Dienstag, 29. Dezember 2020
Ostdeutscher Hass
In Ermangelung jeglicher Kreativität zitiere ich einfach aus meiner derzeitigen Lektüre:

„Schon kurz nach seiner Ankunft auf dem Montparnasse war eine seltsame Rückverwandlung mit ihm vorgegangen. Auf dem Boulevard, den er sich viel größer vorgestellt hatte und auf dem in der Dämmerung des Nachmittags schon die Lichter angingen, und auch die Schaufenster waren schon erleuchtet, und in den leeren Cafés brannten die Lampen, mitten in dieser von trauriger Nässe beherrschten Babylon war er wieder zu einem Individuum seiner Herkunft geworden. Zu einem DDR-Bürger, ganz ohne Abstriche, er war wieder, was er gewesen, und er war verloren … so deutlich und ausweglos hatte er seine DDR-Identität nie gespürt, auch dort in diesem Land nicht, das vielleicht schon zu existieren aufgehört hatte. Und er konnte nicht anders, als diese Identität für minderwertig zu halten. Gegen jede empirische Vernunft, er trug dieses Gefühl in seinem altwerdenden Körper herum, und er konnte nichts dagegen machen ...“

Und wenig später auf einer Zugfahrt mit der Bierflasche in der Hand:

„… es schien eine ganze Menge von Quellen in ihm zu geben, aus denen plötzlich der Hass hervorschoss, wie aus einer Vielzahl geöffneter Venen, deren pulsierender Strom nicht zu stoppen war. Er hielt sich an der Flasche fest, die vor ihm auf dem Abstellbrett am Fenster stand, er war erstarrt und lauschte auf das lautlose Wimmern, das irgendwo in seinem Körper war. Es dauerte eine Weile, bis er diese Gefühle stranguliert hatte, erst dann konnte er wieder denken.“

Meine Frau blätterte auch in dem Buch, meinte nur: „Und wie muss es erst Menschen aus dem Irak, Nigeria oder Tschetschenien gehen, wenn sie hier so umherwandern als Geflüchtete, Entronnene?“

Mein Gedanke war: Strangulation des Hasses – ja, aber nur kurzzeitig, um den sprudelnden Hassstrom aufzuhalten, dann muss es um gnädige Aufnahme der Fremden gehen: Akzeptanz der fremden Mentalität, damit sie mit der eigenen, der Mehrheitsmentalität, harmonisch amalgieren kann – dieses trotzige Betonen der DDR-Identität, wie mir das auf den Kranz geht! (Egal, ob es bockig von Ostdeutschen oder gutmenschelnd von Westdeutschen betrieben wird - oder sogar gleichzeitig: "Ostbeauftragter" - Ogottogott!) Das befestigt den Minderwertigen-, den Abgehängtenstatus doch nur und schürt den Hass. Und ebenso verhält es sich mit dem exotisierenden Verklären patriarchaler Traditionen aus dem Nahen Osten oder Westafrika. Nicht verklären, nicht verdammen – akzeptieren, um Entwicklung möglich zu machen: unsere eigene ebenso wie die der Hinzukommenden.

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Es klingt etwas verquer, doch ich musste heute Morgen an Sie denken, als ich diese Polemik von Astrid von Friesen im Deutschlandfunk Kultur hörte:

Wende-Erinnerungen umgekehrt: Wessis im Osten sind zum Schweigen verurteilt

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Wie verquer auch immer - schön, dass Sie an mich denken und mich (gut informiert wie immer) mit Lesestoff versorgen, der mich in der Tat interessiert.

Gefallen hat mir der Text von Frau von Friesen tatsächlich nicht so richtig, ich merkte es schon an ihrem Wort vom "Aufbauen", das unangnehm nach "Stunde 0" klingt.

Recht hat sie natürlich, wo sie bockige Kommunikationsverweigerung beklagt. Aber das mit den überteuerten Hotelzimmern 1990, das hat Martin Gross (auch ein Westdeutscher) ehrlicher geschildert: Es waren eben nicht "auch Glücksritter, zwielichtige Gestalten", sondern zu neunzig Prozent.

Und das Beispiel mit der Planstelle der Putzfrau - da ist doch keine Boshaftigkeit des ostdeutschen Verhandlungspartners, sondern Unfähigkeit, sich in einem System vernünftig zu verhalten, das er selbst erst seit Monaten kennt.

Insofern: den anderen verstehen und akzeptiern, das ist das Entscheidende. Insofern ist es gut, die Position von Frau von Friesen und den ihrigen auch einmal zu hören (zumal Minderheitenpositionen m.E. immer besonderes Gehör verdienen) - ohne Ressentiment vorgetragen wär das aber besser gewesen.

P.S. so ganz stimmt es auch nicht, dass die Wessis im Osten nun ein Tabu-Thema wären - ich kenne z.B. ein schönes Fotobuch über Westdeutsche (oft, nicht immer alte Adelige), die ostdeutsche Herrenhäuser gekauft haben, mit schönen Fotos und sachlichen Texten, ganz ohnne Ossibockigkeit oder Adelsnostalgie (finde es nur grad nicht im Bücherregal meiner Frau - ich liefere den exaktenbuchhinweis nach).

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"...dann muss es um gnädige Aufnahme der Fremden gehen: Akzeptanz der fremden Mentalität, damit sie mit der eigenen, der Mehrheitsmentalität, harmonisch amalgieren kann".

Das halte ich für einen etwas naiven Wunschtraum, denn es geht nicht allein um fremde Mentalität, sondern um fremde Werte und Normen, die den eigenen oftmals völlig entgegenstehen. Und es reicht nicht, dass wir das für uns Fremde akzeptieren, sondern im Gegenzug müssen auch wir als für den anderen Fremden akzeptiert werden. Das wiederum kann nur dann funktionieren, wenn Wertvorstellungen vereinbar sind. Aber wie soll das funktionieren, wenn das nicht der Fall ist?

Bei all dem geht es nicht um besser oder schlechter. Es geht vielmehr um Gegensätze. Manchmal können sich Gegensätze positiv ergänzen und stellen dann eine Bereicherung dar. Manchmal aber führen sie zum gegenseitigen Hass und Verachtung, der fast immer in Gewalt endet.

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Deshalb habe ich Hilbig zitiert: Ich halte das mit dem Hass für ein Übergangsphänomen, für ein Zeichen der Verwirrung, solange sich die Mentalitäten und Werte (vielleicht auch aufgrund poltischer Behinderungen und Verzögerungen) noch nicht harmonisch angepasst haben. Auch unvereinbare Gegensätze lassen sich auflösen: Menschen sind in der Lage, neue Werte anzunehmen, alte aufzugeben.
Ich bin wirklich überzeugt, dass sich über kurz oder lang ein neuer gemeinsamer mainstream entwickeln und das Hass-Problem erledigt sein wird. (Pessimistisch bin ich bloß, was die Inhalte betrifft: Ich bin nicht sicher, ob sich wirklich die jeweils für das Zusammenleben praktikabelsten Werte durchsetzen werden - Menschen können so dumm sein, und manchmal wächst auch das Böse aus verschiedenen Kulturen harmonisch zusammen.)

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