsfilm sein will. Aber immerhin, es ist ein Kinofilm, ein gefeierter, und der Bundestag ist auch schon da gewesen. Ach, hätten Sie doch lieber mit Fernsehen angefangen! (Irgendein Feuilleton berichtete, Sie hätten der Versuchung Fernsehregie widerstanden, um auf die Chance zum großen Kinofilm zu warten.) Hätten Sie das Ganze tatsächlich als „Tatort“ realisiert – es wäre sicher einer der besseren geworden. Und Sie hätten danach den Kopf und das Herz frei gehabt, um einen wirklichen, ein großen Kinofilm zu drehen.

Na ja, um mal zu zeigen, wie dieses Sujet "in echt" statt in Oscar-Manier geschildert werden kann, zitiere ich den zu Unrecht vergessenen Bernd Jentzsch:

Stoßgebet

Wenn einer wegwill und noch kein Greis ist, weder Dienstreisender noch Sportler, kein Kundschafter der heiligen Sache, dem stehe bei der Allmächtige der Vogelfreien, der achte auf seine geächtete Hand, die das unterschrieb, ich will hier raus, der hat sein Urteil gefällt, der darf nicht mehr sein in Lohn und Brot, ein Querulant unter Tausenden zu Abertausenden, in die Korrektionsanstalt mit dem, nach Waldheim, Bautzen, Hoheneck, nach Cottbus in die Dunkelzelle, singen lernen, verpfeifen, verraten und verkauft, der Verkauf der Landeskinder nach Hessen, Kopf um Kopf, der ist verlassen von allen guten Geistern und
stolpert vor die Kameras, die ersten Schüsse im Jenseits Schnappschüsse, Allmächtiger, mit aller Macht, dem stehe bei.

1978

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