Dienstag, 29. Dezember 2020
Ostdeutscher Hass
In Ermangelung jeglicher Kreativität zitiere ich einfach aus meiner derzeitigen Lektüre:

„Schon kurz nach seiner Ankunft auf dem Montparnasse war eine seltsame Rückverwandlung mit ihm vorgegangen. Auf dem Boulevard, den er sich viel größer vorgestellt hatte und auf dem in der Dämmerung des Nachmittags schon die Lichter angingen, und auch die Schaufenster waren schon erleuchtet, und in den leeren Cafés brannten die Lampen, mitten in dieser von trauriger Nässe beherrschten Babylon war er wieder zu einem Individuum seiner Herkunft geworden. Zu einem DDR-Bürger, ganz ohne Abstriche, er war wieder, was er gewesen, und er war verloren … so deutlich und ausweglos hatte er seine DDR-Identität nie gespürt, auch dort in diesem Land nicht, das vielleicht schon zu existieren aufgehört hatte. Und er konnte nicht anders, als diese Identität für minderwertig zu halten. Gegen jede empirische Vernunft, er trug dieses Gefühl in seinem altwerdenden Körper herum, und er konnte nichts dagegen machen ...“

Und wenig später auf einer Zugfahrt mit der Bierflasche in der Hand:

„… es schien eine ganze Menge von Quellen in ihm zu geben, aus denen plötzlich der Hass hervorschoss, wie aus einer Vielzahl geöffneter Venen, deren pulsierender Strom nicht zu stoppen war. Er hielt sich an der Flasche fest, die vor ihm auf dem Abstellbrett am Fenster stand, er war erstarrt und lauschte auf das lautlose Wimmern, das irgendwo in seinem Körper war. Es dauerte eine Weile, bis er diese Gefühle stranguliert hatte, erst dann konnte er wieder denken.“

Meine Frau blätterte auch in dem Buch, meinte nur: „Und wie muss es erst Menschen aus dem Irak, Nigeria oder Tschetschenien gehen, wenn sie hier so umherwandern als Geflüchtete, Entronnene?“

Mein Gedanke war: Strangulation des Hasses – ja, aber nur kurzzeitig, um den sprudelnden Hassstrom aufzuhalten, dann muss es um gnädige Aufnahme der Fremden gehen: Akzeptanz der fremden Mentalität, damit sie mit der eigenen, der Mehrheitsmentalität, harmonisch amalgieren kann – dieses trotzige Betonen der DDR-Identität, wie mir das auf den Kranz geht! (Egal, ob es bockig von Ostdeutschen oder gutmenschelnd von Westdeutschen betrieben wird - oder sogar gleichzeitig: "Ostbeauftragter" - Ogottogott!) Das befestigt den Minderwertigen-, den Abgehängtenstatus doch nur und schürt den Hass. Und ebenso verhält es sich mit dem exotisierenden Verklären patriarchaler Traditionen aus dem Nahen Osten oder Westafrika. Nicht verklären, nicht verdammen – akzeptieren, um Entwicklung möglich zu machen: unsere eigene ebenso wie die der Hinzukommenden.

... link (4 Kommentare)   ... comment


Montag, 28. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 8
Mein Weg in die Wirklichkeit begann - ganz klassisch - mit dem Verlassen der Universität, mit dem Weggang von Bremen. Ich begann mein Referendariat in einer schnuckelig restaurierten, winzigen Fachwerkstadt im Niedersächsischen. Mein lang gehegter Plan vom Lehrerdasein - hier sollte er Wirklichkeit werden, nachdem ja Rostock und überhaupt der Osten dafür nicht mehr in Frage kamen. Angesichts der bodenständigen Mitreferendare erwies ich mich wieder als der Exot - und als ein wenig verwahrlost, auch das war unverkennbar. Zu den meisten von ihnen fand ich keinen Zugang und zu den Schülern auch nicht, wenn man von einigen Außenseitern (Kleinstadtpunks, Migranten, psychisch Verquere) absieht, zu den Fachleitern erst recht nicht. Meine Unterrichtsversuche gerieten chaotisch.
Zur ersten Lehrprobe, dem Abhalten eines Unterrichts vor Noten gebenden Vertretern des Staatlichen Studienseminars für Gymnasien, geriet ich so in Panik, dass ich mir vom Arzt vorher eine Beruhigungsspritze geben ließ. Gott sei Dank war er dazu ohne weitere Nachfragen bereit, bemerkte nur, auf Dauer sollte ich eine Psychotherapie ins Auge fassen. Dieser Ratschlag war einer der wenigen sinnvollen, die ich in diesem Referendariat erhielt.
