Samstag, 26. Oktober 2013
Dunkle Jahre, Teil 6
Ich steckte meine Energie in ein neues Projekt: das zusätzliche Schulpraktikum daheim im Osten. Dumpf fühlte ich die Verpflichtung, dort wieder hinzugehen. Ich musste prüfen, wie realistisch das war.
Ich mietete die schön eingerichtete, aber bautechnisch ärmliche Wohnung (Kaltwasser, dünne Wände, Klo im Keller) einer zeitweilig abwesenden Medizinstudentin in Rostock und verbrachte einige Wochen am dort neu eröffneten Gymnasium.
Es wurden meine ersten wirklichen Unterrichtserfahrungen, ohne Konzept, ohne Anleitung. Lehrer und Schüler hielten mich für einen Wessi. Ich fühlte mich respektiert – und lernte mehr, als ich zugab.
Meine Betreuungslehrerin – Deutsch/Geschichte, Mitte fünfzig – unterrichtete in einem altmodischen, mir sehr vertrauten Stil: leidenschaftlich, genau in „Muttersprache“, brav-konservativ in Literatur, was sie als reine Vermittlung eines traditionellen Kulturerbes verstand. Die sechzehnjährigen Schüler lasen den Goethe-Schiller-Briefwechsel, ohne ein Wort zu verstehen. Meine ungelenkigen, flapsigen Lehrversuche zu „Kabale und Liebe“ standen im Kontrast dazu, aber trotzdem passte es, irgendwie, fand ich.
Auch die Wohngegend sagte mir zu: ein paar kleinstädtisch wirkende Vorstadtstraßen mit zweistöckigen Gründerzeithäusern und Kopfsteinpflaster, von der touristisch belebten Altstadt getrennt nur durch den Stadtpark. Bürgerliches Publikum gab es hier nicht, Studenten und Proleten lebten nebeneinander her. Die ganze Zeit schien die Sonne, und zwei Tage lang blieben in dem Haus gegenüber die Fenster ausgehängt, weil die Rahmen gestrichen wurden, auf Böcken auf dem Bürgersteig, bei Bier und lauter Musik.
Einmal bog ich von der Straßenbahnhaltestelle in meine Straße ein, vor mir wankte ein alkoholisiertes Proletenpärchen in meinem Alter. An einer Straßenkreuzung wandte sich der Mann abrupt ab und betrat die Eckkneipe. Sie wandte sich daraufhin ratsuchend um – ich erkannte erschreckt, dass sie hochschwanger war – und sprach mich an: „Können Sie mir helfen?“, fragte sie. „Jetzt ist er weg und wir wollten doch die Waschmaschine holen, wo jetzt bald das Kleine kommt.“ Also sprang ich ein und half ihr, aus einem leer stehenden Nachbarhaus eine WM66 zu bergen, eine einfache Wellenradwaschmaschine aus den sechziger Jahren.
Von Rostock selbst nahm ich sonst wenig wahr, einmal besuchte ich eine Disco, wo ich einen jungen Rechten traf, der sich mir stolz als „Ortsvorsitzender des Vertriebenenverbandes“ vorstellte, ohne über die Vertreibung (die seine Oma durchlebt hatte) mehr als oberflächlich-ideologisches Wissen zu haben. Ein kleiner Skinhead assistierte ihm wortlos. Wir stritten uns mehrere Biere lang und trennten uns dann kopfschüttelnd.
In Warnemünde war ich nur einmal, schon allein die S-Bahn-Fahrt durch die Neubauwüsten von Lichten- und Evershagen schreckte mich ab, erst recht die Erinnerung an Johanna. Lieber streifte ich am Binnenhafen entlang oder blieb überhaupt zu Hause. Als in Lichtenhagen das Ausländerheim brannte, war ich grade über das Wochenende bei den Eltern, ich sah es im Fernsehen. Zurück in Rostock verspürte ich wenige Lust, mir den Ort des Geschehens anzusehen. Die Stadt war plötzlich voller Polizei, manchmal kreisten Hubschrauber am Himmel. Einmal beobachtete ich, wie eine Kolonne von Mannschaftswagen am Straßenrand anhielt, weil im ersten Wagen noch Stadtpläne studiert werden mussten.
In der Schule wurde das Thema in Sozialkunde besprochen. In alter Stabü-Manier schob die Lehrerin alles auf die gesellschaftlichen Umstände, die Schüler sahen die Schuld eher bei Faschos und Ausländern, die sie als Eindringlinge in ihre Heimat erlebten. Ich, der ja auch ein Eindringling war, wollte nur noch weg. Das mit der Sehnsucht nach dem Osten hatte sich erstmal erledigt.

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