Mittwoch, 18. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 7
Was blieb, war ein finanzielles Loch. Frau Meyer hatte ein Einsehen und lud mir auf mein Betteln hin Vertretungsstunden auf bis zum Abwinken. Abzüglich der Steuer blieb dennoch nichts übrig. Außerdem hatte ich mir mit meiner Familie in diesem Sommer einen echten Urlaub geleistet, richtig mit Autozug und Ferienwohnung in Bayern. Wir kamen aus den Schulden nicht mehr raus.
Ende November wurden die Vertretungsstunden rarer und weitere Kürzungen standen ins Haus. Die Firma hatte eine Anschlussausschreibung nicht gewonnen – die Konkurrenzfirma mit noch schäbigeren Räumen und noch niedrigeren Honoraren hatte uns unterboten. Frau Meyer hatte Schwierigkeiten, die Stunden halbwegs gerecht unter den Honorardozenten aufzuteilen. Eines Abends rief sie mich überraschend an und bestellte mich für den folgenden, einen Freitagabend, ins Büro: ein Jobangebot. Wir trafen uns zu dritt in ihrem Büro, es war um sechs, schon dunkel, ich hatte das Büro bei Lampenlicht noch nicht erlebt. Der Dritte war aus der Führungsebene, von der Mutterfirma, und beaufsichtigte eine kleine Schwester-GmbH vor den Toren der Stadt. Dort gab es nur zwei Deutschkurse und zwei Lehrer, einer davon war überraschend ausgefallen. Arbeitsbeginn am Montag. Frau Meyer war das Angebot ein bisschen peinlich: „Ja, aber wissen Sie, Sie kennen die Situation, und da haben Sie immerhin erst mal einen Monat gesichert ...“ Das fand ich auch und akzeptierte einen auf vier Wochen befristeten Arbeitsvertrag auf dem Gehaltsniveau einer Supermarktverkäuferin.
Am Wochenende war ich mit Frau und Kind ein paar Stunden bei Freunden auf dem Land, genauer gesagt, bei Freunden, die mit dem zweiten Kind rausgezogen waren, in das berühmte Häuschen im Grünen. Ich nutzte die Gelegenheit und bat meine Frau, nach dem Kaffeetrinken nicht gleich nach Hause zu fahren, sondern eine Autobahnabfahrt weiter in Richtung Provinz. Ich wollte meine neue Arbeitsstelle wenigstens einmal gesehen haben. Aber da war nichts zu sehen. Da war nur ein gesichtsloses Gewerbegebiet an der Autobahn, mit einer Shell-Tankstelle und dem Bürohaus von einer dieser windigen Mobiltelefongesellschaften, daneben Großhandelslager und Kleingewerbe, sogar Einfamilienhäuser, und mittendrin ein Schild, das auf einen Hinterhof zeigte und den Namen der Schule trug.

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Montag, 16. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 6
Zwei Monate später war Abitur. Ich hatte mit einer Gymnasiallehrerin aus den Elbvororten zu kooperieren, um die Anerkennung der deutschen Schulbehörde abzusichern. Eine echte Gymnasiallehrerin: links, burschikos, bürgerlich. Als Zweitgutachterin bestand ihre Aufgabe darin, den elitären Privatschülern ein bisschen auf den Zahn zu fühlen und ihre Leistungen mit den Normen des Hamburger Abiturstandards abzugleichen. Ich nahm das leider sehr persönlich. Halbwegs schon rausgeworfen und nur für den Abiturkurs noch geduldet, hatte ich an meiner Privatschule die Stellung eines Exoten inne. „Ja, du und deine Abiturklasse, ihr passt schon zusammen.“ sagte meine Deutschkollegin immer, ein bisschen mitleidig. Und so war es. Weil es den Schülern gefiel, ließ man mich machen. Ein Curriculum gab es nicht. Wir lasen monatelang die „Buddenbrooks“ (den Roman hatten die Schüler freiwillig ausgewählt) und analysierten dann die schöne Verfilmung aus den fünfziger Jahren. Mein Zugeständnis an den vermeintlichen Oberstufen-Kanon, das Thema „Kommunikationstheorie“, versuchte ich der Banalität zu entreißen, indem ich Gesten von Emmanuelle Beart in einem Claude-Sautet-Film und sophistische Sprüche von Sven Regener aus „Neue Vahr Süd“ analysieren ließ.
Aber schöne Unterrichtstunden sind das eine, Abitur ist etwas anderes. Schon einige von den Klausuren hatte die Zweitgutachterin auseinandergepflückt. In den Kommentaren sang sie das Hohe Lied vom Transfer. Gepflegtes Schreiben – und was beispielsweise S., die Tochter eines Spiegelredakteurs, schrieb, das war nicht mehr nur gepflegt, das war göttlich – tat da nichts zur Sache. Die mündliche Prüfung begann mit K., einem Mädchen aus der polnischen Nomenklatura. Sie kam gut durch. Ihr osteuropäisch-schnoddriger Stil, der sie an meiner feinen Privatschule zu manchem Strafgespräch ins Büro der Direktorin gebracht hatte, wurde von der deutschen Lehrerin als kämpferisch belobigt, während die stille, kluge C., Tochter einer deutschen Entwicklungshelferin und ihres schwarzen Mannes, vor ihr gar keine Chance hatte. Zu brav. Dasselbe Verdikt fiel über ihre Mitschüler herein. Verwundert sah mich der Prüfungsvorsitzende an, als die Noten dann festgelegt wurden. Aber ich rettete meine Schüler nicht. Ich sagte gar nichts. Es war wie vor der sechsten Klasse – totale Lähmung.
Am Ende waren alle sauer: die Schüler, die Direktorin, und ich auch. Ich sehe noch die weiße Stretchlimousine vor mir, die I.s Vater zur Abiturfeier vor der Schule hatte auffahren lassen, und sehe mich selber, wie ich versuche, mich hinter dem Auto zum Ausgang zu schleichen. Natürlich auch das erfolglos.