Ich rief meine Exfreundin an, wegen der ich in den Westen gekommen war und die sich vor Jahren von mir getrennt hatte. Sie studierte inzwischen Psychologie. Wir trafen uns in Potsdam, unser alten gemeinsamen Heimat, und wanderten gemeinsam durch den Wildpark bis nach Werder. Auch sie empfahl mir, mit einer Psychotherapie zu beginnen, sagte mir auch, wie das am besten zu bewerkstelligen sei. Ihrem Rat bin ich gefolgt. Es wurde ein steiniger Weg, durch finanzielle und emotionale Niederungen hindurch, aber er brachte mich wieder an die Oberfläche bürgerlichen Daseins, irgendwo in der unteren Mittelschicht, wo ich heut noch lebe.

ENDE

... link (2 Kommentare)   ... comment


Sonntag, 27. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 7
Also wieder nach Bremen. Natürlich per Anhalter, wie immer. Gleich hinter dem Schulamt gab es einen Kreisverkehr, durch den mussten alle Autofahrer, die die von Rostock aus nach Westen wollten. Dort kam man immer gut weg.
In Wismar wurde es schon langsam dunkel, als endlich ein Kleinlaster stoppte. Mit dem Fahrer kam ich schnell ins Gespräch: ein Obsthändler von der Insel Rügen auf dem Weg zum Großmarkt in Hamburg. Er war der Sohn eines Hamburger Einzelhändlerpaars, seine Frau kam aus dem Osten. Ihre Familie war ein Opfer der Aktion „Rose“, der großen Umsiedlungs- und Enteignungsaktion grenznaher Gebiete in der DDR. Sie hatte dabei ihre Existenzgrundlage, einen Obst- und Gemüseladen auf Rügen, verloren und war nach Hamburg übergesiedelt. Jetzt bekamen sie den Besitz wieder und er übernahm mit seiner Frau den Laden. Während sie an der Theke stand, fuhr er jede Nacht zum Hamburger Großmarkt, um Ware zu holen. Die Stasi-Akte hatten sie im Zuge der Rückübertragungsverhandlungen 1990 einmal kurz einsehen können, als der Beamte den Raum verließ. Jetzt, zwei Jahre später, bekamen sie sie in offizieller BStU-Kopie - und um ein Drittel ausgedünnt. Es fehlten alle Blätter, auf denen Namen verzeichnet waren, die für das Nachwende-Rügen noch eine Rolle spielten. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die „roten Socken“ und ich musste ihm Recht geben. Uneins waren wir nur in der Frage, ob es moralisch gerechtfertigt sei, Sozialhilfe zu beziehen und gar nicht arbeiten zu wollen. Für ihn war soziale Fürsorge nur als Wohltat für menschliches Elend denkbar; arbeiten zu gehen, so wie er sich in die Arbeit stürzte, sich die Nacht um die Ohren schlug, empfand er als selbstverständlich, als Pflicht.
Ein anderer solcher Pflichtmensch nahm mich von Hamburg nach Bremen mit, ich glaube, es war eine andere Tramptour, aber auch schon gegen Abend: ein gepflegter Mann mittleren Alters, im Anzug und in Begleitung einer entsprechend gekleideten Ehefrau. Worüber wir redeten, habe ich vergessen, aber ich erinnere mich noch, wie es sich anfühlte, mit eine Generation älteren Leuten zu reden, die einem offen begegnen, wirklich etwas wissen wollen, dabei selbst kenntnisreich sind, die Dinge einordnen können, aus einem sicheren Standpunkt heraus, der nicht meiner war, aber den ich respektieren konnte. Beim Aussteigen luden sie mich ein, sie doch einmal zu besuchen. Der Mann übergab mir seine Visitenkarte und ich erschrak, weil darauf stand „Geschäftsführer der CDU Bremen“. Das waren doch die Bösen, wie man sie aus dem Fernsehen kannte. Ich verkroch mich in meinen Keller. Die Karte warf ich weg.
Da schien mir Michael doch von anderem Schlag, der Rock-Gitarrist mit der Elvis-Tolle. Den mochte ich und er mich auch, aber irgendwie – es fand sich keine gemeinsame Basis. Er wollte mich sogar mit Frauke verkuppeln, der besten Freundin seiner Ex-Freundin, einer sympathischen Frau, umtriebig, Asta-Aktivistin, aber nicht schön, ganz und gar nicht, und als sie mir noch erklären wollte, dass „Hoch – die – internationale – Solidarität!“ ein super Slogan wäre und ich nur mal meine individuellen DDR-Erfahrungen hinter mir lassen müsste, nahm ich diesen eher kleinen Dissens zum Anlass, die Bekanntschaft nicht zu vertiefen. Auf der Oberflächenebene war es natürlich gut. Wir fuhren zu viert – Michael, seine Ex Maria, Frauke und ich – nach Kuhmühlen zu der berühmten Dorfdisko und tanzten die Nacht durch oder begeistern uns für Monstermagnet, als sie in meiner Lieblingsdisko in Hemelingen auftraten.
Überhaupt nahm mein Bekanntenkreis immer weiter zu, während die Kontakte, die mir wirklich etwas bedeuteten, weniger und weniger wurden. Sören verschwand für einige Wochen in der Psychiatrie, danach wurde es irgendwie nicht mehr so dicht zwischen uns. Hardi kaufte für einen Spottpreis von einigen tausend DM (von denen ich ihm 2 pumpen musste) das Haus seiner Ex-Vermieterin, die ins Altersheim gekommen war, und ging zurück in die alte Heimat. Anja, meine heimlich verehrte Mitbewohnerin, wurde schwanger von einem Süditaliener, zog aus und heiratete. An meinem dreißigsten Geburtstag sah ich mich umgeben von jüngeren fußballbegeisterten Studenten, mit denen mich hauptsächlich die Freude am Bier verband. Einmal geriet ich auch in ein Frauenbett, in das einer Jugendfreundin aus Berlin, die sich zu einer großbusig blonden, aktiven Frau ausgewachsen hatte. Das kam überraschend, es war irgendwie nicht schlecht. Ich sah mir selbst zu, es war wie in einem der „Sexy Clips“, die ich in Samstagnächten zu konsumieren pflegte. Wir vollführten halt Übungen, die uns beiden gut taten und die möglich waren, weil wir von früher her, aus Ostzeiten, noch ein Vertrauensverhältnis zueinander hatten, ohne uns jetzt besonders nahe zu sein.
Als Maria, die wildlockige Schönheit und große Liebe von Michael, auf mich zukam und sich mit mir verabreden wollte, war es schon zu spät. Es gab zwei Abende beim Bier, an denen wir uns nahe kamen, ich sie, ihr großes Herz zu gut erkannte: Zuneigung und Erotik, das ging für mich gar nicht mehr zusammen. Als es bei der drtitten Verbredung auf Sex hinauszulaufen schien, jedenfalls war ihr WG-Mitbewohner nicht da und sie verkündete, heute nicht mehr ausgehen zu wollen – ergriff ich panisch die Flucht. Ab da zeigte ich für niemanden mehr Gefühle. Ich schrieb an meiner Examensarbeit, endlich eine losgelöste, glückliche Zeit. Ich schlief jeden Tag bis zehn, ging dann beim Frühstück meine Notizen durch, danach einkaufen und spazieren, ab sechs abends saß ich am Schreibtisch und schrieb bis zwei Uhr nachts. Wenigstens das mit dem Examen, das klappte gut.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 26. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 6
Ich steckte meine Energie in ein neues Projekt: das zusätzliche Schulpraktikum daheim im Osten. Dumpf fühlte ich die Verpflichtung, dort wieder hinzugehen. Ich musste prüfen, wie realistisch das war.
Ich mietete die schön eingerichtete, aber bautechnisch ärmliche Wohnung (Kaltwasser, dünne Wände, Klo im Keller) einer zeitweilig abwesenden Medizinstudentin in Rostock und verbrachte einige Wochen am dort neu eröffneten Gymnasium.
Es wurden meine ersten wirklichen Unterrichtserfahrungen, ohne Konzept, ohne Anleitung. Lehrer und Schüler hielten mich für einen Wessi. Ich fühlte mich respektiert – und lernte mehr, als ich zugab.
Meine Betreuungslehrerin – Deutsch/Geschichte, Mitte fünfzig – unterrichtete in einem altmodischen, mir sehr vertrauten Stil: leidenschaftlich, genau in „Muttersprache“, brav-konservativ in Literatur, was sie als reine Vermittlung eines traditionellen Kulturerbes verstand. Die sechzehnjährigen Schüler lasen den Goethe-Schiller-Briefwechsel, ohne ein Wort zu verstehen. Meine ungelenkigen, flapsigen Lehrversuche zu „Kabale und Liebe“ standen im Kontrast dazu, aber trotzdem passte es, irgendwie, fand ich.