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Sonntag, 15. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 5
Wie entspannend, aber auch langweilig war dagegen der Kurs mit den Fortgeschrittenen. Wir übten wochenlang Relativsätze, lösten grammatische Kreuzworträtsel, und sahen – nachmittags in den Unterrichtsstunden acht und neun, wenn ich den Sozialpädagogen vertrat - deutsche Komödien: „Keiner liebt mich“, „Echte Kerle“, ..., die ich aus meiner privaten Videosammlung von Zuhause mitbrachte. Am besten kam das bei den Polinnen an (ein Pole ist mir bisher nicht untergekommen), die ja unserer Kultur recht nahe stehen.
Ein Höhepunkt für alle war der Ausflug in die Holstenbrauerei, den der Sozialpädagoge organisiert hatte. Für mich, weil es lehrreich war. Wir bekamen eine Führung, der Führer war ein alter Mann, wohl ein ungelittener Mitarbeiter, den man halt noch die Besucher führen ließ, weil er ansonsten nicht mehr in den Betrieb passte. Ein Bierliebhaber von altem Schrot und Korn. Besonders im Ohr ist mir noch sein Lästern über die Unart, Bier zu kühlen: „Ein Bier, das bei Zimmertemperatur nicht schmeckt, sollte man überhaupt nicht trinken.“ ... es ist klar, dass dieser Mann bei Holsten nicht am rechten Ort war. Ich freute mich, einen Tag mal nicht der Vorturner zu sein, sondern auch mal mittrotten und konsumieren zu können. Auch die Teilnehmer waren gut gelaunt, weil sie einen Tag nichts tun mussten. Es gab für jeden zwei Gläser Bier und ein paar Salzbrezeln – man witzelte und machte Gruppenfotos. Eine grobe Gemütlichkeit, ich fühlte mich am rechten Ort.
Am selben Abend war ich mit meiner Abiturklasse im Kino. Wir untersuchten ja gerade Zeitungsrezensionen und sahen uns einen aktuellen Hollywoodfilm an, um später die zugehörigen Rezensionen der deutschen Feuilletons zu vergleichen. Einen Moment lang war ich irritiert. Die zarten, feinen Mädchen hatten sich alle geschminkt, hantierten mit ihren ipods und wirkten mit ihren klugen, distanzierten Sätzen wie aus einer anderen Welt. Und der einzige Junge war das Tüpfelchen auf dem I – er kam im feinen langen Mantel und beschwieg das Geschwätz der Mädchen auf vornehmste Weise. Dann saß man zusammen im prolligen UFA-Palast am Gänsemarkt und kritisierte mit aller Arroganz der Jugend die Techniken des Kino-Mainstreams.