Auch die Wohngegend sagte mir zu: ein paar kleinstädtisch wirkende Vorstadtstraßen mit zweistöckigen Gründerzeithäusern und Kopfsteinpflaster, von der touristisch belebten Altstadt getrennt nur durch den Stadtpark. Bürgerliches Publikum gab es hier nicht, Studenten und Proleten lebten nebeneinander her. Die ganze Zeit schien die Sonne, und zwei Tage lang blieben in dem Haus gegenüber die Fenster ausgehängt, weil die Rahmen gestrichen wurden, auf Böcken auf dem Bürgersteig, bei Bier und lauter Musik.
Einmal bog ich von der Straßenbahnhaltestelle in meine Straße ein, vor mir wankte ein alkoholisiertes Proletenpärchen in meinem Alter. An einer Straßenkreuzung wandte sich der Mann abrupt ab und betrat die Eckkneipe. Sie wandte sich daraufhin ratsuchend um – ich erkannte erschreckt, dass sie hochschwanger war – und sprach mich an: „Können Sie mir helfen?“, fragte sie. „Jetzt ist er weg und wir wollten doch die Waschmaschine holen, wo jetzt bald das Kleine kommt.“ Also sprang ich ein und half ihr, aus einem leer stehenden Nachbarhaus eine WM66 zu bergen, eine einfache Wellenradwaschmaschine aus den sechziger Jahren.
Von Rostock selbst nahm ich sonst wenig wahr, einmal besuchte ich eine Disco, wo ich einen jungen Rechten traf, der sich mir stolz als „Ortsvorsitzender des Vertriebenenverbandes“ vorstellte, ohne über die Vertreibung (die seine Oma durchlebt hatte) mehr als oberflächlich-ideologisches Wissen zu haben. Ein kleiner Skinhead assistierte ihm wortlos. Wir stritten uns mehrere Biere lang und trennten uns dann kopfschüttelnd.
In Warnemünde war ich nur einmal, schon allein die S-Bahn-Fahrt durch die Neubauwüsten von Lichten- und Evershagen schreckte mich ab, erst recht die Erinnerung an Johanna. Lieber streifte ich am Binnenhafen entlang oder blieb überhaupt zu Hause. Als in Lichtenhagen das Ausländerheim brannte, war ich grade über das Wochenende bei den Eltern, ich sah es im Fernsehen. Zurück in Rostock verspürte ich wenige Lust, mir den Ort des Geschehens anzusehen. Die Stadt war plötzlich voller Polizei, manchmal kreisten Hubschrauber am Himmel. Einmal beobachtete ich, wie eine Kolonne von Mannschaftswagen am Straßenrand anhielt, weil im ersten Wagen noch Stadtpläne studiert werden mussten.
In der Schule wurde das Thema in Sozialkunde besprochen. In alter Stabü-Manier schob die Lehrerin alles auf die gesellschaftlichen Umstände, die Schüler sahen die Schuld eher bei Faschos und Ausländern, die sie als Eindringlinge in ihre Heimat erlebten. Ich, der ja auch ein Eindringling war, wollte nur noch weg. Das mit der Sehnsucht nach dem Osten hatte sich erstmal erledigt.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Freitag, 25. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 5
Meine Studieninteressen entwickelten sich entsprechend. Die Faktenhuberei der Geschichtswissenschaft stieß mich immer mehr ab, ich machte dort nur das Nötigste. Stattdessen belegte ich Philosophieseminare. In Germanistik entdeckte ich Schiller. „Schiller?“, fragte eine Freundin meiner Mutter. „Den mag ich nicht. Der ist doch so künstlich und so ... unerotisch.“ Ihre Aussage erboste mich. Für mich war Schiller der Rebell, der Zerrissene, der Leidenschaftliche, auch in der Liebe. Selbstverständlich künstlich: Schiller, der Performer.
Im Schiller-Projekt tummelten sich Theaterbegeisterte, mir sehr fremde, körperbetonte und überwiegend weibliche Menschen. Jan und ich staunten. Und als wir dann auch noch für die kleine Gruppe ausgelost, die im Frühling mit zu den Schillertagen nach Mannheim fahren durfte! Dort sollten tagsüber Seminare stattfinden, abends gastierten diverse Schiller-Inszenierungen. Danach: Biertrinken und Diskussion. Im Seminar saß ich allein, aber zum Mittagessen sah ich die Bremer wieder, wir trafen uns immer in einer Pizzeria, wo man am Straßenrand in der Sonne sitzen konnte. Es war warm und sonnig und ich in alle Frauen gleichzeitig verliebt. Aber wem von ihnen sollte ich mich nähern? Der kühlen, blonden Cornelia mit den großen grauen Augen und der verklemmten Herzlichkeit, die sich einmal sogar mir zuliebe ihre Haare zum Pferdeschwanz band, wie ich es liebte? Oder der schicken Ada, die nebenher beim Fernsehen arbeitete und die immer perfekt gestylt im Hosenanzug auftrat? Der niedlichen Antje? Oder der katzenhaften Mia, die schon ein paar Jahre älter war und nie etwas von einem Freund erwähnte? Mit Jan konnte ich über solche Probleme nicht sprechen, der verschwand immer gleich nach dem Seminar, tauchte abends zu den Stücken wieder auf und ging anschließend gleich ins Hotel. Wenn ich abends angetrunken ankam, wachte er immer auf und wollte von mir Berichte über die Abendgespräche, die ich natürlich gern gab. Dann fühlte ich mich wichtig und cool und nicht mehr so verklemmt und ängstlich wie noch kurz zuvor in der Runde der Frauen ...
Und dennoch: die Frauen gaben mir Mut. Als wir wieder in Bremen waren und der Studienalltag weiterging, traf ich einmal Cornelia in der Cafeteria. Wir saßen beide nebeneinander auf einem Treppenabsatz, einmal krabbelte sie mir wie nebenbei das Knie. Das war genug, und es machte mich glücklich.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 4
Dann wurde es Herbst in meiner neuen Heimat. Eines Tages fiel mir ein Graffitispruch an einer Häuserwand im Ostertorviertel auf: "Mösenboykotz!" Der Aufruf fand meine spontane Zustimmung, allerdings verstand ich ihn anders herum: Ich fand mich bestätigt in meinem Vorsatz, Frauen künftig zu meiden, weibliche Annäherungsversuche von vornherein zu boykottieren. An die Stelle der Frauen traten Alkohol und laute Musik. Entsprechende Lokalitäten gab es genug. Meistens zog ich mit meinem Kommilitonen Sören durch die Kneipen und Discos im besagten, angesagten Ostertorviertel. Eintrittsgelder und Bier waren billig, die Fußwege zwischen den Lokalen kurz. Wenn das Geld knapp war, reichten 30 DM für eine halbe Nacht, und wenn der Kick nicht ausreichte, fuhr ich mit dem Rad in den Arbeitervorort Hemelingen, wo die Prolls in einem alten Tanzlokal mit Galerie zu Gitarrenrock abhotteten. Verbliebene Reste von Sexualität machte ich nebenher alleine in meinem Souterrainzimmer ab. "Sperma ist ekelhaft" hieß das zugehörige Lied von Lisa Politt, das ich sehr liebte und oft hörte.
Eines Tages klingelte es und Hardi stand vor der Tür. Mein alter Kumpel aus Armeezeiten, ein bärenhafter, linkischer Typ mit Vollbart, Landarbeiter ohne Familie, ein humorvoller, halb asozialer Typ. Die LPG in seinem Heimatort im Harz hatte gleich nach der Wende dichtgemacht. "Eines Tages stand ein Viehtransporter auf dem Hof und holte die Kühe ab ..." Hardi verdingte sich nun in einem Futtermittelbetrieb vor den Toren Bremens, fungierte als einziger regulärer Bewohner des zugehörigen Arbeiterwohnheims (die anderen Zimmer wurden an Sozialhilfeempfänger, vornämlich Ausländer, vermietet). Mein jährlicher Brief an ihn war ihn vom Harz aus nachgeschickt worden. Wir trafen uns dann öfter, meistens zum Saufen, manchmal auch zum sonntäglichen Besuch auf dem Flohmarkt. Hardi war skurril. Es roch nicht besonders angenehm in seinem total verdreckten Zimmerchen, zumal dort auch sein Schäferhund Harras wohnte, aber es war nett und witzig - und vor allem weit, weit weg vom normalen Leben, dem Leben der Johannas und Jans.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 24. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 3
In G., der Universitätsstadt, war der Umbruch dagegen schon deutlich spürbar. Knut P., Initiator des Friedenskreises und zentrale Gestalt der lokalen Opposition, hatte die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen, jetzt wurden Gerüchte über seine Stasi-Zuarbeit laut. Siegfried Merz, einstiger Bausoldat, der sein Theologiestudium nur über den Umweg einer Dachdeckerausbildung erlangt hatte, predigte zum ersten Mal in der Marienkirche. Thomas und Karin hatten geheiratet und erwarteten ein Kind. Thomas' kleine Schwester war inzwischen auch Studentin. Ich traf sie in der Wohnung ihres Bruders, einer engen, hellen Neubauwohnung, nicht weit vom Markt. Sie sah schön aus und sagte nichts. Karin schämte sich ein bisschen für die Wohnung. „Ja, ich weiß …“, sagte sie. Natürlich hatten wir die Platenbauten gehasst, die in der Spät-DDR nach und nach die verwahrlosten Altstadthäuser verdrängten. „Aber heißes Wasser aus der Wand und die Heizung musst du nur aufdrehen, das ist schon was, wenn das Baby kommt.“
Partys fanden natürlich eher in einer der Schwarz-Wohnungen statt, die inzwischen legalisiert worden waren, da gab es große Zimmer, Höfe, Gärten. An eine davon erinnere ich mich. Mit Johanna, das war Thomas' Schwester, hatte ich am Mittag bei einem Cafébesuch spontan verabredet, demnächst ein paar Tage nach Paris zu fahren. Das hatte mich aufgekratzt, regelrecht verliebt gemacht, und jetzt sollte ich hier allen, also auch ihrem Freund, begegnen. Ich meisterte die Situation gut, obwohl die Nachricht die Runde machte und für vielerlei Witze sorgte. Zur Erheiterung sorgte auch das reichlich vorhandene Bockbier. Die ums Überleben kämpfende G.er Brauerei hatte es auf 50 (Ost-)Pfennig pro halben Liter gesetzt und mehre Gäste je einen Kasten davon mitgebracht. Thomas betrank sich fürchterlich. Seine hochschwangere Frau musste ihn am Ende beim Nachhauseweg stützen und war sauer. Kathrin verkündete ihren Entschluss, das Studium abzubrechen und für ein Jahr in die Toscana zu gehen.