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Donnerstag, 12. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 4
Vielleicht war es auch nur, dass es hier keine Disziplinprobleme gab, jedenfalls keine nennenswerten. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine kleine Gruppe russischer Männer, die in der ersten Doppelstunde enttäuscht feststellte, dass auch beim Vertretungslehrer Unterricht stattfindet, und in der Frühstückspause verschwand. Einer davon machte den Fehler, nach der Mittagspause wieder zu erscheinen – mit Alkoholfahne. Er versuchte sich in die Behauptung zu flüchten, er würde kein Wort Deutsch verstehen. Da ich aber sein Russisch verstand und deutsch darauf antworten konnte, ergab er sich in sein Schicksal und mimte für den Rest den Tages den immerhin passiv anwesenden Schüler – was genug war. Anwesenheit reichte aus, um das Arbeitsamt zufrieden zu stellen. Die anderen waren dann eben halt „nicht anwesend“ und flogen ein paar Tage später raus, was noch nicht mal ich verkünden musste, sondern der zuständige Lehrer. Alles sehr einfach.
Etwas komplizierter war’s in dem Alphabetisierungskurs, den mir Frau Meyer als „schwierig“ angekündigt hatte und den ich für eine ganze Urlaubsvertretung übernahm. Hier wurde jeden Morgen darüber erbittert darüber diskutiert, ob und wie weit die Heizung einzuschalten sei (es war inzwischen März, aber immer noch kalt). Der Auslöser für das Problem war offenbar – und trug den Namen Grace. Grace war Afrikanerin, Ende Dreißig, verhärmt und kommunikationsunfähig. Jeden Morgen betrat sie den Klassenraum, setzte sich wortlos in eine Ecke und schraubte die nächstgelegene Heizung so hoch wie möglich. Auf jegliche Ansprache reagierte sie unwirsch, auf das Thema „Heizung“ aber grundsätzlich mit Wutanfällen. Klar, dass das die stolzen Türken und Araber nicht auf sich sitzen lassen konnten. Und so wurde eben jeden Morgen erst mal rumgeschrien. Meine Aufgabe war es, als Deutscher, als Lehrer, niemandem Recht zu geben und niemandem Unrecht. Damit allein ließen sich die Gemüter meist schnell besänftigen, und es gab Tage, an denen sich sogar Grace am Unterricht beteiligte.
Überhaupt war Stolz für die meisten ein größeres Problem als mangelnde Sprachfähigkeiten. Es gab da im selben Kurs ein Ehepaar aus Griechenland, das sein Arbeitsleben in deutschen Fabriken verbracht hatte, zuletzt in der Schokoladenproduktion. Die Kinder waren inzwischen groß, die beiden alt und in Deutschland gibt es kaum noch Stellen für Ungelernte. So kam das Arbeitsamt auf die irrige Annahme, die Arbeitslosigkeit der beiden könne mit ihren Sprachproblemen zusammenhängen. Aber wie dem auch sei, die beiden waren da und bemühten sich redlich, das deutsche Alphabet zu erlernen. Dass aber sie binnen kurzem die Buchstaben schreiben konnte, ertrug er nicht – und erfand unendlich viele Ausreden. Oder stellte sich selbst scherzhaft als Lehrer vor die Klasse in der Pause. All das führte natürlich dazu, dass er noch weiter hinter seiner emsig weiterlernenden Frau zurückblieb ... ein Teufelskreis. Nur als Clown schaffte es Kostas, noch ein Mann zu bleiben.

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Mittwoch, 11. Februar 2009
Lehrer zweiter Klasse, Teil 3
Und so passierte es öfter, dass sie morgens um 8 Uhr anrief, weil irgendein Dozent nicht erschienen war, und ich ab neun Uhr acht Stunden Deutschunterricht aus dem Stegreif gab.
Der Unterricht fand statt auf zwei Etagen in einem ansonsten leeren Bürohochhaus. Jeden Morgen kurz vor neun belebte sich plötzlich der Hof, standen Raucher vor der Tür, waren die Fahrstühle überfüllt Ich unterschied sie zuerst nach Gruppen: die liebevollen, aber neurotischen Afrikaner; die groben, herzlichen Türken; die phlegmatischen, depressiven russischen Männer mit ihren kalten, fleißigen Frauen – und die kultivierten, manchmal arroganten, meist still verzweifelten Menschen aus dem östlichen Arabien.
Natürlich war das zunächst ein gutes Arbeiten. Jeder echte Lehrer wird mir das bestätigen: Vertretungsstunden sind einfach. Man ist für nichts verantwortlich, muss nur irgendwie die Zeit füllen – und wenn man den Leuten tatsächlich noch was Interessantes beibringen kann, wird man für einen tollen Pädagogen gehalten.
Nach der Niederlage an der Privatschule war mir diese Erfahrung sehr willkommen. Die Tatsache, dass mir Arbeitslosengeld zugestanden hätte, dass ich hätte zu Hause bleiben können, bis ich eine vernünftige Arbeit gefunden hätte, übersah ich geflissentlich. Ich stürzte mich in den Lohndumping-Bereich mit dem Gefühl, endlich etwas wert zu sein. So wie diese aus Profitgründen schnell zusammengezimmerte GmbH vorgab, eine Bildungseinrichtung zu sein, so wie diese überwiegend orientierungs- und chancenlosen Maßnahmeteilnehmer so taten, als gingen sie einer geregelten Tätigkeit nach, so gab ich eben den routinierten Lehrer.

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Montag, 9. Februar 2009
Eine neue Geschichte
Ich wollte doch aufschreiben, wie ich zu meinem Job gekommen bin, welchen komischen oder Irr-Weg ich beruflich genommen habe - sollte ein leichter, witziger Text mit politischem Weitblick werden. Aber wie es so ist, wenn man versucht, "gut" zu schreiben, es wird nur krampfig. Diesmal ist es der pure Hass-Text geworden.
Aber sei`s drum, ich stelle das jetzt einfach wieder stückchenweise auf meine Seite, soweit ich gekommen bin, und werde den lustigen Rest später spontan hinzufügen - oder auch nicht.
Viel Spaß mit der neuen Serie! ... und beachtet bitte, dass wie immer Ählichkeiten mit lebenden Firmen oder Figuren (einschließlich mir selber) reiner Zufall sind.

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