Und ich fuhr mit Johanna nach Paris. „Mal sehen, was passiert.“, erklärte sie die Situation unserer Mitfahrgelegenheit, einem schmalen Endzwanziger mit klapprigen Auto, der uns bis Paris mitnahm und dann weiter nach Südfrankreich wollte. Leider passierte gar nichts, zwischen uns jedenfalls nicht. Zwischen der zurückhaltend runden Theologentochter und meiner verklemmten Persönlichkeit war einfach kein Weg. Wir trotteten gemeinsam die Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt ab, und ein bisschen Schwung in die Sache kam erst, als ich „Jumièges“ auf ein Trampschild schrieb, um einer meiner Lieblingskirchen aus den Mittelaltervorlesungen einen Besuch abzustatten. Denn das Schild mit dem provinziellen Ziel stachelte die Heimatliebe eines jungen Nordfranzosen an, der an uns vorbeifuhr. Er stoppte und lud uns ein. Obwohl die Verständigung zwischen uns schwierig war – er konnte so viel Englisch wie ich Französisch – nur ein paar Brocken – wurde aus der kleinen Trampertour ein ganzer Tag. Er zeigte uns nicht nur Jumièges, sondern auch das Nachbarkloster, das noch in Betrieb war dann den Hafen von Le Havre, schleppte uns sogar zu seinen Schwiegereltern nach Etretat und zum Abschied machten wir ein Picknick am Strand.
Als wir von Remis fort waren, war sofort die Verlegenheit wieder da, es war nur noch furchtbar: die Ankunft in Deutschland, in Köln, ein paar Stunden Wartezeit auf dem nächtlichen Bahnhof, ehe unser Regionalzug fuhr, der mich Gott sei Dank schon in Nordwestdeutschland zu meinem Ziel brachte, während Johanna bis G. weiterfuhr. Ich meine, so richtig kapiert habe ich das da noch nicht, ich bin ihr sogar nachgefahren, einen Monat später, nach Warnemünde, wo sie ein Praktikum bei der Gemeinde machte. Natürlich wusste ich, dass das keinen Sinn hat – ich verkaufte die Fahrt vor mir selber als Fahrt zum Schulamt in Rostock, um auch meinerseits ein Schulpraktikum im Osten vorzubereiten. Den Schulrat traf ich an, Johanna zum Glück nicht. Ich erinnere mich, wie ich durch die idyllischen Straßen von Warnemünde geirrt bin und einsam am Strand gestanden habe – und wie ich zurücktrampte mit einem Medizinstudenten mit Liebeskummer: „Du kannst es nicht ändern.“, erklärte er mir, „wenn du das mit den Beziehungen nicht hinkriegst. Ich war ein paar Jahre in Kanada. Es war das Gleiche. Du schleppst es einfach mit.“

... link (2 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 2
Bremen lag träge am Fluss, auf dem Lastkähne fuhren, keine Containerschiffe. Die Uni war errichtet aus meterdicken Betonquadern und hatte ihre besten Tage hinter sich. Die Menschen fuhren Fahrrad oder Straßenbahn wie in meiner Heimat. Ich fand ein günstiges, geräumiges Zimmer im Keller einer Jugendstilvilla nahe am Stadtpark, die Besitzer waren schweigsame, linke Normalbürger mit hippieesken Kindern und einem Neufundländer, der eigentlich Anja gehörte, der ältesten Tochter, die das andere Kellerzimmer bewohnte. In diese dürfe ich mich nicht verlieben, meinte die Vermieterin, denn deswegen sei schon mein Vormieter ausgezogen. Weiter gab es keine Bedingungen. Der Ehemann, der als Vater des Hauses das letzte Wort zu sprechen hatte, meinte nur: „Schlüssel hast du? ... Na, dann!“ und gab mir die Hand.
Das sollte es also sein. Merkwürdig. Die Uniflure waren so hässlich wie in Hamburg, hässlich durch den Teppichboden, das Kunstlicht, den Beton. Die überall angehefteten Zettel offizieller und inoffizieller Natur machten die Gänge auch nicht wohnlicher, genau wie in Hamburg. Und doch wirkte hier alles familiärer. Jedermann versicherte mir, in Bremen dauere es zwar mit den Freundschaften, dann aber würden sie ewig halten.
Ich kam bald ins Gespräch mit Jan, weil wir die beiden einzigen Lehramtsstudenten waren, die sich für das skurrile Projekt „Spätantike“ angemeldet hatten und darin also ein Schulpraktikum absolvieren mussten. Jan trug verbeulte Kordhosen und eine metallgefasste Brille. Er fand das Thema „Spätantike“ gar nicht so skurril, im Gegenteil. Als Lehrersohn wusste er, was die Kerndaten sind – und wie man sie einer siebten Klasse vermittelt. Was wir im Seminar lernten über byzantinische Fürstenspiegel und frühchristliche Heiligenlegenden, das fand er so spannend wie ich, aber er ließ sich davon nicht überraschen. Als ich zum ersten Mal bei ihm zu Hause anrief in dem Reihenhaus vor den Toren Bremens, wo er noch bei seinen Eltern wohnte, hatte ich seinen Vater an der Strippe, den Schuldirektor. Mich befremdete, wie geläufig er meinen Vornamen in den Mund nahm, als gehöre ich schon zur Familie. Und doch schien das eine beschlossene Sache. Ich hatte nichts dagegen, dass ich schon wenige Tage später das Reihenhaus und den Schuldirektor kennen lernte, auch Jans Freundin, eine blonde, spröde Dorfschönheit.
Einmal, als ich mich lange nach der Sprechstundenzeit noch vor den Professorenzimmern herumtrieb und Aushänge las, kam ich ins Gespräch mit einem Professor, der gerade Feierabend machte und in Quassellaune war, das Thema die Zunahme sozialer Probleme bei den Studenten. Ich hatte wenig Erfahrung damit, konnte aber aus dem Bauch heraus zustimmen, und vor allem war ich beeindruckt, wie selbstverständlich so ein Professor mit einem wildfremden Studenten tratscht, das wäre in Hamburg nicht vorgekommen, von G. ganz zu schweigen.
So verging mein erstes Semester in Bremen. Ich fand also Leute, war auch fleißig, ließ mir Scheine anerkennen und holte das Latinum nach. An den Wochenenden fuhr ich manchmal nach G. Ich liebte die Tramptouren durch mecklenburgische Kleinstädte, die alle noch keine Ortsumgehung hatten – man fuhr direkt vorbei an den Backsteinkirchen und kleinen Marktplätzen, den leer stehenden Fachwerkhäusern. Am Ortsrand von Neubukow musste ich einmal länger warten, da kamen ein paar Kinder auf ihren Fahrrädern extra heran, um mich anzustaunen.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Dienstag, 22. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 1
Die Mauer war gefallen, es hatte keinen Sinn mehr, in G. zu bleiben. Im Januar verkündete unser Lieblings-Professor, dass er vorzeitig in den Ruhestand gehen und zum Monatsende zu seiner Tochter nach Westdeutschland umziehen werde. Viele meiner Kommilitonen bereiteten den Studienortwechsel nach Berlin vor. Hans, der Physik studierte, bewarb sich in die USA. Ich beschloss, meiner Freundin zu folgen, die vor wenigen Wochen nach Hamburg gezogen war.
Ich gab ein kleines Abschiedsfest in unserer WG. In dem großen Zimmer mit dem Jugendstilofen rückten wir zusammen, was an Tischen vorhanden war, und legten weiße Laken darüber aus. Stühle mussten wir uns aus dem Seminar borgen. Es war Freitagabend und es lief eine Gastvorlesung zur Kunst der Antike, deren Zuhörer überwiegend auch bei uns eingeladen waren. Wir baten sie, sich jeder ihren Stuhl zu greifen und gleich mitzukommen. Und so wanderte eine kleine Stuhlkarawane durch den verwilderten Garten des Instituts zu der im Gebüsch versteckten Pforte im hinteren Zaun, die seit je her unbenutzt und unverschlossen war und sich genau gegenüber von unserem Haus befand.
Die Party selbst wollte nicht so richtig gelingen. Es waren alle da, aber es kam keine rechte Stimmung auf. Hanna, die mich damals im 1. Semester nicht erhört hatte, so jedenfalls hatte ich das in Erinnerung, war traurig. Ich legte meinen Schwung in das Verschenken meiner wenigen Möbel. Nur das Radio wurde ich nicht los, mein geliebtes Röhrenradio, das ich seit der sechsten Klasse besaß und das schon diversen Kassetten- und Tonbandgeräten als Verstärker gedient hatte. Die Vorlesungsmitschriften warf ich weg.
Zwei Tage später fuhr mich Harald, der einen Trabant-Kombi besaß, nach Hamburg. Dort ging alles schief. Meine Freundin hatte kein Interesse daran, die Beziehung mit mir fortzuführen, nur hatte sie sich das bisher nicht eingestanden. Jetzt zog sie den Schlussstrich. Und auch mein Baföggesuch wurde abgelehnt, da ich schon in der DDR studiert hatte. Ich fand eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung nahe bei der St.-Pauli-Kirche – „Im Osten hätte man sie nicht besetzt.“, meinten G.er Freunde, die mich besuchten – und lebte von Wohngeld und ein paar Studentenjobs.
Eines Morgens auf dem Weg zur Uni fuhr eine Kolonne von Mannschaftswagen der Polizei an mir vorbei. Das weckte mein Interesse. Ich verzichtete auf meine Vorlesung und fuhr ihnen nach. Bei dem Spektakel, das ich erlebte, handelte es sich um die Räumung eines besetzten Hauses, eines Hauses, das nicht den Eindruck machte, als sei es dauerhaft bewohnt. Aber Menschen schienen doch drin zu sein in der verbarrikadierten und mit Spruchbändern behängten Ruine. Jedenfalls erscholl eine Lautsprecherwarnung, bevor die Wasserwerfer in die Fenster zu spritzen begannen. Dann machten sich Polizisten an das Wegräumen der barrikadenähnlichen Hindernisse. Ich glaube, am Ende wurden die Bewohner aus dem Haus getragen.
Was mich beeindruckte, war die Routine der Polizisten. Ich hatte wenige Wochen zuvor eine andere Staatsmacht erlebt, eine verzweifelte, wütende, eine Staatsmacht im Todeskampf. Hier ging alles seinen Gang. Ich fuhr weiter zur Uni. Die Bibliothek war in dieser Zeit mein eigentliches Zuhause.
Im Herbst – ich hatte gerade fünf Wochen bei der Post gejobbt, um die Winterkohlen für meinen Dauerbrandofen zu finanzieren – wurde mein Bafögantrag doch noch genehmigt. Der Tipp eines konservativen Geschichtsprofessors mit dem schönen Namen von der Nahmer hatte mir dazu verholfen. Plötzlich war ich reich.
Hinter mir lag ein Sommer voller Nietzsche-, E.T.A.-Hoffmann- und Foucault-Lektüre, einer Unmenge neuer Bekanntschaften, der Unterschrift unter den ersten Mietvertag meines Lebens – und jetzt konnte ich mir auch noch einen Videorekorder leisten. Ich hatte es geschafft, ich hatte die Wende gekonnt überstanden. Jetzt konnte wieder ein normales Leben beginnen. Meine Wahl fiel – eher zufällig – auf Bremen. Dorthin zog ich im Frühjahr 1991.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Neue Serie
Endlich gibt es mal wieder ein bisschen mehr Text, schön sentimental über früher. Die Anregung dazu gab Sabine Rennefanz. Wie offenbar viele Ostdeutsche bin auch ich abgedriftet in den 90er Jahren. Das nahm ich mir vor zu beschreiben und wollte schön das Politische dieses Abdriftens beschreiben. Dann ist es doch persönlicher geworden. Und das in Zeiten des NSA-Skandals! Aber was solls?! Wenn 10 Prozent Fiktion und 90 Prozent Erinnerung eine runde Geschichte ergeben, warum soll man sie nicht erzählen? Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

(P.S. Die Namen - außer dem schönen von Herrn von der Nahmer - hab ich natürlich anonymisiert, so viel Fainess muss muss sein, und was ich sonst noch so alles geschönt habe, das müssen Sie selbst rauskriegen.)

... link (2 Kommentare)   ... comment


<